Mehr Geld allein reicht nicht
Um Europas Verteidigung zu stärken, braucht es endlich eine Vergemeinschaftung der Verteidigungspolitik. Die Corona-Krise bietet nun eine Chance dazu.
Wie kann eine Europäisierung der Verteidigungspolitik gelingen? An dieser Frage scheiden sich die Geister: „Top-down“ fordern die einen, die monieren, dass die Staats- und Regierungschefs nicht bereit seien, Souveränitätsrechte in diesem Politikfeld an die EU abzugeben. „Bottom-up“ rufen die anderen, die meinen, dass ein schrittweises Vorgehen, u.a. über eine koordinierte Fähigkeitsentwicklung, den Königsweg zu einer Verteidigungsunion darstelle.
Derzeit mehren sich jene Stimmen, die dafür eintreten, dass angesichts der Corona-Krise die Verteidigungshaushalte der EU-Staaten von den bereits absehbaren Sparrunden ausgenommen werden müssten. Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU dürfe Covid-19 nicht zum Opfer fallen. Die Regierungen sollten die Verteidigungsausgaben sogar noch erhöhen, um den Erhalt der europäischen Verteidigungsindustrie zu sichern; Europa werde sein Ziel, strategisch autonom zu handeln, nur dann erreichen, wenn der Verteidigungssektor durch EU-Programme, allen voran durch den Europäischen Verteidigungsfonds (EDF), gestärkt werde. Und dieser Schritt wiederum werde die sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit der EU in einem sich weiter verschlechternden politischen Umfeld steigern.
Dieses Plädoyer für eine industriepolitische Engführung der Debatte hat vor Augen, dass die Streitkräfte nahezu aller EU-Staaten seit Jahren unterfinanziert und damit nur begrenzt einsatzfähig sind. Die Länder Ost- und Mitteleuropas greifen noch heute auf Material aus Sowjetzeiten zurück.
Darüber hinaus sind die Erinnerungen an die Folgen der Finanz- und Schuldenkrise der Jahre 2009/10 noch präsent. Die Europäische Verteidigungsagentur hat ermittelt, dass die kumulierten Verteidigungsausgaben ihrer 26 Mitgliedstaaten zwischen 2008 und 2010 von 201 Milliarden Euro auf 194 Milliarden gesunken sind. 16 europäische NATO-Mitglieder sahen sich damals gezwungen, ihre Verteidigungsausgaben um mehr als 10 Prozent zu reduzieren. Zudem hat die Annexion der Krim durch Russland 2014 zu Kostensteigerungen geführt. Denn in ihrer Folge haben die Streitkräfte in Europa mehrheitlich eine neue Ausrichtung erfahren. Dem Paradigma des Krisenmanagements folgte das der Bündnis- und Landesverteidigung, welches ein ganz anderes Ausstattungsniveau der Streitkräfte erforderlich macht.
Rufe nach Geld fragwürdig
Obwohl es tatsächlich an Geld mangelt, beruht der Ruf nach mehr Finanzmitteln auf mehreren fragwürdigen Annahmen.
Erstens: Ohne Beleg ist die Aussage, die Pandemie werde die europäische Nachbarschaft so unsicher machen, dass die EU mehr als bislang zum militärischen Handeln gezwungen sei. Vielmehr sind derzeit sehr unterschiedliche Entwicklungen zu beobachten: In Syrien hat sich die humanitäre Lage angesichts des im März ausgehandelten Waffenstillstands leicht verbessert; im Jemen hat die von Saudi-Arabien angeführte Koalition im April einen einseitigen Waffenstillstand verkündet; im Osten der Ukraine verläuft der Konflikt mit nahezu gleicher Intensität. Verschlechtert hat sich in den letzten Wochen vor allem die Krise in Libyen, wo der Bürgerkrieg weiter eskaliert.
Diese wenigen Beispiele illustrieren, dass noch lange nicht ausgemacht ist, welche sicherheitspolitischen Entwicklungen Covid-19 zur Folge haben wird. Langfristig könnte ein ganz anderer Faktor Wirkung entfalten: Der jüngste Sturz des Ölpreises dürfte Russland, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate überlegen lassen, ob beziehungsweise wie lange sie ihre militärischen Interventionen in Syrien, Libyen und im Jemen fortzusetzen bereit sind. In diesen Krisengebieten könnten die von den Regionalmächten unterstützten Kriegsparteien daher schneller friedensbereit werden als vor der globalen Gesundheitskrise gedacht.
Zweitens ist die Wirkung der Pandemie auf den immer stärker hervortretenden Gegensatz zwischen Washington und Peking noch nicht ausgemacht. Auf den ersten Blick scheint die Regierung Trump fest entschlossen, die Konflikte mit der chinesischen Führung „robuster“ auszutragen als bislang. Doch treffen die Pandemie und ihre wirtschaftlichen Folgen die USA und China gleichermaßen, was ihre Konfliktbereitschaft einschränken wird. Zudem sind die USA mit China viel zu eng verzahnt, um die Volksrepublik, wie einst die Sowjetunion, isolieren und eindämmen zu können. 2018 betrug der Wert der US-Einfuhren aus China über 500 Milliarden Dollar, und China hält die größten Dollar-Reserven weltweit. Eine wirtschaftliche „Entkopplung“, wie sie Trump derzeit propagiert, können sich die USA schlicht nicht leisten. Ein möglicher Präsident Joe Biden dürfte überdies geneigt sein, die Hand wieder verstärkt in Richtung des wichtigsten Handelspartners – der EU – auszustrecken und die transatlantischen Beziehungen wiederzubeleben. Dies dürfte die Debatte um strategische Autonomie der EU in einem anderen Licht erscheinen lassen.
Drittens ist die Forderung, der Aufbau einer schlagkräftigen Europäischen Verteidigungsunion sei ohne eine europäische Verteidigungsindustrie schlechterdings nicht vorstellbar, vom falschen Ende her gedacht: Sie wiederholt den Grundfehler der vergangenen Jahre bei der Schaffung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) – nämlich auf den Aufbau einer rüstungsindustriellen Basis sowie militärischer Fähigkeiten zu setzen und dann zu hoffen, dass daraus ebenso die Bereitschaft für deren Einsatz folgen würde. Stattdessen nimmt dieser Wille zu einem gemeinsamen sicherheitspolitischen Engagement deutlich ab: Während der Amtszeit der Juncker-Kommission startete die EU viele Initiativen zur Stärkung der militärischen Fähigkeiten und zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich der GSVP. Doch beträchtliche Fortschritte in diesem Bereich haben nicht zur Einleitung ehrgeizigerer militärischer Operationen geführt. Im Gegenteil: Im Januar 2020 waren, wie 2015, 17 Missionen im Gange und rund 5000 Personen (2015: 6000) im Einsatz. Die Fokussierung auf die Fähigkeitsentwicklung scheint den sicherheitspolitischen Handlungswillen also eher zu bremsen.
Viertens irrt, wer meint, der EDF allein rette die europäische Verteidigungsfähigkeit. Geplant ist, dass sich die EU-Kommission über den EDF finanziell an Projekten beteiligt, in denen sich mehrere Mitgliedstaaten zusammenfinden. Brüssel wollte so dazu beitragen, dass die gravierendsten Fähigkeitslücken verringert werden, die in den Bereichen Drohnentechnologie, Satellitenkommunikation und dem strategischen Lufttransport bestehen. Die Aussicht auf Geld aus Brüssel hat in den vergangenen drei Jahren jedoch dazu beigetragen, dass die EU-Staaten eine Unzahl gemeinsamer Vorhaben auf die Tagesordnung gesetzt haben. Im Rahmen der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit sind seit Dezember 2017 insgesamt 47 Projekte gemeldet. Für diese wollen die beteiligten Staaten 10 Prozent der Kosten aus dem EDF erstattet bekommen. Ein Großteil dieser Projekte lässt jedoch den „europäischen Mehrwert“ vermissen. Statt Aufklärung, Lufttransport oder Cyberabwehr zu stärken, meldeten EU-Staaten Projekte zur Kofinanzierung durch Brüssel an, die sie oft bereits auf nationaler Ebene verfolgt hatten.
Rüstungsbinnenmarkt spart Geld
Um die Verteidigungsfähigkeit der EU zu stärken, müssten die Mitgliedstaaten also zunächst den europäischen Mehrwert über ihre nationalen Planungs- und Beschaffungsinteressen stellen. Noch immer beschaffen sie 80 Prozent ihrer militärischen Ausrüstung und Fähigkeiten national. Über 90 Prozent der Forschungs- und Technologieanstrengungen unternehmen sie im eigenen Land. Dieser Mangel an Kooperation verursacht vermeidbare jährliche Kosten, die auf rund 21 Milliarden Euro geschätzt werden. Darüber hinaus müssten sie der EU-Kommission eine stärkere Rolle zuweisen und ihr erlauben, einen europäischen Binnenmarkt für Rüstungsgüter zu schaffen. Die EU-Kommission hatte 2017 klargestellt, dass sie die Sicherheitspolitik auf behutsame Weise vergemeinschaften will. Die Öffnung und Liberalisierung bislang verschlossener oder unilateral regulierter nationaler Märkte und die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Marktes gehören zu den klassischen Aufgaben der Kommission.
Die EU-Staaten haben ihre nationalen Rüstungsmärkte jedoch vertraglich gegen eine Öffnung immunisiert. Dass sie nicht gewillt sind, dies zu ändern, zeigt der EDF. Sein Finanzvolumen werden die Mitgliedstaaten deutlich kürzen: Von der ursprünglich für den Zeitraum 2021–2027 vorgesehenen Mittelausstattung in Höhe von 13 Milliarden Euro dürften am Ende der Verhandlungen über das EU-Budget bestenfalls sieben Milliarden übrig bleiben. Damit entfällt für die EU-Kommission die Möglichkeit, die Zurückhaltung und Skepsis der Mitgliedstaaten durch finanzielle Anreize zu schmälern.
Für die EU-Staaten ist ein europäischer Rüstungsbinnenmarkt mit gravierenden Einschnitten verbunden. Sie müssten ihre nationalen Rüstungsmärkte öffnen und den innergemeinschaftlichen Handel liberalisieren. Hersteller oder Konkurrenten von Rüstungsgütern müssten gleichbehandelt werden. Eine Beihilfen-, Wettbewerbs- oder Fusionskontrollpolitik, die sich an rein ökonomischen Kriterien orientiert, müsste eingeführt werden. Die Mitgliedstaaten wären gezwungen, die Exportrichtlinien für jene Rüstungsgüter zu harmonisieren, die in der EU produziert werden. Mit der Abwertung des EDF machen die Mitgliedstaaten deutlich, dass sie nicht gewillt sind, mutige Schritte hin zu einer Europäisierung der Rüstungsplanung und -beschaffung zu gehen und eine Supranationalisierung dieses Politikfelds nicht wünschen.
Beim geplanten EU-Wiederaufbaufonds von 500 Milliarden Euro nach der Corona-Krise ist viel die Rede von einem „Hamilton-Moment“ Europas. In dem Verfassungskompromiss, den der erste amerikanische Finanzminister Alexander Hamilton 1790 schmiedete, einigten sich die Parteien darauf, dass die US-Bundesregierung alle Schulden übernahm, die die Bundesstaaten während des Unabhängigkeitskriegs aufgenommen hatten. Damit bereiteten diese im Gegenzug einer Föderalisierung den Weg und legten den Grundstein für eine starke Bundesregierung in den Vereinigten Staaten.
Auch bei der GSVP sollten die Verteilung und Verwendung der Mittel einer politischen Vertiefung den Weg bereiten. Vor einem Jahrzehnt hat die Finanz- und Schuldenkrise nicht ausgereicht, mit Blick auf die ökonomischen Vorteile eine wirkliche Europäisierung dieses Politikfelds anzustoßen. Die Covid-19-Krise bietet dafür eine zweite Chance. Solange die Mitgliedstaaten nicht bereit sind, diesen Weg zu gehen, greift der Ruf nach mehr Geld zu kurz.
PD Dr. habil. Markus Kaim ist Helmut Schmidt Fellow der Zeit-Stiftung und des German Marshall Fund in Washington.
Dr. Ronja Kempin ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
Internationale Politik 4, Juli/August 2020; S. 67-70