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21. Juni 2022

Leuchtendes europäisches Signal für finstere Zeiten

Plädoyer für assoziierte EU-Mitgliedschaften der Ukraine, Georgiens und Moldaus. Ein Kommentar.

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Bild: Grafische Illustration eines Schwertes dessen Spitze in einen Stift übergeht
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Emmanuel Macron ist ein Freund der deutlichen Worte. Doch den „Hirntod“ hat Frankreichs Präsident der Östlichen Partnerschaft, anders als 2019 der NATO, noch nicht bescheinigt. Sein Vorschlag, eine „europäische politische Gemeinschaft“ mit den östlichen Beitritts­aspiranten zu gründen, kommt dem zwar in gewisser Weise nahe – er bleibt aber so konstruktiv, wie es einer amtierenden EU-Ratspräsidentschaft geziemt.

In der Tat ist das zentrale Anliegen der Östlichen Partnerschaft inzwischen Makulatur. Das bisherige Integrationsformat für sechs postsowjetische Staaten entsprach dem Wunsch der EU, ihnen zwar mit den Assoziierungsabkommen eine weitgehende Integration mit der Union zu ermöglichen, einen Beitritt aber auf die lange Bank zu schieben.

Als die Ukraine am 28. Februar 2022, kurz nach dem russischen Überfall, als erstes Land der Östlichen Partnerschaft den EU-Beitritt beantragte, war das Schicksal dieser Philosophie besiegelt. Moldau und Georgien zogen nur wenige Tage später nach. Schon 2021 hatten sich die drei Länder zu einem „Assoziierungs-Trio“ zusammengeschlossen, um eine Mitgliedschaft gemeinsam zu verfolgen. Ihre Motive sind verständlich. Es geht darum, sich stärker, schneller und verbindlicher an die EU zu binden. Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs versprechen sie sich davon auch mehr Sicherheit.

Der Europäische Rat reagierte schnell. Er beauftragte die Kommission, die Anträge umgehend zu prüfen. Doch die Signale des Versailler Gipfels im März blieben verhalten. Zwar versicherten die Staats- und Regierungschefs der EU insbesondere der Ukraine, Teil der „europäischen Familie“ zu sein. Hoffnungen auf einen schnellen Kandidatenstatus wollten sie aber nicht wecken. Seitdem betreibt die Ukraine eine intensive Kampagne für ein beschleunigtes Beitrittsverfahren, in der sie im Wesentlichen an die europäische Solidarität appelliert, weniger an die eigenen reformpolitischen Meriten.

In der EU zeichnen sich derweil deutliche Bruchlinien ab. Frankreich und die Niederlande haben ihre Skepsis gegenüber einem schnellen Beitritt geäußert, die deutsche Bundesregierung hat sich dem angeschlossen. Demgegenüber macht sich insbesondere Polen zum starken Fürsprecher der ukrainischen Ambitionen.

Das Dilemma der EU: Für geopolitische Abkürzungen ist der Beitrittsprozess tatsächlich ungeeignet. Zum einen ist das Assoziierungs-Trio noch weit davon entfernt, die Kopenhagener Kriterien für eine Mitgliedschaft zu erfüllen: stabile demokratische und rechtsstaatliche Institutionen sowie wettbewerbsfähige Marktwirtschaften.

Andererseits ist die EU inzwischen sichtlich damit überfordert, neue Mitglieder aufzunehmen. Die internen Spannungen, auch wegen der Politik Polens und Ungarns, waren in letzter Zeit erheblich. Der Schulterschluss seit Beginn des Ukraine-Krieges hat diese nicht aufgelöst. Wichtige Zukunftsentscheidungen drohen durch einen brüchigen Grundkonsens verhindert zu werden. Eine durch strukturelle Blockaden geschwächte Union ist aber weder im Interesse der alten noch potenzieller neuer Mitglieder.

Um die Handlungsfähigkeit der gewachsenen Union zu sichern, fordert Macron schon länger ihren Umbau. Seit 2021 beriet darüber eine „Konferenz zur Zukunft Europas“, die gerade ihren Schlussbericht mit 49 Reformempfehlungen vorlegte. So soll die Union ihre Entscheidungen in Zukunft durch qualifizierte Mehrheiten fällen. Doch dazu wäre eine Änderung der EU-Verträge notwendig.

Ein entsprechender Verfassungskonvent hat auch die Unterstützung Macrons. Doch selbst im besten Falle würde eine Änderung der EU-Verträge Jahre dauern. Sie erfordert die Bereitschaft ausnahmslos aller Mitglieder, ihre durch das Konsensprinzip gegebene Veto-Option aufzugeben. Ob dies gelingt, ist fraglich.

Sollte die EU dagegen ihre bisherige Beitrittspolitik weiterverfolgen, verwiese sie das Assoziierungs-Trio auf einen vermutlich jahrzehntelangen Prozess. Dessen Ausgang wäre in Anbetracht der inneren Spannungen der EU ebenfalls ungewiss. Frustrationen wären programmiert. Schon heute gelingt es der Union immer weniger, ihr Angebot an die Beitrittsaspiranten so zu „verpacken“, dass es positive Impulse gibt.

Sichtbar ist das in den Ländern des Westlichen Balkans. Zwar sind deren verschleppte Perspektiven größtenteils selbstgemacht. Doch werden sie verstärkt durch die Hinhaltepolitik der EU – siehe die ausstehende Visaliberalisierung für den Kosovo oder den mehrmals vertagten Verhandlungsbeginn mit Albanien und Nordmazedonien. Das hat die Glaubwürdigkeit der Union dramatisch geschwächt. Und so helfen die materiellen Anreize der EU immer weniger: Es fehlt das politische Momentum.

Die Frage ist, ob Macrons Vorschlag einer „europäischen politischen Gemeinschaft“ hier den besten Ausweg bietet. Sie würde einen „zweiten Ring“ um das überdehnte Kerneuropa legen und jene EU-Nachbarn, die auf absehbare Zeit keine Mitglieder werden können, politisch mit der Union verzahnen. Eine ähnliche Variante brachte Enrico Letta, Vorsitzender der italienischen Sozialdemokraten, ins Spiel: Die EU-Staaten und die neun Beitrittsaspiranten mögen sich zu einer „europäischen Konföderation“ zusammenschließen.

Beide Optionen zielen darauf ab, einen direkten Kandidatenstatus durch alternative regionale Formate zu vermeiden. Es ist ungewiss, ob sich eine dieser Varianten auf dem Juni-Gipfel der EU gegen die osteuropäischen Unterstützer des ukrainischen Anliegens durchsetzen kann. Die Kontroverse ist programmiert.

Womöglich ist dies die Gelegenheit für einen Kompromiss: „assoziierte Mitgliedschaften“. Schon um die Jahrtausendwende diskutiert, stieß die Idee damals auf breite Ablehnung – nicht zuletzt, weil sie als Alternative und nicht als Vorstufe einer Vollmitgliedschaft gedacht war. Ihr politischer Charme: Sie ließe sich relativ schnell realisieren.

Das Angebot assoziierter Mitgliedschaften könnte ein starkes politisches Signal senden, dass die EU den Aspiranten offensteht. Weiterhin wären die geschlossenen Assoziierungsabkommen die Grundlage für die Beziehungen mit der EU. Sie würden aber durch eine begrenzte politische Teilhabe aufgewertet: einen Beobachterstatus im Europäischen Parlament, im politischen und sicherheitspolitischen Komitee oder in anderen Foren der Union. Dann kann der Weg in die Vollmitgliedschaft auch länger dauern, ohne permanente Enttäuschungen zu produzieren.

Besonders sensibel ist auch hier die Frage der Sicherheit, da eine Vollmitgliedschaft mit einer Beistandsverpflichtung der Mitglieder einhergeht. Gerade die Ukraine sucht derzeit nach Sicherheitsgarantien. Mit jenen des Budapester Memorandums von 1994, in dem sich Russland, die USA und Großbritannien im Gegenzug zur Abgabe der sowjetischen Atomwaffen zur Sicherung der ukrainischen Souveränität verpflichteten, hat das Land schlechte Erfahrungen gemacht – Russland hat sie seit 2014 schlichtweg gebrochen.

Statt alternative Regionalorganisationen aus der Taufe zu heben, böten assoziierte Mitgliedschaften der Ukraine, Georgien und Moldau einen Status innerhalb der EU. So könnte auch die Union aus der Defensive kommen. Denn sie droht ihre politische Strahlkraft derzeit selbst zu beschädigen. Finstere Zeiten brauchen leuchtende Symbole. Angesichts des Krieges in der Ukraine ist das im ureigenen Interesse der EU.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2022, S. 50-51

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Dr. Andreas Wittkowsky ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF).