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01. Mai 2002

Lektion Kosovo

Buchkritik

Im Kosovo-Krieg haben deutsche Soldaten erstmals seit 1945 wieder in einem Konflikt gekämpft, der die internationale Staatengemeinschaft beschäftigte. Zum ersten Mal auch nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm die deutsche Diplomatie eine führende Rolle beim Friedensschluss. Seit der Beilegung des Konflikts sind inzwischen drei Jahre vergangen, doch besitzen die Ereignisse nach wie vor Aktualität, und die Frage, ob das vereinte Deutschland auf dem Balkan seiner Aufgabe gerecht geworden ist, wird häufig gestellt. Sie zu beantworten haben sich zwei Deutsche, ein ehemaliger Diplomat und ein hochrangiger Militär, zur Aufgabe gemacht.

Günter Joetze, der Autor des ersten hier vorzustellenden Buches, war mehr als 30 Jahre im diplomatischen Dienst der Bundesrepublik Deutschland tätig; von 1995 bis 1999 war er Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik und nimmt jetzt einen Lehrauftrag der Freien Universität Berlin über die Praxis des Konfliktmanagements wahr. Sein Buch will weder die Ursachen für den ethnischen Konflikt ausloten noch die Frage beantworten, ob der NATO-Einsatz richtig oder falsch, gut oder schlecht war; ihm geht es in erster Linie darum, wie es um das deutsche Gewicht in diesem Konflikt bestellt war. Er will die Verhandlungen und Entwicklungen, kurz: den diplomatischen Abstimmungsprozess beschreiben. Für Joetze ist die Teilnahme am Kampf um Kosovo der Eintritt in eine neue Ära der deutschen Politik, durch sie sei die „Berliner Republik“ wieder zu einem Ordnungs- und Machtfaktor in Europa geworden. Anders als viele Kritiker kommt er zu dem Schluss, dass die Bundesregierung einen maßgeblichen politischen Beitrag zur Beendigung dieses Krieges geleistet habe.

Der Autor liefert eine minutiöse Chronik des Geschehens, beschreibt Schritt für Schritt den diplomatischen Konferenzmarathon zwischen Brüssel, Moskau, Washington, Belgrad und Paris, schildert Reisediplomatie, Planungen und Telefonate. Insgesamt zeichnet Joetze, dem als erstem Buchautor umfangreiche Aktenbestände des Bundeskanzleramts und des Auswärtigen Amtes zugänglich waren, ein desillusionierendes Bild dieses mühsamen diplomatischen Prozesses und macht mehr als deutlich, dass Europa von einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik noch sehr weit entfernt ist. Zur Rolle bewaffneter Streitkräfte bemerkt er kurz und bündig, die europäischen Armeen seien in jeder Hinsicht zu schlecht ausgestattet, um derartige Militäreinsätze in Zukunft ohne amerikanische Unterstützung durchzuführen.

Überhaupt scheut der Autor vor eigenen kritischen Bewertungen, auch der handelnden Personen und Institutionen, nicht zurück; er beschreibt Eifersüchteleien unter den Verbündeten ebenso wie die überaus aufwändigen und mühsamen Abstimmungsprozeduren zwischen allen Beteiligten. Ein Dokumentenanhang, ein treffend beschreibendes Glossar und eine Zeittafel schließen das Buch ab, das auch als Studie über die Mechanismen der internationalen Politik, ihre Macht und Bürokratie am Beispiel des Kosovo-Konflikts gelesen werden kann.

Einen detaillierten Einblick in die Führung der Kosovo-Operationen der NATO im Herbst 1999 und im Frühjahr 2000 vermitteln die Tagebuchaufzeichnungen des Vier-Sterne-Generals Klaus Reinhardt. Als der Kosovo-Krieg im März 1999 begann, hatte der passionierte Soldat, Musikliebhaber und promovierte Historiker bereits einen Spitzenplatz in der Militärhierarchie des westlichen Bündnisses erreicht: er war Oberbefehlshaber der Alliierten Landstreitkräfte Europa-Mitte. Von Oktober 1999 bis April 2000 war er sodann – als erster Deutscher auf einem vergleichbaren Posten überhaupt – Kommandeur der NATO-Truppen (KFOR) in Kosovo; in dieser Funktion unterstand ihm eine Truppe von 50 000 Soldaten aus 39 Nationen.

Dass es bei diesem Einsatz nicht lediglich um politische, strategische oder operative Fragen ging, sondern dass der Zusammenhalt und die Einsatzbereitschaft eines multinationalen Großverbands letztlich von zahlreichen Faktoren abhängt, machen die Aufzeichnungen des Generals anschaulich deutlich. Der KFOR-Kommandeur musste nicht nur einer offenbar chaotisch organisierten UN-Verwaltung ständig unter die Arme greifen, er musste auch albanische und serbische Lokalgrößen zur Zusammenarbeit nötigen, einen amerikanischen Präsidenten oder russische Generäle empfangen und sich um die Müllbeseitigung in Priötina kümmern.

Reinhardts Protokolle dieses Lern- und Improvisationsprozesses sind trotz ihrer Ausführlichkeit und Detailverliebtheit selten langweilig, bisweilen sind sie anrührend oder sogar dramatisch. Der mittlerweile im Ruhestand befindliche Autor scheut indes auch vor kritischen Anmerkungen nicht zurück; er nennt Mängel und Lücken beim Namen und nimmt auch Personen von seiner Kritik nicht aus. Insgesamt vermitteln diese Tagebuchaufzeichnungen ein eindringliches Bild von den unermüdlichen Anstrengungen, die es zu vollbringen gilt, um durch das Zusammenwirken von zivilen und militärischen Instrumenten zur Stabilisierung labiler politischer und gesellschaftlicher Ordnungen sowie zerrütteter Wirtschaftsstrukturen beizutragen.

An anderer Stelle hat Reinhardt dies einmal konkretisiert, wenn er sagt, dass es eine Illusion sei zu behaupten, dass ein militärischer Kommandant in einem Krisengebiet seine Funktion erfüllen könne, ohne sich auch in die Politik einzumischen. In Kosovo etwa habe er sich zu achtzig Prozent mit politischen Fragen, Politikern und politischem Dialog beschäftigt. In seinen „Nachbetrachtungen“ am Ende des Buches resümiert Reinhardt seine Erkenntnisse und Erfahrungen aus dem Kosovo-Einsatz, in dem er jedoch nicht mehr als den „Teil einer Gesamtaufgabe“ sieht: Der Einsatz von Soldaten bei Friedensmissionen müsse immer nur vorübergehenden Charakter haben und letztlich dazu dienen, den Aufbau einer tragfähigen Zivilgesellschaft zu ermöglichen.

Günter Joetze, Der letzte Krieg in Europa? Das Kosovo und die deutsche Politik, Stuttgart/München: Deutsche Verlags-Anstalt 2001, 251 S., 18,90 EUR.

Klaus Reinhardt, KFOR – Streitkräfte für den Frieden. Tagebuchaufzeichnungen als deutscher Kommandeur im Kosovo, Frankfurt am Main: Verlag der Universitätsbuchhandlung Blazek & Bergmann 2001, 605 S., 25,50 EUR.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2002, S. 56 - 58.

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