Mein Leben als Feind
Chinas Regierungschef Wen Jiabao betrat die Bühne in Pekings Großer Halle des Volkes, verbeugte sich vor den 3000 Delegierten und begann, seine jähr-liche Regierungserklärung zu verlesen. Die Botschaft war gewohnt positiv. „Im Rückblick sind wir stolz auf unsere überragenden, glorreichen Erfolge“, sagte Wen unter Applaus, „wir blicken zuversichtlicher denn je einer glanzvollen Zukunft entgegen.“
Das war am 5. März 2011. Am selben Tag formulierte die Kommunistische Partei allerdings eine politische Positionsbeschreibung ganz anderer Art. „Feindliche Kräfte inner- und außerhalb Chinas versuchen uns zu Veränderungen zu drängen“, heißt es in einem gemeinsamen Kommuniqué des Partei-Zentralkomitees und des Staatsrats, dem von Wen geleiteten Kabinett. „Sie versuchen mit allen Mitteln, unsere Entwicklung zu behindern, unserem Image zu schaden und unsere Ideologie und Kultur zu infiltrieren. Sie wollen uns drängen, westliche Werte und das westliche politische System zu akzeptieren.“ Es folgten 16 Seiten mit detaillierten Anweisungen, die mit dem Vermerk „Geheim“ (chinesisch: „Mimi“) an die 7300 wichtigsten Kader verschickt wurden. Alle Exemplare waren mit individuellen Seriennummern versehen, um jeden Empfänger für die Geheimhaltung verantwortlich machen zu können.
Der chinesische Informant, der mir das Dokument einige Wochen später zeigte, wusste natürlich, dass mit den „feindlichen Kräften“ ausdrücklich Menschen wie ich gemeint waren. Westliche Journalisten werden in der Volksrepublik weithin als Teil einer antichinesischen Verschwörung gesehen. Seit Jahren liefern die Staatsmedien vermeintliche Beweise dafür, dass die Weltpresse durch einseitige oder gar frei erfundene Berichterstattung über Menschenrechtsprobleme, Korruption, Wirtschaftskriminalität oder Umweltverschmutzung versuche, dem Ausland ein negatives China-Bild zu vermitteln und das chinesische Volk zu Protesten aufzustacheln. Die Stimmungsmache verfehlt ihre Wirkung nicht. Selbst bei politisch völlig unsensiblen Berichtsthemen wird es für ausländische Journalisten immer schwerer, Interviewpartner zu finden. Viele Chinesen haben Angst, ihre Worte würden verdreht und für chinafeind-liche Propaganda verwendet.
Ein Land, dessen Führung mit Verschwörungstheorien und Zensur von ihren eigenen Problemen abzulenken versuche, könne nicht auf dem richtigen Kurs sein, meinte mein Informant. In politischen und intellektuellen Kreisen denken nicht wenige so, doch kaum einer traut sich an die Öffentlichkeit. Seit der Vergabe des Friedensnobelpreises an den inhaftierten Demokratieaktivisten Liu Xiaobo im Oktober 2010 und der darauf folgenden Kampagne gegen Regimekritiker ist die Angst noch größer geworden.
Nicht, dass sich die ausländische Presse in China nur mit Ruhm bekleckern würde. Wie überall gibt es auch in der China-Berichterstattung guten und schlechten Journalismus – und die chinesische Regierung ist auf der Welt mitnichten die einzige, die sich von den Medien schlecht dargestellt fühlt. Vor ein paar Jahren konnte man glauben, dass sich in Peking die Erkenntnis durchgesetzt habe, Chinas Image im Ausland würde sich verbessern, wenn internationale Medien bessere Arbeitsbedingungen gewährt würden. Im Zuge der Olympischen Spiele 2008 erhielten Korrespondenten erstmals das Recht, sich frei im Land zu bewegen (mit Ausnahme von Tibet). Einige Einschränkungen blieben allerdings bestehen, insbesondere das Verbot, mit chinesischen Kollegen zu kooperieren oder chinesische Assistenten selbständig journalistisch arbeiten zu lassen. Die Möglichkeiten für investigative Recherchen sollten auf ein Minimum beschränkt bleiben.
Doch der Pekinger „Medien-Frühling“ währte nicht lange. Anfang 2011 gaben in einer Umfrage des Klubs Ausländischer Korrespondenten in China (FCCC) 99 Prozent der Befragten an, dass in der Volksrepublik keine Berichterstattung nach internationalen Standards möglich sei. 94 Prozent waren der Meinung, dass sich die Bedingungen verschlechtert hätten. Die überwiegende Mehrheit konnte von Behinderungen bis hin zu körperlicher Gewalt berichten. Fast jeder Zweite hatte mitbekommen, dass Gesprächspartner eingeschüchtert worden waren. Jeder Dritte wusste, dass seine chinesischen Mitarbeiter von den Staatssicherheitsbehörden unter Druck gesetzt werden.
Dass Chinas Regierung damit das Presseecho hervorruft, das sie eigentlich verhindern möchte, liegt auf der Hand. Mehr Repressalien produzieren mehr Berichte über Repressalien. Wie weit die Partei davon entfernt ist, die Funktionsweise freier Medien zu verstehen, zeigt die Art und Weise, wie Premier Wen sich einst bei Bundeskanzlerin Angela Merkel verwandte: Im Interesse guter deutsch-chinesischer Beziehungen möge sie doch mäßigend auf die Presse einwirken, soll Wen gefordert haben, berichten Zeugen. Die Kanzlerin habe bedauernd abgewinkt: Wen Jiabao brauche sich nur einmal die Berichterstattung über ihre Regierung übersetzen zu lassen, um zu wissen, dass sie in deutschen Redaktionen keinen Einfluss habe.
BERNHARD BARTSCH lebt seit 1999 in Peking und berichtet von dort u..a. für die Frankfurter Rundschau, NZZ und das Wirtschaftsmagazin brand eins.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2011, S. 132-133