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01. Okt. 2016

Weniger und besser ist mehr

Plädoyer für eine grunderneuerte Europäische Union

Ein „perfekter Sturm von Krisen“ rund um Europa, Zerfallserscheinungen im Inneren der EU: Der bisherige Modus der Integration taugt nicht mehr. Gefragt wäre ein Modell, das sich auf die Außen- und Sicherheitspolitik konzentriert und dabei supranationale Institutionen schafft: ein handlungsfähigeres „Kristallisationseuropa“.

Die Europäische Union steht im Epizentrum politischer Beben, die die europäische Ordnung bis in die Grundfesten erschüttern.

Ob Europa erneut in Kleinstaaterei zerfällt, hinter den Fassaden der alten Ordnungen langsam dahinsiecht oder ob es aus diesen Beben Energien für einen Neuanfang schöpft, entscheidet sich vermutlich vor allem an der Zukunft einer Europäischen Union, die seit Jahren nur noh im Krisenmodus agiert. Davon zeugen insbesondere die vielen Sondergipfel. Den Stoff für all diese hektischen Aktivitäten liefern die nach wie vor nicht gelöste Euro-Krise, der Konflikt mit Russland und die damit einhergehende Krise der gesamteuropäischen Sicherheitsordnung, die Flüchtlingskrise als Ergebnis des Bürgerkriegs in Syrien, aber auch zahlreicher anderer gewalttätiger Konflikte und versagender Staatlichkeit an der südlichen Mittelmeerküste, in Afrika und Asien. Jede dieser Krisen bedroht die EU existenziell; zusammen bilden sie „the perfect storm“.

Was die EU, was Europa insgesamt in dieser Lage vor allem braucht, ist außenpolitische Handlungsfähigkeit. Dafür müsste sich Europa allerdings vom bisherigen Vorgehen in der Außenpolitik verabschieden.

Die alte Europapolitik taugt aus vier Gründen nicht länger als Antwort auf die Krisen in der EU und an ihrer Peripherie. Erstens ist der bisherige Weg des gemeinsamen außenpolitischen Agierens gescheitert. Dieser baut darauf, dass Quantensprünge in der Integration durch vertragliche Vereinbarungen im EU-Rahmen erreicht werden. Die außen- und sicherheitspolitischen Interessen und Prioritäten der Mitgliedstaaten sind dafür jedoch zu unterschiedlich: Bestenfalls können diese sich fallweise dazu durchringen, außerhalb des EU-Rahmens sicherheits- und verteidigungspolitische Kooperationsvereinbarungen zu treffen.

Will die Union im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik aber voranschreiten, muss sie Integration neu denken. Zweitens sind die Krisen im Umfeld der EU verwoben mit den Krisen im Inneren und der gegenwärtigen Verfassung der EU selbst. Drittens ist die gegenwärtige Häufung (außenpolitischer) Krisen kein Zufall, sondern Ergebnis des Zerfalls einer internationalen Ordnung. Schließlich verlangen Fehlentwicklungen in der europäischen Integration nach Korrektur. Nur wenn es der EU gelingt, sich zu konsolidieren und zu erneuern, kann sie auch außenpolitisch an Gestaltungsfähigkeit gewinnen.

In den mannigfachen Krisen im Inneren wie an den Außengrenzen manifestiert sich die fortschreitende Erosion internationaler Ordnung und oft auch ihrer nationalstaatlichen Fundamente. Es wird für die Europäische Union also nun etwas unmittelbar spürbar, was in ihren einschlägigen Dokumenten (wie etwa der Europäischen Sicherheitsstrategie von 2003) seit Langem erkannt worden war: Europa ist hochgradig abhängig von einer funktionierenden, „effektiven“ internationalen Ordnung und muss sich deshalb bemühen, diese Ordnung zu erhalten, fortzuentwickeln und zu festigen.

Was ist das Verbindende?

Die EU und ihre Mitgliedstaaten verfügen indes kaum über Instrumente, um auf Dritte einzuwirken und die internationale Ordnung zu stützen. Sicher: Das europäische Friedensmodell, welches auf wirtschaftlicher, sozialer und gesellschaftlicher Verflechtung beruht, bleibt in Asien und in Afrika attraktiv. Dies lässt sich jedoch kaum in politischen Einfluss ummünzen. Zudem besteht die Gefahr, dass die Krise der europäischen Integration auch das europäische Modell beschädigt, indem es seinen Vorbildcharakter zweifelhaft werden lässt. Auch die Anziehungskraft des europäischen Wirtschaftsraums verliert angesichts der Stagnation und der aufgestauten Strukturprobleme insbesondere in den Mittelmeerstaaten an Gewicht. Und schließlich sind die übrigen außen- und sicherheitspolitischen Instrumente der EU – wie die Perspektive eines EU-Beitritts als politischer wie gesellschaftlicher Reformmotor oder die Europäische Nachbarschaftspolitik als transformatives Element – faktisch nicht mehr verfügbar beziehungsweise gescheitert.

Eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und eine Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) existieren zwar institutionell; inhaltlich oder gar im Sinne strukturbildender außenpolitischer Gestaltung gehen von ihnen aber keine nennenswerten Impulse aus. In der GASP bleiben Sanktionen das gewichtigste außenpolitische Instrument. Die Hohe Vertreterin der EU und ihr Europäischer Auswärtiger Dienst (EAD) haben es bislang nicht vermocht, den konzeptionellen Anspruch, Krisen und Konflikte „ganzheitlich“ zu bearbeiten, in eine wirkungsvolle Praxis zu überführen.

So ist der gegenwärtige Befund zur Lage der EU in der Weltpolitik wenig ermutigend. Zugleich ist der innere Zusammenhalt der EU alles andere als gefestigt: Die Krise im Umfeld ist eng verwoben mit einer Krise der europäischen Integration und ihrer Politik. Fehlentwicklungen in der EU in den vergangenen 20 Jahren sind der dritte wichtige Grund, warum „mehr Europa der alten Art“ nicht mehr ausreicht. Seit 1993 strebt die EU unter dem Vorwand der „differenzierten Integration“ immer mehr auseinander. Diese wurde zu einem Arrangement der Beliebigkeit, über welches das Gemeinsame und Verbindende verloren ging. Die differenzierte Integration erlaubte es den Mitgliedstaaten nämlich, ein instrumentelles Verhältnis zu Vereinheitlichung und Harmonisierung zu entwickeln – sie gehen in der EU nur so weit, wie sie es im nationalen Interesse für gewinnbringend halten. Die Erweiterung auf 28 Mitgliedstaaten untergräbt nicht nur ihre Handlungsfähigkeit, sondern auch die gemeinsame Wertegrundlage der Gemeinschaft und die Voraussetzungen für Solidarität.

Dadurch hat die EU in den vergangenen Jahren wichtige Gestaltungsaufgaben vernachlässigt. Obendrein hat sie aufgrund integrationspolitisch ehrgeiziger, aber unzulänglich umgesetzter Projekte empfindlich an Handlungsfähigkeit eingebüßt. Die bis heute für den Integrationsprozess konstitutive „Monnet-Methode“, der gemäß eine über den Nationalstaaten stehende, allein dem Wohle Europas verpflichtete Instanz in alle Politikbereiche ausgreift, um nationale Interessen und Egoismen zu nivellieren, ist nicht länger in der Lage, die Fliehkräfte innerhalb der Union zu bändigen. Sie kann daher nicht einfach fortgeschrieben werden. Die Welt von heute unterscheidet sich grundlegend von derjenigen vor zehn oder auch nur fünf Jahren, und die EU selbst befindet sich in einer deutlich schlechteren Verfassung als damals. Dazu hat auch die deutsche Europapolitik beigetragen, etwa durch ihr Abrücken von ihrer traditionellen Linie der europäischen Integration hin zur „Unionsmethode“ des Intergouvernementalismus. Sie hat damit zwar anerkannt, dass die besten Antworten auf die doppelte Herausforderung der Gegenwart nicht auf den Wegen zu finden sein werden, die die europäische Integration in der Vergangenheit erfolgreich beschreiten konnte. Aber sie hat es nicht vermocht, neue gemeinsame Wege zu weisen. Dass diese ausgetretenen Pfade tatsächlich zu neuen Ufern führen könnten, ist kaum vorstellbar, wird aber bislang in Brüssel nicht ernsthaft infrage gestellt.

Keine Resonanz für die Idee

Wie kann es weitergehen? Eine realistische Lagebeurteilung ist der unverzichtbare erste Schritt. Sie muss ansetzen an der politisch explosiven Kluft zwischen den Formen und der Substanz der politischen Entscheidungen der EU einerseits und den Erwartungen und Befürchtungen der Europäer andererseits. Die Vertrauenskrise der Politik in den meisten Mitgliedstaaten trifft auch die EU in ganzer Härte: Die Idee und das Projekt Europa finden keine Resonanz mehr. Europa steht für Globalisierung und Neoliberalismus, es stellt sich dar als ein vor allem technokratisches Projekt, dessen politische Institutionen – allen voran die Europäische Kommission und das Europäische Parlament – sich entweder nationalstaatlich ­ausgehöhlt oder zu wenig verankert präsentieren.

Hierzu nur ein Beispiel: Seit den Terroranschlägen von Paris drängt die Kommission die Mitgliedstaaten, sich zu einer Sicherheitsunion zusammenzufinden und Daten in das Schengener Informationssystem einzuspeisen. Wegen unterschiedlicher Definitionen und Einordnungen dieses Personenkreises in den Mitgliedstaaten wurden aber bislang weniger als 8000 Personen in der Datenbank registriert. Allein das französische Register enthält mehr als 11 000 Namen und Einträge.

Dies verdeutlicht, wie wenig die politische Entwicklung der EU Schritt gehalten hat mit den Erwartungen, die an sie gerichtet werden. Die EU vermag nicht mehr zu liefern, was sich ihre Bürgerinnen und Bürger von der Politik versprechen: Besitzstandswahrung und -mehrung, wirtschaftliche, soziale und physische Sicherheit. Dass dies nur sehr teilweise den Fehlentwicklungen der EU selbst geschuldet ist, dass die EU hier auch als Sündenbock für nationale Politikverdrossenheit herhalten muss, spielt dabei kaum eine Rolle. Die Union wird Antworten auf die vielfältigen politischen Frustrationen der Europäer finden müssen, die sich stets auch an der EU festmachen. Die angemessene Antwort kann freilich nicht in Versuchen bestehen, all die an die EU gerichteten Erwartungen und Forderungen in vollem Umfang zu erfüllen: Dies ist angesichts der begrenzten Möglichkeiten der EU und den schwierigen Gegebenheiten in und um Europa wenig aussichtsreich.

Viele sehen einen Ausweg aus der Krise der EU trotzdem in einer differenzierten Integration. Es geht demnach darum, ein „Kerneuropa“ zu schaffen, das auf dem Weg der Vertiefung zu echter Supranationalität vorangeht. Wir teilen diese Einschätzung, allerdings nur unter zwei Voraussetzungen. Erstens müsste bei dieser Neubegründung auch der Acquis communautaire, also der gegenwärtige Integrationsbestand, grundlegend überprüft und entschlackt werden. Ohne die banale, aber fundamentale Einsicht, dass in der gegenwärtigen Situation nicht nur „mehr“, sondern zugleich auch „weniger“ und ein anderes Europa vonnöten ist, lässt sich die politische Krise des Projekts EU nicht bewältigen.

Zweitens müsste ein solches Kerneuropa auf eine innenpolitisch tragfähige und solide Basis gebaut sein. Dies setzt voraus, dass in allen prospektiven Mitgliedsländern darum gerungen wird, dem Beitritt mit all seinen anspruchsvollen Bedingungen der Supranationalität, aber auch mit der Verschlankung gegenüber der EU zuzustimmen. Es würde also jeweils Klarheit darüber geschaffen, welche Pflichten im Rahmen gemeinsamer europäischer Solidarität übernommen werden sollen – aber eben auch, wo die Grenzen dieser Solidarität verlaufen sollen. Diese Verpflichtungen und ihre Grenzen müssten politisch wie rechtlich verbindlich festgelegt werden und auch für die Bürger einklagbar sein. Der neue Vertragsentwurf für dieses „Kristallisationseuropa“ sollte als konstitutiver Akt ratifiziert werden, wie das beim Verfassungsvertrag geplant war.

Im Unterschied zu ­Kerneuropa weist Kristallisationseuropa in die Zukunft. Seine Gründung baut nicht auf etablierten Gruppen – die Mitgliedstaaten der Euro-Zone, die Gründungsmitglieder der EG – auf. Sie würde vielmehr durch diejenigen Staaten erfolgen, in denen die innenpolitischen Voraussetzungen für eine Neubegründung der Zusammenarbeit und der Integration gegeben sind und in denen die Gewähr besteht, dass die Mitgliedsgesellschaften mehrheitlich hinter diesem Vorhaben stehen. Entsprechend wäre dies auch Voraussetzung für die Aufnahme weiterer Staaten, denn ein Beitritt neuer Mitglieder sollte grundsätzlich möglich sein.

Wie ein solches Kristallisationseuropa errichtet werden könnte, hat einer der erfahrensten und besten Kenner der Rechtsgrundlagen der europäischen Integration, Jean-Claude Piris, schon vor einigen Jahren ausführlich dargelegt. Ihm zufolge sollte der entsprechende Vertrag die Bereiche der vertieften Integration klar und für alle verbindlich definieren. Kristallisationseuropa würde die EU nicht ablösen. Seine Gründung würde im Rahmen eines „Vertrags innerhalb der Verträge“ erfolgen.

Wirtschaft und Sicherheit

Kristallisationseuropa sollte sich dabei inhaltlich auf zwei Bereiche beschränken: die Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Euro-Zone und die gemeinsame Außenvertretung Kristallisationseuropas in internationalen außenwirtschaftlichen Organisationen und Verhandlungen. Außerdem die Außen- und Sicherheitspolitik, einschließlich der Sicherung der Außengrenzen. Es sollte eine neue oberste Verwaltungsbehörde erhalten, die jedoch so zu konstruieren wäre, dass ihre Mitglieder möglichst unabhängig von ihren Herkunftsregierungen agieren. Die demokratische Kontrolle Kristallisationseuropas könnte durch ein eigenes Parlament sichergestellt werden, das aus den nationalen Parlamenten der Mitgliedstaaten rekrutiert werden und die Mitglieder der obersten Behörde wählen könnte. EZB, Europäischer Rechnungshof und der EuGH könnten ihre Auf­gaben innerhalb der EU auch für Kristallisationseuropa wahrnehmen, wenn alle Mitgliedstaaten und diese Institutionen dazu bereit wären; alternativ müssten entsprechend neue Organisationen geschaffen werden.

Ein derartiger Vertrag wäre nach Auffassung von Piris nicht nur mit dem Völkerrecht vereinbar, sondern auch mit dem EU-Vertrag. Er müsste dazu jedoch Vorkehrungen zum Schutz der Interessen und Belange der anderen EU-Mitglieder beinhalten, die durch das neue Kristallisationseuropa beeinträchtigt werden könnten. Ihre Wahrung sollte der EU-Kommission und dem EuGH anvertraut werden.

Die Erneuerung des europäischen Projekts im Rahmen dieses Kristallisationseuropas enthält zwei wesentliche Komponenten: den Aufbau qualitativ verbesserter supranationaler Strukturen in einigen Bereichen der Integration und den parallelen Rückbau der Integration in anderen Politikfeldern. Supranationalisiert werden sollte die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Union, mit vier spezifischen Stoßrichtungen: Es gäbe ein eigenes Außenministerium. Zur Sicherung der Außengrenzen würden gemeinsame Grenzkon­trollen eingeführt und einer supranationalen Agentur unterstellt. Es würde eine Europäische Armee aufgebaut. Für diese Bereiche würden eigene, neue Institutionen mit eigenen Budgets und einem eigenen Finanzminister geschaffen. In der Summe würden diese Projekte der EU die Chance eröffnen, effektiv Einfluss auf die Ausgestaltung ihres regionalen Umfelds und der internationalen Ordnung zu nehmen, worauf sie bislang geradezu freiwillig verzichtet hat.

Gemeinsam – und qualitativ neu – sollte bei diesen vier Projekten sein, dass die supranationalen Bestandteile der Außen- und Sicherheitspolitik Kristallisationseuropas die nationale Ebene nicht ersetzen würden. Vielmehr – und hier liegt der entscheidende Unterschied zum gängigen Verständnis von Supranationalität – würden vergemeinschaftete Institutionen parallel und ergänzend zur nationalen Ebene konzipiert und gestaltet, nicht duplizierend und mit gemeinsamer Zuständigkeit. Das Prinzip der Subsidiarität würde damit endlich ernst genommen und konsequent zum neuen Strukturprinzip erhoben. Aufgabe und Auftrag der neuen supranationalen Institutionen wäre es, sich strikt auf die gemeinsamen Ziele und Interessen zu beschränken. Sie würden also nur dort tätig, wo dies vertraglich vorgesehen oder von den Mitgliedern von Kristallisationseuropa explizit angefordert würde.

Auf wenige Felder beschränken

Im Einzelnen könnte dies folgendermaßen aussehen: Die Kernaufgaben eines europäischen Außenministeriums wären beschränkt auf die Themen, bei denen die Mitgliedstaaten eines Kristallisationseuropas den Willen zum gemeinsamen Handeln aufbringen. Die neue Außenbehörde würde also nicht die gesamte Bandbreite außenpolitischer Themen abdecken. Vielmehr wäre ihr Wirken auf wenige Felder beschränkt, in denen die Mitgliedstaaten (analog zu den von der Hohen Vertreterin geführten Verhandlungen zwischen Serbien und Kosovo oder zum iranischen Nuklearprogramm) wirklich geschlossen auftreten können und wollen.

Im Unterschied zur gegenwärtigen Situation wäre das europäische Außenministerium kleiner; es würde nur einige wenige Delegationen als Vertretung der Mitglieder dort unterhalten, wo dies vertraglich vereinbart wäre, wie bei den UN und anderen multilateralen Organisationen, oder bei einigen wichtigen Staaten (USA, China, Russland). Zudem käme diesem Außenministerium die Aufgabe zu, strategische Trends zu beobachten und deren potenzielle Auswirkungen zu analysieren. Analog zu den Aufgaben eines Planungsstabs würde die neue Behörde ihre Erkenntnisse und Vorschläge an die Außenministerien der Mitgliedstaaten weiterleiten. Es würde das Interesse an einer supranationalisierten Zusammenarbeit ausloten und sich ein Mandat zur Vertretung der Mitgliedstaaten sowie zur Ausarbeitung eines Aktionsplans holen. Ein solcher Plan würde das strategische Vorgehen des EU-Außenministeriums sowie eine Benennung der Instrumente und Fähigkeiten enthalten, welche das Ministerium zur Vertretung und Durchsetzung der Interessen Kerneuropas benötigt.

Schließlich würde der neuen Behörde auch die Führung der Europäischen Armee obliegen. Diese würde nicht die nationalen Streitkräfte ablösen, sondern zusätzlich zu den Streitkräften der Mitgliedstaaten existieren. Als stehende schnelle Eingreiftruppe mit einer Stärke von etwa 20 000 bis 30 000 Soldaten zuzüglich ziviler Experten würde sie helfen, die Petersberg-Aufgaben umzusetzen, zu denen sich die EU-Mitglieder verpflichtet haben. Die Europäische Armee würde nur mit Zustimmung des Parlaments Kristallisationseuropas eingesetzt. Sie könnte EU-Interessen vor Ort deutlich schneller schützen, als dies den bisherigen Operationen und Missionen möglich ist, die im GSVP-Rahmen durchgeführt werden. Die Angehörigen der EU-Streitkräfte würden nicht aus den Mitgliedstaaten entsendet, sondern hätten ein Vertragsverhältnis mit der neuen Behörde. Das Fähigkeitsspektrum der Armee würde aus den Petersberg-Aufgaben abgeleitet, die Armee würde entsprechend ausgerüstet. Diese Truppe wäre auf diese Aufgaben des Krisenmanagements ausgerichtet, die kollektive Verteidigung verbliebe dagegen bei der NATO bzw. bei der EU insgesamt.

Die Kontrolle der Außengrenzen der Mitglieder Kristallisationseuropas könnte ebenfalls durch eine supranationale Institution einheitlich gestaltet werden. Mit Weisungskompetenz ausgestattet, würde diese Behörde die Mitglieder anweisen, die Kontrolle der Außengrenzen zu verstärken oder zurückzufahren. Sie würde über Ressourcen verfügen, um den Mitgliedsern zu helfen, die einem besonders starken Migrationsdruck ausgesetzt sind. Dies würde die neu zu schaffende Behörde einerseits durch eine Funktionslogik leisten, die derjenigen eines EU-UNHCR entspräche. Zum anderen würde sie über eigenes Personal verfügen. Dieses könnte, wie heute bereits im Falle von Frontex möglich, die nationalen Grenzschutzressourcen der Mitgliedstaaten verstärken. Das erscheint umso wichtiger, als die Mitglieder eines Kristallisationseuropas nicht notwendigerweise einen geschlossenen geografischen Raum bilden werden.

Dieses neue Kristallisationseuropa wäre im Bereich der Außenbeziehungen also deutlich stärker supranational organisiert. Dazu bräuchte es nicht nur einen eigenen Haushalt, sondern auch eigene Finanzmittel und einen Finanzminister mit entsprechenden Kompetenzen, die allerdings wesentlich enger umrissen wären, als dies etwa im Zusammenhang mit der stärkeren Integration der Euro-Zone diskutiert wird. Der Finanzminister des neuen Kerneuropas wäre ausschließlich für die Verwaltung und Zuweisung der Mittel zuständig, die für die neuen supranationalen Organe erhoben und ausgegeben würden. Seine Aufgaben wären damit klar getrennt von den sehr viel umfassenderen der nationalen Finanzminister und ihrer Behörden.

Dagegen würde Kristallisationseuropa keine Zuständigkeiten in denjenigen Bereichen beanspruchen, in denen sich bislang nationale und europäische Zuständigkeiten vermengen, also etwa in der Agrarpolitik, Regionalpolitik, Strukturpolitik und Sozialpolitik. Das schlösse nicht aus, dass diese Politiken im Rahmen der EU weitergeführt würden. Der Verzicht auf diese Bereiche im neu zu schließenden Vertrag für Kristallisationseuropa würde aber ein deutliches Signal an die Adresse der EU senden, diese Politikfelder auch im Rahmen der EU 28+ zu überdenken und zurückzuführen.

Kompetenzen abgeben

Natürlich werfen diese Überlegungen eine Vielzahl von Fragen auf, für die es (noch) keine Antworten gibt. Zweifelsfrei bedarf die Abgrenzung von Kristallisationseuropa zur bestehenden, aber ineffektiven Außenpolitik der EU weiterer Überlegungen. Diese Vorschläge sind Denkanstöße, keine fertigen Rezepte. Wir sind allerdings überzeugt, dass es keine Alternativen gibt zur Stoßrichtung unserer Überlegungen: nämlich die technokratische Logik der schrittweisen, beharrlichen Vertiefung und der systematischen Verschränkung nationaler und europäischer Politiken aufzugeben und sie durch eine neue Logik der Re-Politisierung und des arbeitsteiligen Umbaus der europäischen Ebene zu ersetzen. Mit vertrauten Rezepten und auf den alten Wegen kann die EU nicht mehr weiter vorankommen. Sie wäre zum Scheitern verurteilt.

Eine Chance, das europäische Projekt in den Augen der Europäerinnen und Europäer zu legitimieren, gibt es nur, wenn die Europäische Union bereit ist, neue politische Zustimmung einzuwerben. Dazu muss sie sich selbst infrage stellen lassen und beweisen, dass sie auch bereit und in der Lage ist, Kompetenzen abzugeben – um des gemeinsamen Interesses aller. Nur so ist immerhin vorstellbar, dass Europa politische Unterstützung für einen neuen Anfang erhält.

Dr. Ronja Kempin ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

Prof. Dr. Hanns W. Maull ist Gastwissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2016, S. 80-87

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