IP

24. Febr. 2014

Mehr Öffentlichkeit wagen

Die EU braucht einen Wandel ihrer politischen Kultur

Wie kann ein Europa entstehen, das den Bürgern mehr -Gestaltungsmöglichkeiten einräumt? Weitere Vertragsrevisionen – und damit Reformen der institutionellen „Hardware“ – sind kein Mittel. Eine Änderung der „Software“, der politischen Kultur, aber schon. Und dazu gehörten auch öffentliche Sitzungen einiger wichtiger Gremien der EU.

Der Vertrauensverlust in die europäische Integration hat dramatische Ausmaße erreicht: Nach aktuellem Standard-Eurobarometer haben nur noch 31Prozent der Europäer Vertrauen in die EU und zwei Drittel meinen, dass ihre Stimme in der EU nicht zählt. Die Europäische Union wird, so EP-Präsident Martin Schulz, von den Bürgern als eine „riesige undurchsichtige Bürokratie“ wahrgenommen. Sie haben den Eindruck, „in Brüssel findet ein einziges Gekungel statt“.1  Die „Vergipfelung“ des EU-Krisenmanagements schwäche die Parlamente und gefährde die Demokratie.2

Für Bundespräsident Joachim Gauck lautet die europapolitische Leitfrage: „Wie kann ein demokratisches Europa aussehen, das dem Bürger Ängste nimmt, ihm Gestaltungsmöglichkeiten einräumt, kurz: mit dem er sich identifizieren kann?“3  „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ – das war die zentrale innenpolitische Botschaft Willy Brandts in seiner Regierungserklärung vom Oktober 1969. „Mehr Demokratie wagen“ ist heute entscheidend für eine gute Zukunft des Europäischen Projekts. Ohne mehr Demokratie, ohne mehr Transparenz und ohne mehr Bürgerbeteiligung ist es nicht möglich, den Vertrauensverlust bei den Bürgern wettzumachen.

Eine neue Vertragsrevision ist kein realistisches politisches Mittel, um mehr Demokratie zu wagen. Dafür gibt es in vielen Mitgliedstaaten keine Unterstützung. Und manche sähen darin nur die Gelegenheit, um weniger statt mehr Europa zu fordern. Auch ohne Vertragsänderungen, ohne Konvent und ohne Ratifizierungsverfahren ist es möglich, die EU demokratischer und transparenter zu machen. Dazu ist ein Wandel in der politischen Kultur der europäischen In­stitutionen notwendig. Seit dem Maastrichter Vertrag von 1992/93 versucht die EU, durch Änderungen ihrer institutionellen „Hardware“, der schwindenden Zustimmung zur Europäischen Union zu begegnen. Ihre institutionelle „Software“, ihre politisch-administrative Kultur hat sie allerdings nie wirklich auf den Prüfstand gestellt.4

Die politische Kultur der EU ist durch die diplomatische Praxis in internationalen Verhandlungen geprägt:

Beratung und Entscheidung erfolgen im Wege des Aushandelns von Kompromissen zwischen konkurrierenden Interessen, nicht im Wege der Meinungsbildung durch Austausch von Argumenten. Die Entscheidungsfindung konzentriert sich in der Praxis auf Konsensbildung, nicht auf Mehrheitsentscheidung.

Die Öffentlichkeit wird vom Gesetzgebungsverfahren weitgehend ausgeschlossen, nur das Europäische Parlament (EP) tagt grundsätzlich öffentlich. Politische Auseinandersetzungen werden nicht kontrovers ausgetragen. Alternative politische Konzepte, Ansätze und Lösungsmöglichkeiten werden den Bürgern nicht deutlich.

Die EU-Bürokratie versteht sich als ein technokratisches Regime zur Umsetzung der Verträge und zur effektiven Lösung wirtschaftlicher und technischer Probleme, wobei partei­politische Konzeptionen keine wesentliche Rolle spielen. 

Das hat zur Folge, dass die EU-­Organe, selbst das EP, in der Öffentlichkeit jeweils als geschlossene Akteure erscheinen. Für den Bürger bleibt dabei unklar, für welche politischen Ziele und Konzeptionen die Organe jeweils stehen, er begreift nur, dass z.B. Rat und Parlament im Konflikt liegen. Dem europäischen politischen Willensbildungsprozess wird so jene Konfliktstruktur vorenthalten, die die öffentlichen Meinungsbildungsprozesse in Gang hält und an Konfliktkonstellationen interessierte Medien bedienen könnte.

Klarheit für die Bürger

Es geht nicht darum, die Europäische Union zu einer Massendemokratie nach dem Vorbild der Mitgliedstaaten zu machen und institutionelle Muster nationaler Demokratie auf sie zu übertragen. Entscheidend ist es, die Rechte zu stärken, welche die Bürger zur Beeinflussung des Systems der EU-Governance haben. Weiterhin brauchen die nationalen Parlamente zusätzliche Möglichkeiten, um die Aktivitäten der Regierungen im Rat besser zu kontrollieren. 

Beides kann zu einer offeneren Auseinandersetzung zwischen Mitgliedstaaten, politischen Parteien und Interessengruppen über die „richtige“ Europapolitik und so zu einer stärkeren „Politisierung europäischer Politik“ beitragen. Die nationalen politischen Debatten können sich noch stärker europäisieren, der Streit um die Euro-Rettungsmaßnahmen war insoweit ein demokratiepolitischer Fortschritt.

Die grundsätzlichen Einwendungen der Verteidiger des diplomatischen Verhandlungsregimes können nicht überzeugen. Bereits im 19. Jahrhundert hat die monarchische Exekutive den Demokraten entgegengehalten, ihre Forderungen nach Öffentlichkeit gefährdeten die Entscheidungseffizienz und Problemlösungsfähigkeit der politischen Institutionen. Beide Belange sind wichtig, aber sie müssen für die verschiedenen Etappen des Beratungs- und Entscheidungsprozesses differenziert gewichtet werden. 

Effizientere Gipfeltreffen

Der Europäische Rat (ER) hat zwar keine gesetzgeberischen Befugnisse, aber die politische Macht, den Ratsformationen in politischen Schlüsselfragen die Richtung vorzugeben. Jeder Regierungschef vertritt die Interessen seines Landes, so wie er sie parteipolitisch sieht und gewichtet. Die ER-Beratungen stehen im Zentrum des öffentlichen Interesses und der Medienberichterstattung, doch was in ihm vorgeht, wissen nur die Staats- und Regierungschefs selbst, sein Präsident, der Kommissionspräsident und deren engste Mitarbeiter. 

Die einzelnen Regierungschefs informieren zwar vor und nach den Gipfeltreffen ihre nationalen Medien und vielfach auch ihre nationalen Parlamente über ihre Sicht des Gipfels. Doch diese Praxis ist selektiv und interessengeleitet und daher nicht zureichend. Die Widersprüche zu den „spins“ der anderen Delegationen werden im Internetzeitalter schnell publik und können zu Missverständnissen und Verstimmungen zwischen den Mitgliedstaaten beitragen. 

Der EU-Vertrag schreibt nicht vor, dass der ER unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagt, dies wird nur durch seine selbst gegebene Geschäftsordnung (Art. 4 Abs. 3) bestimmt. Es ist an der Zeit, dass die Staats- und Re­gierungschefs ihre Tagungen grundsätzlich öffentlich abhalten.

Der Gipfel wird etappenweise durch bilaterale Kontakte sowie durch vertrauliche Beratungen des Ausschusses der Ständigen Vertreter und des Rates „Allgemeine Angelegenheiten“ vorbereitet; eine Öffentlichkeit der Gipfeltagung selbst könnte so seine Entscheidungseffizienz und Problemlösungsfähigkeit nicht beeinträchtigen. Der Zwang, politische Positionen öffentlich mit nachvollziehbaren Sachargumenten zu begründen, macht gewiss sachfremde Koppelungsgeschäfte, politische Erpressungsmanöver und die Vertretung reiner Standortinteressen schwieriger. Das ist ja gerade ein wesentlicher Zweck von demokratischer Öffentlichkeit. Die nationalen Parlamente, die Medien und die Bürgerinnen und Bürger sollten sich durch eigene Anschauung über das Diskussions- und Abstimmungsverhalten ihres Staats- bzw. Regierungschefs informieren können. Ansonsten ist eine wirksame demokratische Kontrolle nicht möglich.

Der ER-Präsident hat ebenfalls an politischem Gewicht gewonnen. Er wird mit qualifizierter Mehrheit gewählt, Mitte 2014 steht auch seine Neuwahl an. Was spricht dagegen, dass die nationalen Regierungen sich mit ihren Parlamenten auf politische Kriterien für seine Auswahl verständigen, bevor die Beratungen im Europäischen Rat beginnen? Und warum stellen die Kandidaten sich nicht der Diskussion mit den nationalen Parlamenten, die dies wünschen?

Mächtiger Ministerrat

Der Rat der EU bleibt auch nach dem Vertrag von Lissabon das mächtigste Gesetzgebungsorgan der EU. Seine Tätigkeit liegt weitgehend in den Händen der verschiedenen Fachministerien, die ihren beherrschenden Einfluss auf die EU-Fachpolitiken mit Zähnen und Klauen verteidigen. Dem Rat ist es noch stets gelungen, alle Reformversuche so abzuschwächen, dass seine Zersplitterung in zahlreiche Ratsformationen erhalten bleibt, dass sein multilaterales Verhandlungsregime nicht gefährdet wird und dass die Öffentlichkeit nicht zu viel Einblick erhält. Nach Art. 16 Abs. 8 EU-Vertrag tagt der Rat zwar öffentlich, „wenn er über Entwürfe zu Gesetz­gebungsakten berät und abstimmt“. Mit seiner Geschäftsordnung hat er allerdings so restriktive Durchführungsbestimmungen geschaffen (Art. 7 und 8), dass die Öffentlichkeit der Beratungen in der Praxis eher die Ausnahme ist.

Seine öffentlichen Beratungen sollen nicht politische Kontroversen deutlich und nachvollziehbar machen, sondern gemeinsam erzielte Kompromisse demonstrieren. Die divergierenden Positionen der Mitgliedstaaten, die auch parteipolitisch eingefärbt sind, werden nach wie vor verschleiert; nach der Geschäftsordnung wird die Veröffentlichung von Dokumenten praktisch ausgeschlossen, die die Standpunkte der nationalen Delegationen erkennen lassen. Selbst Europaparlamentarier müssen heute noch auf verschlungenen Wegen in Erfahrung bringen, wie die Verhandlungskonstellation im Rat zu bestimmten Dossiers ist. 

Der offene Zugang zu der Information, wie die Regierungen im Rat verhandelt und abgestimmt haben, ist eine notwendige Voraussetzung für eine wirksame demokratische Kontrolle durch die nationalen Parlamente und durch die Wähler. Die Informationen, die die nationalen Regierungen ihren Parlamenten und der Presse geben, sind interessengeleitet und selektiv. Sie laufen entweder darauf hinaus, dass die Regierung die nationalen Interessen erfolgreich durchgesetzt hat oder dass die Verhandlungssituation keine Alternative zugelassen habe. 

Hinzu kommt, dass die nationalen Presseinformationen im Anschluss an Ratssitzungen manchmal nicht nur widersprüchlich sind, sondern auch zu Missverständnissen und Verstimmungen zwischen den Regierungen führen können. Nach der einstimmigen Eurogruppen-Entscheidung zum Zypern-Bailout wollte z.B. niemand die politische Verantwortung für die Belastung von Kleinsparern übernehmen. 

An den Tagungen des Rates nimmt die Europäische Kommission und bei Bedarf die Europäische Zentralbank teil (Art. 5 GO). Beide können sich auch an der Aussprache beteiligen, nicht aber das Europäische Parlament. Dieses hingegen gibt dem Rat Zugang zu allen seinen öffentlichen Sitzungen und ermöglicht es ihm sogar, sich an der Aussprache zu beteiligen (Art. 145, 149, 193 EP-GO). Wenn das EP als Mitgesetzgeber auch nicht aktiv an den Verhandlungen des Rates beteiligt werden kann, so kann gegen eine reine Beobachterrolle ernsthaft nichts einzuwenden sein. 

Kommissare mit Parteibuch 

Die Europäische Kommission sieht sich als Motor der Integration, der allein dem Gemeinschaftsinteresse verpflichtet und von Parteipolitik unabhängig ist. In der Tat ist sie nicht mit einer Regierung gleichzusetzen, die von einer parlamentarischen Parteienmehrheit gestützt wird. Das Kommissarskollegium vereinigt ja Mitglieder aller europäischen Parteienfamilien in sich, und nach außen hin spielen für seine Beratungen parteipolitische Gegensätze keine Rolle.

In der politischen Wirklichkeit werden Präsident und Mitglieder der Kommission wesentlich unter parteipolitischen Gesichtspunkten ausgewählt. Sie werden in den Mitgliedstaaten ganz überwiegend unter Parteigängern der Regierungsparteien ausgesucht, reine Technokraten werden heute kaum noch benannt. Präsident und Kommissare agieren auch sonst offen parteipolitisch, so haben sie von Amts wegen Parteiämter inne, sind bei europäischen Parteitagen präsent, nehmen an den Treffen der Parteiführer vor den Europäischen Räten teil und gehen in die Fraktionssitzungen ihrer Partei im EP. In ihrem Heimatland agieren sie häufig weiter als ­Parteipolitiker.

2014 steht die Neubesetzung der Kommission an. Auf europäischer Ebene ist die Auswahl der Kommissionsmitglieder in Art. 17 des EU-Vertrags geregelt, hinzu kommt die ­Kandidatenanhörung im EP. Den Mitgliedstaaten steht es aber frei, innerstaatlich ein transparentes Auswahlverfahren für den nationalen Kandidaten zu praktizieren. So könnten sich Regierung und Parlament z.B. auf politische Auswahlkriterien verständigen. Die Kandidaten könnten sich dann einer öffentlichen parlamentarischen Anhörung stellen. Seit der innerstaatlichen Umsetzung des Lissabon-Vertrags wirkt der Richterwahlausschuss aus Bundestag und Bundesrat an der Auswahl der deutschen Kandidaten für die Ämter des EuGH-Richters und des EuGH-Generalanwalts mit. Doch an der Auswahl des deutschen Kommissionsmitglieds ist das Parlament nicht beteiligt.

Die Arbeitsweise der Kommission wird im Wesentlichen von der Geschäftsordnung geregelt, die sich die Kommission selbst gegeben hat. Dazu gehört auch die Bestimmung, dass die Kommissionssitzungen nicht öffentlich und ihre Beratungen vertraulich sind (Art. 9). Politische Streitfragen werden von den Kabinettschefs gefiltert, die de facto gut zwei Drittel der Entscheidungen treffen. Weder die Sitzungsprotokolle noch die Verlautbarungen der Pressesprecher lassen den Diskussionsverlauf im Kollegium auch nur annähernd nachvollziehen, über politische Kontroversen wird offiziell geschwiegen. In Wirklichkeit sind parteipolitische Aspekte und einzelstaatliche Interessen für die Kommissionsmitglieder handlungsleitend und ihre Kabinette sind alle parteipolitisch ausgerichtet. 

Das System der Entscheidungs­vorbereitung der Kommission bedarf grundlegender Reform. Etwas mehr Transparenz könnte schon dadurch hergestellt werden, dass die Änderungsvorschläge veröffentlicht werden, die ein Kommissar zu Rechtsetzungsvorschlägen einbringt, die nicht aus seinem Ressort stammen. Außerdem sollte jedes Kommissionsmitglied das Recht haben, seine abweichende Meinung zu einer Entscheidung des Kollegiums schriftlich darzulegen und zu veröffentlichen. Wenn schon bei einem Rechtsprechungsorgan wie dem Bundesver­fassungsgericht die Einheit des Spruchkörpers und die Autorität der Entscheidung nicht durch „dissenting votes“ beeinträchtigt werden, dann wird das bei einem politischen Organ wie der EU-Kommission erst recht nicht der Fall sein. 

Politisierendes Parlament

Das Europäische Parlament ist naturgemäß diejenige Institution, die am meisten zur Politisierung der europäischen Politik beiträgt und sich am stärksten für die demokratische Kontrolle durch Bürger und Medien öffnet. Zudem hat das EP in den vergangenen Jahren versucht, seine politischen Debatten noch besser zu organisieren und durch verstärkte Öffentlichkeitsarbeit noch besser zugänglich zu machen. Doch all das hat den Trend zu einer immer geringeren Beteiligung an den Europawahlen nicht umkehren können. 

Vermutlich hat der Lissabon-Vertrag diesen Trend eher verstärkt, obwohl er die EP-Mitwirkungsbefug­nisse deutlich ausgeweitet hat. Diese Machtausweitung besteht wesentlich in der Generalisierung des Mitentscheidungsverfahrens, das ja ein Verfahren der Kontroverse und der Kooperation zwischen EP und Rat, nicht zwischen parteipolitischen Lagern ist. Für die Bürger ist der Streit zwischen EP und Rat aber nur schwer nachvollziehbar, er lässt zumeist keine konkurrierenden politischen Konzeptionen erkennen, sondern dreht sich um Einzelheiten. Das Mitentscheidungsverfahren veranlasst das EP dazu, gegenüber der Ratsposition eine möglichst breite parlamentarische Mehrheit zu organisieren und dafür interfraktionelle Meinungsunterschiede hintanzustellen. Ist die parteipolitische Kontroverse in den EP-Ausschussdebatten noch dominant, so tritt im Plenum die Betonung des Gegensatzes gegenüber der Ratsposition in den Vordergrund. Die gemeinsame Plenarposition ist Ergebnis von interfraktionellen Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. 

Verstärkt wird diese Tendenz zum interfraktionellen Kompromiss durch die Praxis der informellen Verhandlungen mit dem Rat über eine Einigung in erster oder zweiter Lesung, die der Beschleunigung des Gesetzgebungsverfahrens dienen sollen. Diese Verhandlungen zwischen dem Ratsvorsitz, der Kommission und einer kleinen Parlamentsdelegation („Triloge“) finden zwar auf der Grundlage von spezifischen Verhandlungsmandaten statt, schließen aber die Öffentlichkeit aus und können zu erheblichen inhaltlichen Veränderungen führen. Besonders die Vereinbarung in erster Lesung reduziert die Plenardebatte auf eine Darstellung und Verteidigung des erzielten Kompromisses mit dem Rat durch die Parlamentsmehrheit. Heute werden 80Prozent der Gesetze vom EP nach informellen Trilogen über „first reading agreements“ beschlossen.

Um die politischen Alternativen in der europäischen politischen Debatte sichtbarer zu machen, sollte das EP künftig auf Einigungen in erster Lesung mit dem Rat grundsätzlich verzichten und die erste Lesung zum politischen Meinungsstreit der Fraktionen nutzen. Außerdem sollte das EP vom Rat verlangen, seinen gemeinsamen Standpunkt in einer öffentlichen Ausschusssitzung zu vertreten, und erst dann in Verhandlungen über eine Einigung in zweiter Lesung eintreten.

Der hier vorgeschlagene Wandel der überkommenen politisch-administrativen Kultur muss mit nachhaltigem Widerstand der betroffenen Akteure, besonders der Exekutiven, rechnen. Politisch hat er nur eine Chance, wenn Parlamente, politische Parteien und Medien in den Mitgliedstaaten und auf der EU-Ebene sich die Forderung nach einem demokratischen Kulturwandel zu eigen machen und konkrete Schritte verlangen. 

Es besteht indes das erhebliche Risiko, dass der Pfad des demokratischen Kulturwandels politisch ebenso blockiert wird wie der Pfad der erneuten Vertragsrevision. Das Vertrauen der Bürger in europäisches Regieren und europäische Gesetzgebung kann dann weiter schwinden und der Druck zugunsten eines Rückbaus der EU-Kompetenzen weiter steigen. Das wäre ein sehr hoher, ein zu hoher Preis für die Verweigerung eines demokratischen Kulturwandels.

 

 

Dr. Manfred Degen, 
Leitender Ministerialrat a.D., hat von 1988 bis 2013 mit und in den EU-Institutionen gearbeitet. 

 

  • 1Interview mit „ZEIT ONLINE“, 19.8.2013, Interview in „Der Spiegel“, 4.11.2013
  • 2„Das demokratische Europa“, Humboldt-Rede, 24.5.2012, Berliner Europa-Rede, 9.11.2012
  • 3„Europa: Vertrauen erneuern – Verbindlichkeit stärken“, 22.2.2013, S. 8
  • 4Einzige Ausnahme ist die Entwicklung einer neuen Konsultationskultur durch die EU-Kommission auf der Grundlage ihres Weißbuchs „Europäisches Regieren“ von 2001 (KOM 2001/428 endg.)
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2014, S. 76 - 82

Teilen