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01. März 2002

Machtproben in Afghanistan

Ehrgeiziges Ziel der Übergangsregierung in Afghanistan ist es, die lokalen Machthaber mit einer Mischung von Appellen an ihre nationale Verantwortung und materiellen und politischen Anreizen zur Kooperation zu bewegen. Viele Machtproben liegen noch auf dem Weg zur „Loya Jirga“ im Juni 2002.

Afghanistan ist zum großen Nutznießer der Terroranschläge in den USA geworden. Daran besteht trotz der inzwischen wohl an die Tausende zählenden unschuldigen Todesopfer der amerikanischen Luftangriffe kein Zweifel. Man kann und muss die Art der amerikanischen Kriegführung in Afghanistan zwar kritisieren, aber ohne eine massive militärische Intervention von außen hätte das Land noch viele Jahre eines immer brutaler werdenden Kampfes der Taliban um die Alleinherrschaft erdulden müssen, begleitet von Zerstörung, Vertreibung, Unterdrückung elementarster Freiheiten und wirtschaftlicher Auszehrung.

Im November 2001 ist das Herrschaftssystem der Taliban, das nie eine wirkliche Regierung war, erfreulich schnell – und im größten Teil des Landes fast kampflos – zusammengebrochen. Es kam auch nicht zu dem von vielen Experten vorausgesagten Bürgerkrieg unter den neuen Machthabern. Vielmehr einigten sich diese noch vor dem völligen Ende der Taliban mit Vertretern afghanischer Exilgruppen auf eine Übergangsregelung, die sich im Gegensatz zu früheren „Friedensabkommen“ wohl als tragfähig erweisen wird. Das Petersberg-Abkommen1 ist unter Federführung der Vereinten Nationen zustande gekommen, die auch seine Umsetzung während der nächsten zwei bis drei Jahre überwachen werden. Bis dahin sollen die in über 20 Jahren Bürgerkrieg völlig zerfallenen staatlichen Strukturen so weit wiederhergestellt sein, dass erstmals seit 1965 Wahlen abgehalten werden können.

Das ist ein ehrgeiziges Ziel, und es gibt starke Gegenkräfte. Viele der neuen wie alten „Warlords“ waren bei den Verhandlungen auf dem Petersberg nicht oder nur indirekt repräsentiert oder haben deren Tragweite unterschätzt. Einige haben inzwischen deutlich gemacht, dass sie sich von alten Verhaltensmustern nicht trennen mögen. Hinzu kommt eine ungenierte Klientelpolitik Russlands und Irans, während sich Pakistan nach dem Fiasko der Taliban einstweilen noch zurückhält, aber wohl bald wieder starken Einfluss auf die paschtunische Volksgruppe nehmen wird. Die Interimsregierung, die am 22. Dezember 2001 einen guten Einstand hatte, verfügt einstweilen noch über keine eigenen Machtmittel, und die internationale „Assistance Force“ hat bisher selbst in Kabul nur symbolische Bedeutung.

Trotz des sich inzwischen auch aktiv regenden Widerstands gegen das Abkommen in einigen Landesteilen gibt es Gründe, optimistisch zu bleiben. Die neue Regierung genießt ein beispielloses internationales Wohlwollen, dass sich bereits in Hilfszusagen im Gesamtumfang von fünf Milliarden Dollar niedergeschlagen hat. Schon in den neunziger Jahren waren Hilfsorganisationen aus aller Welt in Afghanistan tätig, die selbst den Taliban nach bestem Vermögen Paroli geboten haben und unter den neuen Bedingungen weit effektiver werden arbeiten können.

Die USA, die dem Land nach dem Abzug der Sowjetarmee 1989 einige Jahre lang keinerlei strategische Bedeutung beigemessen hatten, scheinen nun interessiert, ihre neu gewonnene Position dort langfristig zu konsolidieren, nicht zuletzt mit Blick auf Zentralasien und Iran. Sie haben dafür gesorgt, dass ihr Wunschkandidat Hamid Karsai die Interimsregierung leitet, und dieser hat sich als Idealbesetzung erwiesen. Er ist international ein Sympathieträger und innenpolitisch für alle Volksgruppen akzeptabel. Als Paschtune stellt er zudem ein dringend notwendiges Gegengewicht zu den Tadschiken der ehemaligen Nordallianz dar, die im November die Macht in Kabul übernommen haben und auch in der Interimsregierung überrepräsentiert sind. Mit der Bildung einer unabhängigen Kommission, die bis Juni die Mitglieder einer vorläufigen „Großen Volksversammmlung“ (Loya Jirga) ernennen soll, wurde im Januar 2002 ein weiterer wichtiger Punkt des Petersberg-Abkommens fristgerecht erfüllt.

Dies bedeutet nicht, dass die größten Hürden für den Wiederaufbau eines funktionierenden Staates schon genommen wären. Die Entmachtung der vielen kleineren und größeren Führer bewaffneter „De-Facto-Kräfte“ in Afghanistan ist eine notwendige Voraussetzung dafür, aber sie wird Jahre in Anspruch nehmen. In der jetzigen Phase bleibt der Interimsregierung nichts anderes übrig, als die „Warlords“ mit einer Mischung von Appellen an ihre nationale Verantwortung und materiellen und politischen Anreizen zur Kooperation zu bewegen. Erst wenn ihr eine reguläre Armee oder Nationalgarde in hinreichender Stärke zur Verfügung steht, kann sie schrittweise gegen diese lokalen Machthaber vorgehen.

Die internationalen Geldgeber müssen verhindern, dass Hilfsmittel von diesen Machthabern zur Konsolidierung ihrer „Fürstentümer“ missbraucht werden. Deshalb sollte die Aufstellung regulärer afghanischer Streitkräfte, zusammengesetzt aus allen Volksgruppen und Provinzen, vordringlich gefördert werden. Sie ist viel billiger als weitere internationale Truppen und schafft Verdienstmöglichkeiten für junge Männer, die so den „Warlords“ abgeworben werden können. Parallel dazu ist die Festigung der politischen Basis der Regierung durch eine möglichst repräsentative Volksversammlung  ebenso wichtig. Afghanistan befindet sich auf dem richtigen Weg, aber es werden noch viele Machtproben zu bestehen sein, für die auch seine europäischen Freunde einen langen Atem haben sollten.

Anmerkung

1  Abgedruckt S. 90 ff.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2002, S. 47 - 48.

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