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02. März 2018

Mehr globale Verantwortung

Deutschlands Kandidatur für einen nichtständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat

Anfang Juni stimmt die Generalversammlung in New York darüber ab, welche fünf Länder für die nächsten beiden Jahre als nichtständige Mitglieder in den Weltsicherheitsrat einziehen. Deutschland wirbt deshalb seit Jahren mit den vier Leitbegriffen Frieden, Gerechtigkeit, Innovation und Partnerschaft um Stimmen.

Die regelbasierte Weltordnung ist unter Druck geraten. Krisenhafte Entwicklungen greifen um sich. UN-Generalsekretär António Guterres hat in seinem Neujahrs­appell „Alarmstufe rot“ ausgerufen. Angesichts dieser Weltlage wurden in jüngerer Vergangenheit hohe, bisweilen auch zu hohe Erwartungen mit Blick auf die internationale Rolle Deutschlands formuliert. Gleichwohl ist Deutschland durchaus in der Lage und bereit, einen größeren Beitrag zu leisten bei den Versuchen, gemeinsam oder in Abstimmung mit unseren Partnern einen Ausweg aus den Krisensituationen der Welt zu finden. Zur Untermauerung unserer Ambitionen streben wir eine Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen für den Zeitraum 2019/20 an.

Multilateralismus unter Druck

Ohne Zweifel: Die multilaterale Zusammenarbeit hat schon bessere Jahre erlebt als 2017. Zwar bekannte sich die überwältigende Mehrheit der 193 UN-Mitgliedstaaten während der Generaldebatte im September 2017 klar zu den Werten und Zielen eines aktiven Multilateralismus und signalisierte die Bereitschaft, auch künftig gemeinsame Lösungen für globale Herausforderungen suchen zu wollen. Dass die Vorzüge des Multilateralismus im Saal der UN-Generalversammlung, die selbst eines der bekanntesten Symbole der multilateralen Ordnung darstellt, von vielen Delegationen explizit hervorgehoben werden musste, zeigt jedoch, dass etwas in Schieflage geraten ist.

Dass die USA das Pariser Klimaabkommen aufgekündigt haben, dass sie sich aus der UNESCO sowie aus den Verhandlungen für einen weltweiten Migrationspakt zurückgezogen und verbindliche Resolutionen des Sicherheitsrats verletzt haben – um nur einige Beispiele zu nennen –, hat zu wahrnehmbarer Verunsicherung geführt. Diese Entwicklung zeigt: Für die Vereinigten Staaten, Führungsmacht der westlichen Welt und Schlüsselstaat der bisherigen multilateralen Ordnung, wird das Prinzip der nationalen Souveränität zur Richtschnur des eigenen Handelns. In seiner ersten Rede vor der Generalversammlung im September 2017 erwähnte Präsident Trump den Begriff „Souveränität“ 21 Mal.

Sich auf das Souveränitätsprinzip zu berufen, ist per se nichts Neues im Kontext der Vereinten Nationen. Der Begriff wird immer dann von bestimmten Mitgliedstaaten ins Feld geführt, wenn es darum geht, unliebsame Einmischungen in innere Angelegenheiten abzuwehren, meist im Zusammenhang mit der Menschenrechtslage im eigenen Land oder mit Blick auf territoriale Streitigkeiten.

Unter diesen Mitgliedstaaten befinden sich umgekehrt auch solche, die die Souveränitätsrechte anderer Staaten übergehen, wenn sie ihren Interessen entgegenstehen. Im Budapester Memorandum hatte sich Russland 1994 verpflichtet, die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine als Gegenleistung für deren Nuklearwaffenverzicht anzuerkennen – eine verbindliche Verpflichtung, die durch die Annexion der Krim und die Destabilisierung der Ostukraine im Jahr 2014 von Moskau einseitig verletzt wurde. Und auch China, in den Vereinten Nationen stets ein starker Verteidiger von Souveränität, sieht sich nicht an dieses Prinzip gebunden, wenn es um territoriale Ansprüche anderer Anrainerstaaten im Südchinesischen Meer geht, auch wenn diese völkerrechtlich bestätigt sind.

Globale Herausforderungen

Der steigende Druck auf die uns vertraute internationale Ordnung kommt zu einer Zeit, in der sich die Weltgemeinschaft enormen Herausforderungen gegenübersieht.

Zahlreiche bewaffnete ­Konflikte harren seit Jahren politischer Lösungen und fordern täglich neue Opfer, von Jemen über Syrien und Südsudan bis hin zur Ukraine, um nur einige zu nennen. Furcht vor Tod und Verfolgung, aber auch wirtschaftliches Elend haben zu einem Höchststand der weltweiten Flüchtlingszahlen seit 1945 geführt. Über 65 Millionen Menschen befinden sich momentan auf der Flucht, als Binnenvertriebene oder über Ländergrenzen hinweg.

Der Klimawandel wird langfristig zu einem Zuwachs der Flüchtlingspopulationen führen, wenn die Menschen in kleinen Inselstaaten oder küstennahen Regionen durch Unwetter und den Anstieg des Meeresspiegels ihre Lebensgrundlagen verlieren. Auch im Inneren von Kontinenten drohen durch Dürre und Ausweitung von Wüsten weite Landstriche zu veröden, mit negativen Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung ganzer Länder.

Armut und Perspektivlosigkeit, speziell unter der jüngeren Genera­tion, sind nicht nur eine Ursache von Flucht und Migration, sie bilden vielfach auch den Nährboden für Extremismus und Radikalisierung und treiben terroristischen Gruppen wie IS, Boko Haram oder Al-Shabaab einen stetigen Strom neuer Rekruten zu.

Überbevölkerung und das damit verbundene Vordringen des Menschen in bislang nicht erschlossene Lebensräume, gekoppelt mit weltweit gestiegener Mobilität, birgt das Risiko neuer Übertragungswege seltener, hoch gefährlicher Krankheits­erreger. Die Ebola-Krise von 2014/15 hat uns mit aller Dramatik vor Augen geführt, dass Viren in unserer hochgradig vernetzten Welt an keiner Grenze haltmachen. Die Gesundheitssysteme in den vom Ausbruch der Seuche betroffenen Ländern waren mit den Folgen hoffnungslos überfordert.

So wichtig wie nie zuvor

Ob Flucht und Migration, Armut, Klimawandel, Terrorismus oder Pandemien – keine andere Organisation verfügt über die notwendige Legitimität für den Umgang mit diesen Herausforderungen wie die UN.

Unter dem Dach der Vereinten Nationen verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der 193 Mitgliedstaaten im Sommer 2015 die 17 nachhaltigen Entwicklungsziele der Agenda 2030. Unter Führung der UN sollen in den kommenden Jahren messbare Entwicklungserfolge erzielt werden, ohne die knappen Ressourcen unseres Planeten weiter über Gebühr zu belasten. Armutsbekämpfung, Geschlechtergleichbehandlung, Zugang zu Schulbildung, Wasser- und Sanitätsversorgung, nachhaltige Stadt­entwicklung, Klimaschutz und gute Regierungsführung sind Teil dieser Agenda, die erstmals sozialen Fortschritt und Nachhaltigkeit miteinander verknüpft und sich explizit an alle Mitgliedstaaten richtet, auch an die wohlhabenden Industrieländer.

Es sind UN-Unterorganisationen wie das Flüchtlingshilfswerk UNHCR oder das Welternährungsprogramm WFP, die Millionen von Flüchtlingen in Camps und Aufnahmeeinrichtungen einen Anlaufpunkt bieten, wo sie in Sicherheit sind und ein Minimum an Versorgung erhalten. Über 120 000 Blauhelme in 16 Einsätzen auf vier Kontinenten bilden häufig den letzten verbliebenen Puffer zwischen Konfliktparteien und tragen so dazu bei, schlimmeres Blutvergießen zu verhindern. Oft handelt es sich dabei um bewaffnete Auseinandersetzungen, die es nicht in die Nachrichtensendungen geschafft haben. Die Weltgesundheitsorganisation WHO, ebenfalls eine Behörde der Vereinten Nationen, trägt durch die Koordinierung und Finanzierung weltweiter Impfprogramme dazu bei, Leben zu schützen und der Ausbreitung von Pandemien vorzubeugen.

Angesichts der Vielzahl von Krisen und Konflikten sind die Vereinten Nationen, 72 Jahre nach ihrer Gründung, als Vermittler, Dialogplattform und Wahrer des Völkerrechts heute so wichtig wie nie zuvor. Trotzdem sind die UN Gegenstand von Kritik: zu unflexibel und bürokratisch ihre Abläufe, zu teuer ihre Verwaltung, zu ineffektiv und von Skandalen gebeutelt ihre Friedenseinsätze. Es ist daher nicht verwunderlich, dass es UN-Generalsekretär António Guterres zu einem Hauptanliegen seiner Amtszeit gemacht hat, wichtige Reformprozesse in Gang zu setzen mit dem Ziel, die Organisation „fit for purpose“ zu machen. Deutschland unterstützt diese Reformagenda nachdrücklich.

Im Herzen der Friedensordnung

Das wichtigste Gründungsziel der Vereinten Nationen ist die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Zuständig hierfür ist das wichtigste Organ der UN, der Sicherheitsrat, dessen Beschlüsse völkerrechtlich verbindlich sind und der, als schärfste Instrumente, Sanktionen verhängen oder Militäreinsätze beschließen kann. Die Bundesregierung strebt für 2019/20 eine Mitgliedschaft im Sicherheitsrat an, und hierfür gibt es gute Gründe.

Deutschlands außenpolitische Rolle ist in den zurückliegenden Jahren erheblich gewachsen. Nachhaltige Entwicklung, Klimaschutz und die Umsetzung der Agenda 2030 sind ebenso Markenzeichen unseres globalen Engagements wie die Förderung von Krisenprävention, Stabilisierung und Konfliktnachsorge. Als Vorsitz diverser internationaler Foren wie den G7, der OSZE oder zuletzt den G20 hat Deutschland die globale Agenda mitgeprägt und wichtige Akzente setzen können. Auch bei internationalen Verhandlungsrunden wie den Gesprächen über das iranische Nuklearprogramm oder im so genannten Normandie-Format zur Umsetzung des Minsker Abkommens für eine friedliche Beilegung des Konflikts im Osten der Ukraine zeigen wir: Deutschland ist fähig und bereit, einen größeren Beitrag zur Konfliktlösung zu leisten. Im multilateralen Kontext sind wir daher ein gefragter Partner, nicht nur in EU, OSZE und NATO, sondern auch als Mitglied der Weltorganisation am Ufer des New Yorker East River.

In den Vereinten Nationen sind wir traditionell sehr breit engagiert mit dem Ziel, einen konstruktiven Beitrag zu einer multilateralen, auf Werten und Normen basierten internationalen Ordnung zu leisten. Wir untermauern dieses Engagement finanziell und immer stärker auch personell. Bei den Blauhelmeinsätzen ist Deutschland aktuell zweitgrößter europäischer Truppensteller. Mit unserer Beteiligung an MINUSMA in Mali, aber auch an der maritimen Komponente von UNIFIL stellen wir substanzielle Fähigkeiten in den Bereichen Lufttransport, Aufklärung und Seeraumüberwachung. Deutschland war 2016 der zweitgrößte finanzielle Unterstützer des UN-Systems. Mit unserem gewachsenen internationalen Gewicht wollen wir dazu beitragen, dass der Sicherheitsrat in einer komplexen und unübersichtlichen Welt seiner Hauptverantwortung für Frieden und Sicherheit besser gerecht wird. Wir wollen mitarbeiten an der Bewältigung der drängendsten Krisen und Konflikte und helfen, diese nicht nur zu verwalten, sondern den Fokus auf ihre Ursachen zu lenken.

Während unserer angestrebten Mitgliedschaft 2019/20 wollen wir auch Themen vorantreiben, die noch größere Aufmerksamkeit des Sicherheitsrats erfordern: Krisenprävention und Konfliktbewältigung, den Zusammenhang zwischen Klima und Sicherheit, die existenzielle Bedeutung von Menschenrechten für Sicherheit, die aktive Einbindung von Frauen in Friedensprozessen, den Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten sowie Fragen der globalen Gesundheit im Zusammenhang mit Frieden und Sicherheit.

Krisenprävention und Stabilisierung sind wichtiger Bestandteil unserer Außenpolitik. Unser Ansatz weist zahlreiche Anknüpfungspunkte zur aktuellen Reformagenda des Generalsekretärs auf, insbesondere zu dem Leitprinzip seiner Reformen „Prävention“.

Schwerwiegende und flächendeckende ­Menschenrechtsverletzungen sind nicht allein Symptome von Konflikten, sondern oftmals Auslöser von Krisen. Die Einbeziehung von Menschenrechten in die Sicherheitspolitik ist deshalb für uns eine wichtige Komponente in Krisenprävention und -reaktion. Dem Sicherheitsrat kommt eine zentrale Funktion zu, nämlich die Integration der Menschenrechte als Kernaspekt von ihm verabschiedeter Mandate.

Die gleichberechtigte Mitwirkung von Frauen ist ein Schlüsselelement zur nachhaltigen Friedenssicherung. Deutschland wird sich deshalb im Sicherheitsrat ganz besonders der Umsetzung, Erweiterung und Verankerung der Agenda „Frauen, Frieden und Sicherheit“ widmen.

Für den Schutz und die Wahrung der Rechte von Kindern in bewaffneten Konflikten engagiert sich Deutschland seit vielen Jahren. Wie auch während unserer letzten Mitgliedschaft im Sicherheitsrat 2011/12 planen wir, dieses Engagement fortzuführen, um den Schutz von Kindern weltweit zu verbessern.

Mit Sorge verfolgen wir, wie der weltweite Anstieg des Meeresspiegels und das Vordringen von Wüsten die Lebensgrundlagen von Millionen von Menschen bedrohen. Wie sie humanitäres Elend verursachen, zu Verteilungskonflikten und Migrationsbewegungen führen, die das Potenzial haben, ganze Regionen zu destabilisieren. Der Sicherheitsrat muss sich intensiv mit diesen Themen auseinandersetzen.

Die Lehre aus Ebola und Zika lautet: Pandemien können nicht allein vom Gesundheitssektor bewältigt werden. Gesundheitskrisen bzw. schwache Gesundheitssysteme können Gesellschaften zerstören, Länder destabilisieren sowie Beziehungen zwischen Staaten erheblich beeinträchtigen und schädigen. Hier müssen daher verschiedene Akteure und unterschiedliche Ressorts zusammenwirken. Wir verstehen globale Gesundheit als integralen Bestandteil der Außenpolitik, vor allem mit Blick auf Sicherheitsfragen, und wollen uns dafür auch im Sicherheitsrat einsetzen.

Finale am East River

Voraussichtlich am 8. Juni werden die Mitgliedstaaten in der Generalversammlung darüber entscheiden, welche fünf Länder für zwei Jahre in den Sicherheitsrat einziehen. Der Regionalgruppe West­europäischer und anderer Staaten stehen zwei Sitze zu; Deutschland konkurriert darum mit Belgien und ­Israel. Einer der drei Bewerber wird also leer ausgehen. Um in den Sicherheitsrat gewählt zu werden, ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit der anwesenden und abstimmenden Mitgliedstaaten erforderlich; bei voller Anwesenheit im Plenum sind das 129 Stimmen.

Im Sommer 2016 hat der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier die Kampagne für einen nichtständigen Sitz Deutschlands offiziell eröffnet. Mit den vier Leitbegriffen Frieden, Gerechtigkeit, Innovation und Partnerschaft wirbt die Bundesregierung seither um Stimmen, sowohl unter anderen Mitgliedstaaten in New York als auch in den Hauptstädten in aller Welt.

Zwar liegt die Koordinierung der Kampagne in den Händen des Auswärtigen Amtes; doch eine erfolgreiche Kandidatur ist eine Gemeinschaftsaufgabe der gesamten Bundesregierung und bedarf darüber hinaus des Rückhalts im parlamentarischen Raum. Die vielfältigen Themendossiers der UN haben Anknüpfungspunkte zu sämtlichen Bereichen unseres Regierungshandelns.

Auch mit Blick auf den EU-Zusammenhalt wird es im Kontext der Vereinten Nationen künftig stärker auf die Rolle Deutschlands ankommen. Der Paradigmenwechsel in der amerikanischen Außenpolitik hat Auswirkungen auf das Abstimmungsverhalten unter den EU-Partnern in New York. Mehr denn je wird es darauf ankommen, darum zu kämpfen, dass die Europäische Union mit einer Stimme spricht. Uns wird hier eine vermittelnde Rolle zukommen, die wir noch besser ausfüllen können, wenn wir ab 2019 im Sicherheitsrat vertreten sein sollten. Dabei wollen wir – genauso wie auch in anderen Politikbereichen – besonders eng mit Frankreich zusammenarbeiten.

In einer unübersichtlichen Welt bleiben die Vereinten Nationen ein bewährtes Forum, um im gemeinsamen Dialog mit und zwischen den Mitgliedstaaten Lösungsansätze für die drängenden Fragen unserer Zeit zu entwickeln. Die UN bewirken keine Wunder, doch sie sind häufig genug die letzte Hoffnung, die uns für Frieden und Stabilität bleibt.

Dr. Christoph Heusgen ist seit Juli 2017 Ständiger Vertreter Deutschlands bei den Vereinten Nationen. Zuvor war er zwölf Jahre außen- und sicherheitspolitischer Berater der Bundeskanzlerin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März-April 2018, S. 94 - 99

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