Titelthema

26. Juni 2023

Die Zeitenwende in den Köpfen

Mit „Zeitenwende on tour“ tragen die Münchner Sicherheitskonferenz und ihre Partner die außen- und sicherheitspolitische Debatte in alle Bundesländer – eine Investition in die Demokratie, die für das Gelingen des Umsteuerns mitentscheidend ist.

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Bild: Aufnahme einer Zeitenwende on Tour Veranstaltung in Hamburg
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Mehr als ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine herrscht im Bundestag ein weitgehender Konsens, dass die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik nicht bleiben kann, wie sie vor dem 24. Februar 2022 war. Liebgewonnene Überzeugungen wie „Wandel durch Handel“, der Wunsch nach vertrauensvollen Beziehungen mit Moskau und die Zurückhaltung bei der Lieferung von Waffen in Kriegsgebiete wurden, für viele Beobachter innerhalb und außerhalb Deutschlands überraschend, zuerst hinterfragt und anschließend, in einem teilweise stockenden Prozess, in politische Maßnahmen übersetzt.



„Wir erleben eine Zeitenwende“, stellte Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede am 27. Februar 2022 fest. In dieser Rede sagte er aber noch etwas anderes: „Ich weiß genau, welche Fragen sich die Bürgerinnen und Bürger in diesen Tagen abends am Küchentisch stellen, welche Sorgen sie umtreiben angesichts der furchtbaren Nachrichten aus dem Krieg.“ Der Schluss der berühmt gewordenen Rede gleicht einem Appell: „Was von einem breiten gesellschaftlichen und politischen Konsens getragen wird, das hat Bestand, auch in dieser Zeitenwende und darüber hinaus.“



Die Wochen nach der Rede waren dominiert von der Diskussion über das Sondervermögen für die Bundeswehr, die Debatte über die Lieferung von Kampfpanzern zur Unterstützung der Ukraine und die eilige Abkoppelung von russischem Gas. Eng begleitet wurde dieser Prozess von Meinungsumfragen, die sich mühten, die Stimmung der Bevölkerung abzubilden. Das Problem: Orientiert sich Politik in Detailentscheidungen an Umfragewerten, die wiederum abhängig von aktuellen politischen Entscheidungen sind, tritt die Debatte auf der Stelle. Um in einer repräsentativen Demokratie ins Handeln zu kommen, müssen die Volksvertreterinnen und -vertreter die Vor- und Nachteile nach bestem Wissen und Gewissen abwägen und auf dieser Grundlage Entscheidungen treffen. Sie können ihnen nicht abgenommen werden durch das Ergebnis einer Umfrage, dass eine knappe Mehrheit für oder gegen die Lieferung von Kampfpanzern ist. Meinungsumfragen können im Auslotungsprozess der Optionen ein Stimmungsbild vermitteln. Ein echter Austausch zwischen Politik und Gesellschaft, das Gefühl für die Bürgerinnen und Bürger, dass ihre Fragen und Sorgen gehört werden, entsteht dadurch aber nicht.



Ins Gespräch kommen

Die Münchner Sicherheitskonferenz setzte bereits im Herbst 2020 mit ihrem Report „Zeitenwende – Wendezeiten“ einen Impuls, um die Diskussion über die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik neu zu entfachen. Mit der Übertragung eines Großteils der Debatten der traditionell im Februar in München stattfindenden Konferenz von Entscheidungsträgerinnen, Experten und Vertretern aus Wirtschaft, Medien und Zivilgesellschaft ermöglicht sie einer breiten Öffentlichkeit die Teilhabe an den Diskussionen.



Angesichts der einschneidenden Veränderungen in Deutschlands internationalem Umfeld durch Russlands Angriff ist das aber nicht mehr genug. Viel zu stark hält sich noch der falsche Eindruck, die Diskussion außen- und sicherheitspolitischer Themen sei den Eliten in den Konferenzräumen weit entfernter Hauptstädte vorbehalten. Aufbauend auf den bisherigen Impulsen besucht die Veranstaltungsreihe „Zeitenwende on tour“ der Münchner Sicherheitskonferenz deshalb seit dem Sommer 2022 große und kleine Städte in allen 16 Bundesländern, um dort mit Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch zu kommen.



Bei Gesprächen der „Zeitenwende on tour“ in Furth im Wald, Neuss oder der Lutherstadt Wittenberg zeigt sich vor allem eines: Die Bürgerinnen und Bürger, die an den Diskussionen teilnehmen, sind umfassend informiert und interessiert. Mit ihren verschiedenen Formaten spricht die Kampagne gezielt unterschiedliche Bevölkerungsgruppen an.



Bei Schulbesuchen bekommen Jugendliche die Möglichkeit, in interaktiven Diskussionsformaten ihre Fragen zu stellen und ihre Erwartungen zum Ausdruck zu bringen. Im Rahmen von Workshops und Hintergrundgesprächen werden Kulturschaffende, Soldatinnen und Polizisten, Volkshochschulen und Journalistinnen in die Debatte eingebunden. Bei abendlichen Townhall-Diskussionen in zentralen Veranstaltungsorten der Städte bekommen bis zu 250 Bürgerinnen und Bürger Gelegenheit zum Austausch mit vier bis sechs Panelistinnen und Panelisten aus Politik, Wissenschaft, Nichtregierungsorganisationen und Medien. Livestreams der Veranstaltungen und digitale Sonderformate wie Twitter-Spaces und ein „Zeitenwende on tour“-Podcast erreichen regelmäßig über 1000 Personen.  



Vom Wert dieses Austauschs profitieren dabei beide Seiten: Einerseits können die Bürgerinnen und Bürger ihre Fragen, Sorgen und Anliegen direkt adressieren und erhalten eine umgehende, persönlich an sie gerichtete Antwort. Diese Kommunikation von Angesicht zu Angesicht ist entscheidend für die Glaubwürdigkeit der Bemühungen nach echtem Austausch. Andererseits zeigt das Format den Expertinnen und Entscheidern auf dem Panel, wie wichtig den Bürgerinnen und Bürgern außen- und sicherheitspolitische Themen sind; oft werden diese in nachfolgenden Gesprächen vertieft. In gewisser Weise ist die Kampagne damit Teil einer überfälligen Demokratisierung des sicherheits­politischen Diskurses in Deutschland.



Der deutsche Hang zu scheinbar endlosen Debatten über die Vor- und Nachteile einzelner Waffensysteme, die sich bei der Entscheidung über bewaffnete Drohnen über mehrere Legislaturperioden erstreckten, spiegelte sich auch nach dem 24. Februar 2022 in den detailfixierten Diskussionen über die Lieferung von Schützen- und Kampfpanzern an die Ukraine.



Dagegen zeigen die Gespräche der „Zeitenwende on tour“ deutlich: Die Fragen der Bevölkerung beziehen sich weniger auf Details wie die Reichweiten einzelner Waffensysteme, sondern auf die großen Linien der deutschen Sicherheitspolitik.



Erklären, aber auch zuhören

Welche Lehren zieht die deutsche Politik aus der Abhängigkeit von einem seit Jahren als autoritär und aggressiv gegenüber Nachbarn bekannten Russland für den Umgang mit China, beispielhaft demonstriert am Hamburger Hafen? Von welchen Lieferketten hängt der Wohlstand deutscher Unternehmen ab und zu welchem moralischen Preis, beispielsweise in Form von Menschenrechtsverletzungen in Produktionsländern, wird er erwirtschaftet? Wie kann sich Deutschland als zuverlässiger Partner an der Seite seiner transatlantischen und osteuropäischen Alliierten positionieren? Aber auch: ­Welchen Beitrag muss Deutschland leisten, das wie wenige andere Staaten von der Einhaltung internationalen Rechts profitiert hat, um die regelbasierte internationale Ordnung zu stärken?



Der russische Angriff führte auch zu der schmerzhaften Realisierung, dass die Bundesrepublik sich zu lange naiv auf die Einhaltung internationalen Rechts verlassen und geglaubt hat, dass die weltweite Verbreitung von Menschenrechten, Pressefreiheit und Demokratie unausweichlich sei. Dessen ist sich die Bevölkerung bewusst: Kaum eine Townhall-Diskussion vergeht, bei der keine Variante der Frage „Wie sollen wir mit demokratie- und menschenrechtsfeindlichen Ländern ­umgehen?“ gestellt wird.



Als viertgrößte Volkswirtschaft weltweit hat Deutschland eine Verantwortung, in internationalen Organisationen, aber auch bei den eigenen Unternehmen für diese Werte zu werben. Darüber hinaus sollte Deutschland sich dauerhaft und glaubwürdig Staaten außerhalb der traditionellen transatlantischen Gemeinschaft zuwenden und mit Worten und Taten die Bereitschaft zu einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe signalisieren. Ausschließlich punktuelle Bemühungen um Unter­stützung für eigene Vorhaben richten vor diesem Hintergrund mehr Schaden als Nutzen an.



Unabhängig davon, wie hehr die Ziele sind, beispielsweise die weltweite Wahrung der Menschenrechte, riskiert derartiges Ad-hoc-Engagement in der Wahrnehmung der deutschen Bevölkerung, aber auch international, die Glaubwürdigkeit des Interesses der Bundesrepublik an echter Zusammenarbeit zu untergraben. Deshalb ist eine Verkürzung der Zeitenwende-Debatte auf die überfälligen Investitionen in die Streitkräfte und Waffen­lieferungen an die Ukraine falsch.



Der Zusammenhang von wirtschaftlichen, innen- und außenpolitischen Faktoren sowie ethischen Überlegungen ist den Bürgerinnen und Bürgern dabei wohl bekannt: Durch gestiegene Energie- und Lebensmittelkosten oder geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer in der Nachbarschaft sind sie unmittelbar und im Alltag mit den Auswirkungen von internationalen Entwicklungen konfrontiert.



Die Sorge vor der Bedrohung durch Russland und die Frage nach den Vorkehrungen des Bevölkerungsschutzes sind regelmäßig Teil der Diskussionsbeiträge der Bürgerinnen und Bürger. Entscheidend ist deshalb, die Bevölkerung an den angesichts der weltpolitischen Umwälzungen unweigerlich nötigen Veränderungen zu beteiligen, ihre Sorgen ernst zu nehmen und ihre Fragen zu beantworten. Denn dass jede Entscheidung und jedes Zögern Konsequenzen hat, ist die unausweich­liche Herausforderung menschlichen Handelns – und Alltag sowohl des Bundeskanzlers als auch der mittelständischen Unternehmerin.



Gleichzeitig ist die gesellschaftliche Zustimmung die Grundlage, auf der politische Entscheidungen getroffen und Maßnahmen umgesetzt werden. Von ihr hängt nicht zuletzt Deutschlands Zuverlässigkeit bei der Erfüllung von Verpflichtungen gegenüber seinen Verbündeten ab. Je größer die potenziellen Auswirkungen dieser Entscheidungen auf das Leben der Bürgerinnen und Bürger sind, desto wichtiger ist es deshalb, dass die Entscheidungsträgerinnen und Experten das Spannungsfeld, in dem ethische, wirtschaftliche und politische Gesichtspunkte verschiedener Handlungsoptionen abgewogen werden, offenlegen und einordnen.



Unterschiedliche Meinungen aushalten

Angesichts des mit der weltpolitischen Zeitenwende einhergehenden erhöhten Kommunikationsbedarfs gibt es jedoch Grund zum Optimismus. Die Gespräche der „Zeitenwende on tour“ zeigen: Die Bürgerinnen und Bürger wollen sich beteiligen, das „Mindset“ der Zeitenwende ist angekommen.



Jetzt geht es darum, das begonnene Gespräch aufrechtzuerhalten. Besondere Bedeutung hat dabei die Meinungspluralität der Diskussionen. Die immer stärkere Polarisierung der Debatten und die Echokammern im sozialen Umfeld sowie im Internet, häufig angereichert durch Propaganda und gezielte Desinformationskampagnen, gefährden einen sachlichen, faktenbasierten Diskurs. Die Veranstaltungen der „Zeitenwende on tour“ verstehen sich deshalb auch als ein Beitrag zur deutschen Debattenkultur.



So treffen bei den Veranstaltungen regelmäßig Personen und Meinungen zur Sicherheitspolitik aufeinander, die sich im Alltag nicht austauschen würden: Verfechterinnen der Lieferung von deutschen Kampfjets an die Ukraine treffen auf Bürger, die die Bundeswehr am liebsten sofort abschaffen würden. Teilweise kommt es zu kurzen Wortgefechten, selten zu kleineren Protesten vor dem Eingang der Veranstaltungshalle. Das alles zeigt: Außen- und Sicherheitspolitik bewegt die Menschen. Gleichzeitig dürfen Meinungsfreiheit und -pluralität nicht als ein Recht auf Kritik­losigkeit missinterpretiert werden.



Eine sachliche Diskussion basiert darauf, dass die Beteiligten sich gegenseitig zuhören, respektieren und eine gemeinsame Faktenbasis teilen. Diese Voraussetzungen zu schaffen, liegt an allen Beteiligten. Das bedeutet auch, geduldig, aber deutlich zu widersprechen, wenn Verschwörungstheorien geäußert werden. Derartige Versuche der Einflussnahme kritiklos stehen zu lassen, bedeutet, sie zu tolerieren, und das spielt anti­demokratischen Kräften wie Russland und China, aber auch radikalen Strömungen in Deutschland in die Hände.



Investition in die Demokratie

Um diese großen Aufgaben zu bewältigen, ist es außerdem unvermeidbar, die Palette der Orte sicherheitspolitischer Diskussion in Deutschland zu verbreitern. Ehrenamtliche Organisationen leisten seit Jahren bei dauerhaft knappen Budgets einen entscheidenden Beitrag dazu, dass an deutschen Hochschulen, aber auch in großen und kleinen Städten, außen- und sicherheitspolitische Veranstaltungen stattfinden. Fragen sie dafür Sprecherinnen und Sprecher an, erhalten sie oft Absagen: Der Weg von Berlin nach Südbayern ist zu weit, die Veranstaltung passt deshalb nicht in den Terminkalender. Da das Führen von Gesprächen und das Fördern der Debatte mit der Bevölkerung bei den wenigsten wissenschaftlichen Institutionen zu den Kernaufgaben der Arbeit zählt, sind diese Termine durch die Expertinnen und Experten oft nur als „quasi Ehrenamt“ möglich.



Deswegen bedarf es der Unterstützung durch die Bundesregierung und politische Stiftungen. Es gilt, eine lebendige sicherheitspolitische Debatte zu fördern und unsere Demokratie gegen Desinformation und Polarisierung zu immunisieren.  



Wenn die notwendigen Anpassungen Deutschlands an das veränderte weltpolitische Umfeld nachhaltig sein sollen, darf die Kampagne der „Zeitenwende on tour“ nicht die einzige ihrer Art bleiben. Denn damit der breite gesellschaftliche und politische Konsens, von dem Bundeskanzler Scholz in seiner „Zeitenwende-Rede“ am 27. Februar 2022 sprach, Bestand haben kann, bedarf es eines umfangreichen ­Engagements.



Zur Gestaltung der Zeitenwende in Deutschland gehören deshalb neben der Anschaffung von F-35-Kampfflugzeugen auch dringend notwendige Investitionen in eine möglichst inklusive gesellschaftliche Debatte über Außen- und Sicherheitspolitik. Mit der „Zeitenwende on tour“-Kampagne strebt die Münchner Sicherheitskonferenz danach, Impulse ­dafür zu setzen und ihren Beitrag zu einer lebendigen gesellschaftlichen Debatte zu leisten.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 4, Juli 2023, S. 8-13

 

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Dr. Christoph Heusgen ist Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz.