Mehr Mut gegenüber Moskau
Wie eine neue deutsche Russland-Politik aussehen könnte
Auf den ersten Blick ist die Debatte über Deutschlands Russland-Politik eine Reaktion auf wachsende autoritäre Tendenzen unter Wladimir Putin. Dahinter steht jedoch mehr: ein sich wandelndes Selbstverständnis deutscher Außenpolitik, der Streit um „Werte“ versus „Interessen“ und die Frage: Ist das eine wirklich nicht mit dem anderen vereinbar?
Die einseitige Fokussierung der Debatte über Berlins Russland-Politik auf das deutsche Selbstverständnis blendet die wesentlichen Fragen in Bezug auf unsere östliche Nachbarschaft aus. Es geht dabei viel zu oft darum, wer Recht hat, und viel zu selten darum, welche Interessen Deutschland und Europa in der Region haben; geschweige denn, wie weit wir auf den Wandel in Russland einwirken können.
Die derzeitige Überforderung der deutschen Außenpolitik durch die EU-Krise und die von außen herangetragenen Forderungen nach deutscher Führung spiegelt sich auch in der Russland-Debatte wider. Deutschland hat bei der EU-Osterweiterung eine Schlüsselrolle gespielt und war stets ein treibender Faktor in der europäischen Russland-Politik. Diesem Führungsanspruch wird Berlin heute nicht mehr gerecht.
Warum der deutschen Russland-Politik in den vergangenen Jahren nur in begrenztem Maß Erfolg beschieden war, das ist vielfach analysiert worden. Die Grenzen der Modernisierungspartnerschaft zeigen sich daran, wie unterschiedlich diese Partnerschaft auf beiden Seiten definiert wird. Während die deutsche Seite über wirtschaftliche Kooperation auch eine politische und gesellschaftliche Transformation hin zu mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erreichen möchte, hat die russische Führung ausschließlich Interesse an einem Technologietransfer und kontrollierter wirtschaftlicher Modernisierung.
Zwei Seiten einer Medaille
Es ist fraglos richtig, wenn der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft fordert, deutsche Firmen an der Modernisierung der Transportinfrastruktur zu beteiligen und durch „Leuchtturmprojekte“ die Modernisierungspartnerschaft weiterzuentwickeln. Das liegt im Interesse der deutschen Wirtschaft. Doch das politische und rechtliche Umfeld in Russland bleibt problematisch, und es wird sich nicht durch immer neue Leuchtturmprojekte reformieren lassen. So machen einige große deutsche Unternehmen dank politischer Unterstützung weiter gute Geschäfte in Russland, dem deutschen Mittelstand aber wird durch Korruption, überbordende Bürokratie und einen Mangel an Fachkräften das Leben erschwert.
Werte- und Interessenpolitik sind zwei Seiten einer Medaille. Ohne Transparenz, Rechtsstaatlichkeit und eine von staatlichen Eingriffen weitgehend freie Ökonomie kann es keine tragfähige Wirtschaftsentwicklung geben. Eine interessengeleitete deutsche Außenpolitik muss Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, Tranparenz und faire Wettbewerbsbedingungen für Investitionen fördern und auf Geschäfte verzichten, die korrupte Strukturen begünstigen.
Solange Klientelinteressen dominieren, wird sich Russlands zum Großteil auf Öl- und Gasexport ausgerichtete Wirtschaftsstruktur nicht verändern. Und so lange werden Korruption und Desinteresse verhindern, dass ausreichend Mittel in Bildung, Wissenschaft oder moderne Infrastrukturen fließen. Auch hier muss eine Modernisierungspartnerschaft ansetzen.
Raus aus den Hinterzimmern
Exporte sind der Schlüsselfaktor der deutschen Wirtschaftsentwicklung und bedürfen damit auch der Förderung durch die Politik. Russland ist der wichtigste Rohstofflieferant und als Exportland für deutsche Produkte von wachsender Bedeutung. Jedoch schränken die politischen Defizite in Russland das Wachstumspotenzial des Landes ein, und damit auch die Möglichkeiten deutscher Investitionen. Hier können und müssen wirtschaftspolitische Interessen und wertegeleitete Außenpolitik Hand in Hand gehen.
Der Druck auf Russland wächst, den Energiesektor stärker zu modernisieren und die Abhängigkeit von Rohstoffexporten zu verringern. Damit könnten sich deutschen Unternehmen Möglichkeiten für nachhaltige Investitionen in andere Bereiche der russischen Wirtschaft eröffnen.
Im Energiebereich führen die Inflexibilität Gazproms und fehlende Konkurrenz auf dem russischen Energieexportmarkt zu Preiskonflikten mit deutschen Energieunternehmen. Der Ausbau erneuerbarer Energie in der EU und das wachsende Angebot von Gas auf dem Weltmarkt im Zuge der Schiefergasrevolution in den USA haben den internationalen Energiemarkt verändert und die Bedeutung Russlands als Energielieferant relativiert.
Es ist also gar nicht so sehr Deutschland, das von den Wirtschafts- und Energiebeziehungen zu Russland abhängig ist, sondern eher die russische Seite, die den Export zu ihren wichtigsten Märkten, den EU-Mitgliedern, benötigt. In der EU verdient Gazprom mit 60 Prozent seiner Exporte das meiste Geld. Diese Mittel sind für Russlands Budget und seinen Stabilitätsfond entscheidend.
Deutschland und die EU können mit einem weit größeren Selbstbewusstsein gegenüber Russland auftreten, da hier eine diversifiziertere Wirtschaft existiert. Die Geschichte von der einseitigen Energieabhängigkeit ist ein Mythos. Das heißt nicht, mit Arroganz und oberlehrerhaftem Ton aufzutreten. Auch die Demokratisierung in Deutschland fand nach 1945 mit Hilfe von außen und in einem Jahrzehnte andauernden Prozess statt. Alle, die behaupten, Russland sei eben „anders“ und bedürfe eines besonderen Umgangs, sollten sich intensiver mit der deutschen Geschichte beschäftigen.
Jedoch sollte Deutschland aus ureigenem Interesse zu Prinzipien wie Demokratie, Toleranz, Transparenz und sozialer Marktwirtschaft auch gegenüber schwierigen Staaten wie Russland stehen. Nicht zuvorkommende Kompromisspolitik und Hinterzimmerdiplomatie können der richtige Weg im Umgang mit autoritären Regimen sein, sondern klare Werte- und Interessenpolitik, die sowohl konstruktive Kritik als auch den gleichberechtigten Dialog mit den Eliten und der Gesellschaft umfasst.
Neue Ansprechpartner suchen
Was den Dialog mit Eliten und Gesellschaft angeht, so ist es an der Zeit, den bisherigen Eliten-dominierten Ansatz deutscher Russland-Politik durch eine bessere Balance zwischen der notwendigen Kommunikation mit den Entscheidungsträgern und dem Austausch mit gesellschaftlichen Gruppen zu ersetzen. Russische und postsowjetische Eliten haben nun einmal kein Interesse an einer Demokratisierung oder einer politischen und gesellschaftlichen Modernisierung ihres Landes. Ihr Interesse gilt im Wesentlichen ihren ökonomischen Vorteilen, und so wird Korruption zu einem Systemmerkmal – und nicht zu einer Ausnahme.
Die Kontrolle von Wahlen dient in Russland dem Machterhalt, ebenso wie Freund-Feind-Denken sowie eine vage und aggressive Rhetorik. Deutschland muss ganz neu über die eigentlichen Adressaten einer Modernisierungspolitik in Russland nachdenken. Denn das sind eben nicht die Entscheidungsträger des Systems Putin, sondern die wachsende junge städtische Mittelschicht, die Ende 2011 und im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2012 auf die Straße gegangen ist.
Weitere Adressaten sind kleinere und mittlere Unternehmer in ganz Russland, die im bestehenden System nur begrenzte Erfolgschancen haben. Sie bilden den Teil der regionalen Elite, der sich nicht vom System kooptieren lässt und die Lebensbedingungen in den Regionen verbessern möchte. Und natürlich gehört dazu die organisierte Zivilgesellschaft, die sich nicht nur politisch engagiert, sondern auch in sozialen, Umwelt- und Bildungsfragen mitreden möchte.
Die Kluft zwischen russischer Gesellschaft und Elite ist tief. Die Frustration über das Versagen der politischen Entscheidungsträger wie bei den Bränden im Sommer 2010 oder über die schleichende Privatisierung und Unterfinanzierung des Bildungswesens fördern die Protestbereitschaft in der Bevölkerung. Das betrifft auch das Versagen der staatlichen Entscheidungsträger, eine grundlegende Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur auf den Weg zu bringen, über die unter Wladimir Putin seit 2000 geredet wird, die aber aufgrund systemimmanenter Korruption nur begrenzte Erfolge aufzuweisen hat.
Die Bevölkerung hat keine großen Erwartungen an ihre politischen Entscheidungsträger, das Vertrauen in staatliche Institutionen bleibt gering. Die Wandlungsprozesse in der russischen Gesellschaft und das Scheitern der zaghaften Modernisierungsversuche „von oben“ unter dem Präsidenten Dmitri Medwedew sollten Ansporn zu mehr Beschäftigung mit Russland sein, nicht zu weniger.
Andere Dialogformate schaffen
Deutsche Außenpolitik sollte neue Formate für den Dialog mit der russischen Gesellschaft schaffen sowie den Austausch zwischen staatlichen Entscheidungsträgern, Wirtschaftsvertretern und gesellschaftlichen Akteuren fördern. Eine Russifizierung deutscher Formate wie beim Petersburger Dialog wäre dabei kontraproduktiv. Ebenso wenig erfolgversprechend sind Formate, die einen Elitenansatz fördern und den progressiven Teil der russischen Gesellschaft ausschließen. Sie dienen der Legitimierung der autoritären Eliten und beschädigen die Glaubwürdigkeit deutscher Politik gegenüber der russischen Gesellschaft.
Gleichzeitig sollten Dialogforen geschaffen werden, die auch problematische Gruppen mit einbeziehen, etwa aus dem nationalistischen und patriotischen Lager. Diese Gruppen sind ein wichtiger Faktor in der russischen Gesellschaft. Wie das Beispiel des Arabischen Frühlings gezeigt hat, konnte ein einseitiger Dialog mit den Machteliten und dem kleinen westlich orientierten Teil der Gesellschaft nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem Westen der Kontakt zu einem wichtigen Teil der Gesellschaft, den konservativen und religiösen Gruppen, fehlte.
Auch in Russland ist eine Pluralisierung der Gesellschaft zu beobachten, die Gruppen umfasst, die nicht immer ganz unseren Vorstellungen entsprechen, aber politisch und gesellschaftlich relevant sind.
Ebenso sollte sich Berlin darum bemühen, seine Kontakte zum progressiven und wirtschaftsliberalen Teil des russischen politischen Establishments auszubauen. Dieser Teil der Elite hat im Moment den Zugang zum engen Machtzirkel verloren. Er könnte aber noch eine zentrale Rolle bei der Modernisierung des Landes spielen.
Falls es in Russland zu einem politischen Wandel und einer stärkeren Öffnung nach außen kommen sollte, dürfte der Anstoß dazu nicht aus der marginalisierten radikalen liberalen Opposition gegeben werden. Eher dürfte er aus der Elite selbst kommen und durch die wachsende russische Mittelschicht unterstützt werden; eine Mittelschicht, die sich nicht nur aus Künstlern, Intellektuellen und Berufsoppositionellen zusammensetzt, sondern auch aus Staatsbediensteten, die am wirtschaftlichen Aufschwung der vergangenen 13 Jahre partizipiert haben. Diese Gruppe möchte keinen radikalen Wandel, aber politisch ernst genommen werden.
Ein Schlüsselelement für den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Austausch mit Russland ist eine Visaliberalisierung bis hin zur Abschaffung von Visa. Wirtschaftsvertreter betonen gebetsmühlenartig die Bedeutung der Visaabschaffung für die Intensivierung des wirtschaftlichen Austauschs. Mindestens genauso wichtig ist es, breiteren Teilen der russischen Gesellschaft Reisen in die EU zu ermöglichen und die Arbeits- und Studienmöglichkeiten für junge und gutausgebildete Russen in den EU-Mitgliedstaaten zu verbessern.
Denn eins ist sicher: Der politische Wandel in Russland kann nur von innen kommen und muss von einer breiten gesellschaftlichen Unterstützung getragen werden. Fundament für einen solchen Wandel muss ein gesellschaftlicher Austausch mit Russland auf allen Ebenen sein. Deutschland und die EU haben ein Interesse daran, diesen Prozess quasi als Modell zu begleiten und zu fördern. Russland blickt bei seiner Modernisierung nicht nach Asien, sondern nach Europa, auch wenn die russische Elite im Moment das Gegenteil behauptet.
Berlin ist gefordert
Deutsche Russland-Politik kann nicht ohne die Einbettung in die europäischen Strukturen gedacht werden. Europas Außen- und Sicherheitspolitik aber ist im Sog der institutionellen Krise noch einmal geschwächt worden. Gerade deshalb ist Berlin jetzt gefordert, bei der Reform der östlichen Nachbarschaftspolitik wieder voranzugehen. Dafür müssen ausreichend Ressourcen mobilisiert werden – es kann keine Entschuldigung sein, auf die Überlastung durch die Euro-Krise und den Arabischen Frühling hinzuweisen.
Die Länder der östlichen Nachbarschaft schauen ebenso nach Deutschland wie die an dieser Region interessierten EU-Staaten. Das begrenzte Interesse und Engagement der aktuellen Bundesregierung in Sachen Ostpolitik schwächen die EU in dieser Region. Umso wichtiger ist es, gemeinsam mit Ländern wie Polen, Finnland und Schweden der europäischen Nachbarschaftspolitik in dieser Region Impulse zu geben. Das schließt die Behandlung von regionalen Konflikten ebenso ein wie das Engagement für Freihandelsabkommen wie das mit der Ukraine oder eben eine Erneuerung der Russland-Politik. Länder wie Polen dürfen bei ihrer aktiven Russlandpolitik nicht allein gelassen werden. Die Bundesregierung hat bisher die Chancen nicht ausreichend genutzt, die sich aus einer konstruktiven polnischen Haltung gegenüber Russland ergeben.
Glaubwürdig bleiben
Zentral für die Glaubwürdigkeit der EU-Politik ist eine Durchsetzung des europäischen Rechts- und Wertesystems gegenüber Russland. Wie eine solche Durchsetzung europäischer Rechtsprinzipien funktionieren kann, hat die EU-Kommission mit ihrer Energiepolitik zur Förderung von mehr Wettbewerb und Transparenz auf dem europäischen Energiemarkt sowie der Eröffnung eines kartellrechtlichen Verfahrens gegen Gazprom vorgemacht. Gazprom soll genauso Geschäfte auf dem europäischen Energiemarkt tätigen können wie Firmen aus Norwegen und Katar – jedoch nur nach europäischen Rechtsprinzipien.
Die Durchsetzung dieser Prinzipien und die Verhinderung ihrer Aushöhlung durch die russische Politik oder europäische Lobbyisten ist aber nicht nur essenziell für die Glaubwürdigkeit Europas, sondern auch für eine Modernisierung Russlands. Das Funktionieren europäischer Rechtsstaatlichkeit, Transparenz und Wettbewerbsfähigkeit in Russland nimmt Kritikern an russischen Investitionen in der EU und Energielieferungen die Argumente. Gleichzeitig führt eine Durchsetzung dieser Prinzipien gegenüber russischen Unternehmen dazu, dass diese auch in Russland angewandt werden müssen.
Wer ernsthaft bezweifelt, dass Russland sich zu einer Demokratie entwickeln kann wie etwa Deutschland, der sollte sein eigenes Demokratieverständnis überprüfen – auch wenn das ebenso wie in Deutschland seine Zeit brauchen dürfte.
Aller politischer Stagnation und allen autoritären Tendenzen der russischen Führung seit der Wiederwahl Wladimir Putins zum Trotz haben die Demonstrationen im vergangenen Jahr gezeigt, dass die russische Gesellschaft an mehr politischer Partizipation interessiert ist. Dieser Prozess kann mittelfristig nicht aufgehalten werden und sollte von der deutschen Politik aktiv begleitet werden. Die Instrumente für eine Modernisierung der deutschen Russland-Politik sind da, sie müssen nur konsequent angewandt werden.
Dr. Stefan Meister ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations in Berlin.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2013, S. 74-79