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01. Juli 2019

Gefahrengebiet

Die Territorialdebatte zwischen Serbien und dem Kosovo hat viel Schaden angerichtet. Die EU muss zu alter Klarheit zurückfinden und neue Anreize setzen

Es gilt das eherne Gesetz des Balkans: Sind die Dinge nicht abschließend geregelt, ist jede Ruhe trügerisch. Dies zeigt auch die Auseinandersetzung über einen Gebietstausch zwischen Kosovo und Serbien. Sie wird immer heftiger geführt und hat das Klima in der Region spürbar vergiftet. Überraschend ist, dass ausgerechnet die EU ihr bisheriges Mantra aufgeweicht hat, wonach die existierenden Grenzen nicht zur ­Disposition stünden.

Spiel mit den Grenzen

Seit elf Jahren ist der Kosovo unabhängig. Seitdem kämpft die junge Republik um internationale Anerkennung, doch Serbien sperrt sich vehement dagegen. Überraschend bringen die Präsidenten Serbiens und des Kosovos, Aleksandar Vucic und Ha­shim Thaci, dann in der Jahresmitte 2018 die Idee einer Grenzkorrektur ins Spiel. Vucic erklärt öffentlich, dass Serbien den Kosovo nicht „wiedergewinnen“ werde. Eine Klärung der „Grenzen zwischen Serben und Albanern“ sei aber im nationalen Interesse. Thaci lässt seinerseits erkennen, dass ihn die Nichtanerkennungspolitik Serbiens zermürbt. Auch wenn die Präsidenten im Ungefähren bleiben, konzentrieren sich die Spekulationen schon bald auf den Tausch des serbisch dominierten Nord-Kosovo gegen das mehrheitlich von Albanern bewohnte Presevo-Tal im Süden Serbiens. Offenbar halten das beide Präsidenten für eine Win-win-Situation. Vor ihren Wählern stünden sie als diejenigen da, die ihre „Brüder und Schwestern heimholen“.

Ermöglicht wird die Entwicklung durch völlig neue Signale aus dem Ausland. Der kurz zuvor berufene US-Sicherheitsberater John Bolton befürwortet Grenzkorrekturen seit Längerem. Er erklärt, die USA würden einem entsprechenden Verhandlungsergebnis nicht im Wege stehen. Auch der französische Präsident Emmanuel Macron scheint der Idee Positives abzugewinnen. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini vertritt eine „Ja, aber“-Haltung: Ein Gebietstausch sei möglich, dürfe aber nicht zu monoethnischen Staaten führen. Ein klares Nein kommt nur von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Heiko Maas.

Die Befürworter eines Gebiets­tauschs versprechen sich einen stabilisierenden Effekt. Sie verweisen darauf, dass eine einvernehmliche Grenzkorrektur im Einklang mit den Prinzipien der Schlussakte von Helsinki stehe. Doch sie vernachlässigen die Gefahr von Dominoeffekten in der Region. Insbesondere in Bosnien-Herzegowina würden sich zen­trifugale Tendenzen verstärken. Der Präsident der Srpska-Republik, Milorad Dodik, wirbt seit Jahren unermüdlich für ethnische Teilungen. Auch in Mazedonien könnten Vertreter der kompakt siedelnden albanischen Minderheit ins Grübeln geraten, ob es Alternativen zur Konsolidierung des multiethnischen Nord-Mazedonien gäbe.

Im Kosovo erfährt Thaci den stärksten Widerstand durch Premierminister Ramush Haradinaj. Dieser lehnt einen Gebietstausch rundheraus ab und nutzt das Freihandelsregime mit den Nachbarn, um Druck zu machen. Seine Regierung erhebt eine Einfuhrsteuer von 10 Prozent auf Importe aus Serbien und Bosnien-Herzegowina. Als dann die inzwischen dritte Bewerbung Kosovos auf Aufnahme bei Interpol scheitert und der serbische Präsident dies öffentlich als „Sieg“ deklariert, wird die Steuer auf 100 Prozent erhöht.

Der ­EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn protestiert heftig, ebenso die US-Regierung, bislang die stärkste Förderin des Kosovos. Die EU-Außenbeauftragte Mogherini bekundet, eine Rücknahme der Einfuhrzölle sei nötig, um den Dialog fortzusetzen. Damit verlässt sie ihre neu­trale Mittlerrolle und trägt dazu bei, dass der EU das Heft des Handelns entgleitet.

Haradinaj hält unbeirrt an der Maßnahme fest und erklärt, ihre Aufhebung sei erst möglich, wenn die Unabhängigkeit des Kosovos anerkannt werde. Vucic kontert, den Kosovo niemals anzuerkennen. Schließlich sei dieser auf Serbien angewiesen, um den Konflikt zu lösen, nicht umgekehrt. Thaçi versteift sich dagegen auf eine „großalbanische“ Maximalposition, das Presevo-Tal einzugliedern, die albanisch-kosovarische Grenze verschwinden zu lassen, aber kein kosovarisches Territorium aufzugeben. Die Beziehungen sind nun deutlich vergiftet.

Um einen Ausweg aus dieser Sackgasse zu finden, laden Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Macron am 29. April 2019 zu einem Westbalkangipfel nach Berlin. Sein wichtigstes Signal: Deutschland und Frankreich ziehen an einem Strang und engagieren sich gemeinsam für einen nachhaltigen Frieden in der Region – in den bestehenden Grenzen. Die Gespräche sollen im Sommer in Paris fortgesetzt werden.

Umstrittene Resolution

Die aktuelle Auseinandersetzung hat ihre Wurzeln in der umstrittenen Entstehung der UN-Resolution 1244. Bis heute ist die Entscheidung der NATO heftig umstritten, im Frühjahr 1999 Luftschläge gegen Slobodan Milosevics ­Jugoslawien ­durchzuführen, um eine ­humanitäre Katastrophe im Kosovo zu verhindern. Vor allem Russland betrachtet den Einsatz ohne UN-Mandat als völkerrechtlichen Sündenfall.

Erst durch die UN-Resolution 1244 vom 10. Juni 1999 findet der ­Sicherheitsrat wieder zum Konsens. Er mandatiert eine internationale Friedenstruppe (KFOR) und eine Übergangsverwaltung (UNMIK). Als der Sicherheitsrat sechs Jahre später grünes Licht für den Statusprozess gibt, erklärt Russland, einer Lösung nur dann zuzustimmen, wenn sie auch für Serbien tragbar sei. Mit dieser indirekten Teilhabe am russischen Veto lehnt Serbien jegliche Vorschläge für eine Souveränität des Kosovos ab. Daran scheitert auch der Plan des UN-Sondergesandten Martti Ahtisaari, Kosovo in eine „konditionierte“ Unabhängigkeit mit internationaler Überwachung zu entlassen.

Mehrere westliche Hauptstädte schmieden nun einen Plan B. Kosovo übernimmt den Ahtisaari-Plan in seine Verfassung und erklärt sich am 17. Februar 2008 für unabhängig. Eine kritische Masse von Unterstützern erkennt den neuen Staat an, so die USA und viele EU-Mitglieder. Das fehlende Plazet des Sicherheitsrats bleibt aber nicht ohne Folgen. Die UN beschließen, „statusneutral“ zu handeln. UNMIK wird verkleinert, doch nicht abgezogen. KFOR operiert weiterhin unter dem Schirm der Resolution 1244. Auch die EU ist betroffen. Auf ihrem Gipfel in Thessaloniki hat sie den Ländern des Westbalkans 2003 eine Beitrittsperspektive eröffnet. Sie soll der Dreh- und Angelpunkt einer nachhaltigen Friedenslösung sein. Mit Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) werden die Staaten an die Mitgliedschaft herangeführt. Doch fünf EU-Mitglieder – Griechenland, Rumänien, die Slowakei, Spanien und Zypern – sind nicht bereit, den Kosovo anzuerkennen.

Die EU übernimmt es, einen politischen Dialog zwischen Kosovo und Serbien zu moderieren. Ein wichtiger Meilenstein wird erreicht, als sich die Beteiligten darauf verständigen, Kosovos internationale Vertretung als „Kosovo*“ zu akzeptieren und sich in ihren EU-Ambitionen nicht zu behindern. (Dabei steht das Sternchen nicht für Genderpolitik, sondern für eine Fußnote, dass dies im Einklang mit Resolution 1244 stehe.) Auf dieser Grundlage kann Kosovo 2016 als „Kosovo*“ sein SAA mit der EU abschließen.

Ab 2017 nimmt der Dialog einen „Grundlagenvertrag“ zwischen Kosovo und Serbien in den Blick. Dieser soll die bilateralen Beziehungen umfassend, abschließend und rechtlich bindend regeln. Doch ein Jahr lang stockt der Dialog, dann lancieren die beiden Präsidenten den Gebietstausch.

Erheblicher Schaden

In der Peripherie sieht man die Haarrisse in der Weltordnung stärker als in den großen Hauptstädten. Ein Gespür für bröckelnden Konsens war im Westlichen Balkan schon immer ausgeprägt, genauso die Bereitschaft, dies auszunutzen und die Entschlossenheit der EU zu testen.

Durch die Territorialdebatte hat die EU-Politik erheblichen Schaden genommen. Über Jahre hinweg hieß es konsequent: Die Grenzen sind final, die gemeinsame Zukunft liegt in der EU, offene Fragen müssen im Rahmen der bestehenden Grenzen geklärt werden. Nicht überall war diese Position wohlgelitten, doch selbst die Gegner hatten sich darauf eingestellt. Der Kurswechsel der USA und einiger EU-Akteure haben dem einen herben Rückschlag versetzt.

Gleichzeitig wachsen die sicherheitspolitischen Spannungen. Zum einen ist die schon länger geplante Umwandlung des kosovarischen Schutzkorps in eine Armee zum jetzigen Zeitpunkt nicht vertrauensbildend. Größere Sorgen bereitet die systematische Aufrüstung Serbiens, begleitet von Stellungnahmen, die seine Stärke preisen, die Bedrohung durch „die Albaner“ beschwören und die Einsatzbereitschaft der Armee bekräftigen. Einige Mitglieder der serbischen Regierung äußern sich immer offener nationalistisch und schüren Ressentiments. Noch 2018 würdigt Vucic in einer Ansprache vor Kosovo-Serben Milosevic als großen serbischen Führer.

Über 20 Jahre hinweg hat Vucic sein Image gepflegt, sich vom Informationsminister Milosevics zum modernen europäischen Politiker gewandelt zu haben. In der EU herrschte die Hoffnung, dass ein geläuterter Vertreter des Nationalismus seine Klientel auf dem Weg nach Europa mitnehmen könne. Doch inzwischen sind Zweifel angebracht. Moskau wird derart hofiert, dass Russland bei vielen Serben populärer ist als die EU. Meinungsumfragen zeigen, dass die EU-Skepsis der Bevölkerung höher ist als in jedem anderen Beitrittsland. All das verheißt nichts Gutes für eine zukünftige Mitgliedschaft.

Es stellt auch die bisherige Strategie der EU infrage, vor allem auf die positiven Anreize der Beitrittsperspektive zu setzen. Der Dialog im Rahmen der SAA fokussiert zu sehr auf die technischen, weniger auf die Stabilisierungsaspekte. In jedem Fall wäre es falsch, Abstriche bei den Kriterien zu machen und einen politisch motivierten Beitritt zu beschleunigen. Außerdem sind Garantien nötig, dass Serbien als EU-Mitglied kein Veto gegen einen Beitritt des Kosovos einlegt.

Aus diesen Gründen sind zusätzliche Anstrengungen nötig, um weiteren Eskalationen vorzubeugen:

  1. Kein Schlingerkurs: Die EU muss wieder darauf bestehen, dass geklärte Beziehungen innerhalb der bestehenden Grenzen eine Voraussetzung für den Beitritt sind. Zurückhaltung führt zu Fehlwahrnehmungen. Um keine falschen Erwartungen zu schüren, sollten die politischen Botschaften deutlicher als bisher vermittelt werden. Serbien hat die Chance, die Beitrittsperspektive 2025 zu realisieren. Voraussetzung ist aber, dass es die Unabhängigkeit Kosovos akzeptiert.
  2. Neustart des Dialogs: Die Amtszeit der EU-Außenbeauftragten läuft ab; als neutrale Moderatorin ist sie angeschlagen. Deshalb muss sobald als möglich der Boden mit ihrem Nachfolger oder ihrer Nachfolgerin bereitet werden. Intensiver als bisher ist er durch Mitgliedstaaten wie Deutschland und Frankreich zu begleiten, andere sind einzubinden.
  3. Robuste Rückversicherung: Einem Kalkül, die internationale Gemeinschaft sei konfliktmüde und nicht mehr bereit, die Stabilität auf dem Westbalkan auch militärisch abzusichern, ist entschlossen und sichtbar entgegenzutreten. Die KFOR ist in den vergangenen Jahren stark abgeschmolzen worden. Die verbleibende Truppe muss weiterhin glaubwürdig demonstrieren, im Notfall einsatzbereit und -fähig zu sein. Deutschland fällt dabei eine besondere Verantwortung zu.
  4. Konditionierte Anreize: Alle Länder des Westbalkans sind interessiert an den Vorteilen der Assoziierung – an Visafreiheit, Handelspräferenzen, Beitrittshilfen. Die EU sollte dies stärker an die politischen Stabilitätskriterien ihrer Abkommen binden. Wenn einzelne Staaten meinen, sie könnten Konflikte folgenlos eskalieren, wird ihnen das Geschäft zu einfach gemacht. Deshalb sollte überprüft werden, Präferenzen auch zu suspendieren, wenn gegen den Geist der Abkommen verstoßen wird.

Ähnliches gilt für die bilaterale Zusammenarbeit. Normalerweise flankiert die deutsche Politik ausländische Direktinvestitionen, um Investitionshemmnisse zu überwinden. Auf dem Westbalkan ist dies nicht immer richtig. Serbien wirbt gegenwärtig um ein Volkswagenwerk. Eine Investition dieses Ausmaßes sollte nur dann politische Unterstützung finden, wenn hinreichende Fortschritte im Verhältnis zum Kosovo erzielt wurden. Hierzu können auch die staatlichen Vertreter im Aufsichtsrat des Unternehmens beitragen.

Die Resolution 1244 ist seit 20 Jahren in Kraft; sie wird uns noch eine Weile erhalten bleiben. Doch gilt es zu vermeiden, dass sie als „Catch 1244“ instrumentalisiert wird – als Resolution, die einen nachhaltigen Frieden verhindert.

Dr. Andreas Wittkowsky leitet das ­Projekt „Frieden und Sicherheit“ beim Zen­trum für internationale Friedenseinsätze (ZIF) in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/ August 2019, S. 116-120

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