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01. Sep 2002

Lange Wege, kurzer Sinn?

Eine außenpolitische Bilanz von Rot-Grün

Nach vier Jahren rot-grüner Bundesregierung, mit Spitzenpolitikern aus der Nachkriegsgeneration, ohne internationale Regierungserfahrung, geprägt von antimilitärischen und auch antiwestlichen Strömungen lautet das Fazit des Autors: europapolitische Integrationsimpulse; aktive Beteiligung am Jugoslawien-Krisenmanagement im westlichen Verbund; Schwachpunkt vor allem die Verteidigungspolitik, besonders ihr Kernstück, die Bundeswehrreform.

In den Zuspitzungen der heißen Wahlkampfphase hat Kanzler Gerhard Schröders Formulierung vom „deutschen Weg“ die Außen- und Sicherheitspolitik ins Licht der Konkurrenz um die Regierungsmacht befördert. Von den „spin doctors“ womöglich als Chiffre ersonnen für eine Haltung, die öffentlichen Dinge auf die eigene Art zu regeln, verselbstständigte sie sich im Medienecho. Vom „deutschen Sonderweg“ war die Rede, der ja zumeist einen „dritten Weg“ zwischen West und Ost weisen sollte, auch von einer „unerträglichen Arroganz“, in der die Regierenden so tun, „als sei die Berliner Politik auf einer höheren Stufe der Rationalität und der Zivilität angelangt als die in Washington.“1 Schröders und Außenminister Joschka Fischers Politik, so legen andere Reaktionen nahe, schlage den langen Bogen zurück in die achtziger und neunziger Jahre, zurück zur Verweigerung von Militäreinsätzen und Bündnissolidarität.

Außerhalb des Getümmels zeigt sich ein anderes Bild: Tatsächlich ist die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik in Lage wie in Strategie heute weit von den Tagen entfernt, in denen nukleare Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik Deutschland stationiert werden sollten, um nukleare Mittelstreckenraketen der Sowjetunion zu balancieren. Sie ist aber auch weit entfernt von den Tagen, in denen ein amerikanischer Präsident größtes Verständnis dafür äußerte, dass sich Deutschland nicht militärisch an der Wiederherstellung der Souveränität Kuwaits beteiligen wollte.

Deutsche Außenpolitik kann heute nicht auf Dispens setzen – doch das unsichere Meinungsklima im Lande, das schon Helmut Schmidt und Helmut Kohl kennen gelernt hatten, gilt weiter. Außenpolitische Risiken bleiben unbeliebt in einem Land, das sich erst daran gewöhnen muss, Verteidigung als etwas anderes zu sehen als die Abwehr eines Angriffs auf das eigene Territorium mit Hilfe mächtiger Verbündeter. Im Wissen darüber positionieren sich die politischen Lager: Zeigt die Regierung Entschlossenheit zum Engagement, so mahnt üblicherweise die Opposition zur Besonnenheit –  zuletzt zu beobachten in der Erklärung „uneingeschränkter Solidarität“ Schröders nach den Anschlägen des 11. Septembers und der Vorbereitung auf Afghanistan. Mit der Außenpolitik, das wissen Regierung wie Opposition, werden Wahlen nicht gewonnen, sondern allenfalls verloren. Als Kombination dieser Einsichten steckt in der definitiven Absage des Kanzlers im Fall einer Militäroperation gegen Irak ohne Mandat der Vereinten Nationen nicht mehr als ein Unterlaufen der Position der Opposition. Dies wäre Wolfgang Schäubles Text gewesen, wann immer Nachrichten oder Mutmaßungen über amerikanische Pläne gegen Irak Tagesthema geworden wären.

So wenig die gegenwärtige Debatte also über den Standort der deutschen Außenpolitik seit 1998 aussagt, so viel deuten die Wallungen über den „deutschen Weg“ dagegen über die im übrigen von Kohl wie Schröder gleichermaßen verfolgte unbefangene „Normalität“ Deutschlands in der internationalen Politik an. Zum Topos des „deutschen Weges“ gehören nicht nur, wie Werner Weidenfeld gezeigt hat, die Langlebigkeit politischer Mythen und die Wiederkehr vergangener Argumentationsfiguren,2 sondern auch die Rhetorik der Warnung vor dem Sonderweg.

Langer Weg nach Westen

Die Intensität der Resonanz auf das Wort vom „deutschen Weg“ legt nahe, dass der von Heinrich August Winkler meisterhaft nachgezeichnete lange Weg der Deutschen nach Westen3 noch nicht zu Ende beschritten worden ist – über fünfzig Jahre nach Unterzeichnung der ersten europäischen Gründungsverträge, über vier Jahrzehnte nach Beitritt zur NATO, bald dreißig Jahre nach Aufnahme in die Vereinten Nationen und über ein Jahrzehnt nach Herstellung der staatlichen Einheit unter dem Dach des Grundgesetzes. In den schwierigen Entscheidungen, die der Zerfall Jugoslawiens, die Konflikte im Nahen Osten und anderenorts wie der internationale Terrorismus deutschen Regierungen seit der Einheit abverlangt haben, sind mentale Reserven unter Akteuren wie Öffentlichkeit zu Tage getreten, die auf eine historische Prägekraft außenpolitischer Wahrnehmungen und Debatten schließen lassen.

Womöglich unterscheidet die Deutschen – überlagert von den äußeren Strukturen und Mechanismen der europäischen und atlantischen Institutionen – auch heute noch eine andere Wahrnehmung ihrer Außenwelt, ein anderer strategischer Sensus von ihren großen Nachbarn im Westen. Viele Generationen lang lag das größte Risiko für die Deutschen in der europäischen Mittellage zwischen ihren Nachbarn, im Angriff auf das eigene Territorium wie in den Koalitionen unter den benachbarten europäischen Mächten. Im Fokus deutscher Außenpolitik standen dementsprechend Frankreich und Russland sowie die Risiken der Instabilität unter den kleineren europäischen Staaten, die eine Konstellationsverschiebung zulasten der deutschen Interessen zur Folge haben konnten.

Eine geradezu „klassische“ strategische Konsequenz dieser Lage war die stetige Suche nach Stabilität und Berechenbarkeit, nach Vereinbarung auch von inkompatiblen Positionen. Die Dinge in der Balance halten ist die traditionelle Meisterschaft deutscher Außenpolitik – von Otto von Bismarcks Rückversicherungspolitik bis zu Hans-Dietrich Genschers Ost-West-Politik. In diesem Licht erscheint unter den Außenministern der Bonner Republik Genscher als „typisch deutsch“: Seine Leistung bestand nicht in der Veränderung der Rolle Deutschlands, sondern in der Beruhigung seines Umfelds, von der Krise der Entspannung nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan bis zu den 2+4-Verhandlungen über die Einheit Deutschlands. „Genscherismus“ – nicht im pejorativen Wortgebrauch – war in diesem Sinne Konsequenz und Ausdruck tief abgelagerter Perzeption und Strategie deutscher Außenpolitik.

Interessen und Macht

Das Wahrnehmungsmuster des Westens, vor allem das der milieuprägenden angloamerikanischen Welt, weist demgegenüber andere Grundmerkmale auf: Balancepolitik und Gleichgewichtskalküle sind ebenfalls Teil dieser Tradition, werden jedoch anders ausgelegt. Aus einer relativ geschützten Lage heraus richtet sich ihr Interesse auf die Beeinflussung eines weiteren Umfelds, auf die Absicherung von Schlüsselregionen und Zugangswegen. Im Konzept der maritimen Großmächte, zu denen neben den Vereinigten Staaten und Großbritannien auch Frankreich sowie – in ihrer Zeit – auch Portugal, Spanien und die Niederlande gehörten, spielt die Verknüpfung diplomatischer, handelspolitischer und militärischer Interessen und Mittel eine feste Rolle.

Der strategische Fokus westlicher außenpolitischer Tradition liegt auf der Projektion von Macht, auf dem variablen Einsatz verschiedener Ressourcen an den unterschiedlichsten Schauplätzen. Dass damit auch eine andere Tradition der öffentlichen Wahrnehmung der internationalen Entwicklung einhergeht, versteht sich beinahe von selbst – so genügt ein Blick in die alten Schifffahrtsregister von Lloyds in London, um die globale Perspektive der britischen Kaufleute zu erfassen. Für ihren wirtschaftlichen Erfolg war die Kenntnis gesellschaftlicher und politischer Umwälzungen, d.h. die Abschätzung mittelbar wirksamer Risiken, so unverzichtbar wie die entschlossene Auseinandersetzung mit Rivalen und Störenfrieden entlang der Routen für den Erfolg der Politik.4

Diese zugespitzte Gegenüberstellung der Denktraditionen soll keinesfalls deterministisch ausgedeutet werden, aber doch die Bandbreite der Vorstellungswelten aufzeigen, die in der westlichen Nachkriegsallianz zusammenkamen. Für die Wahrnehmung von Außenpolitik in Deutschland wurde diese Differenz verdeckt durch das Zusammenfallen beider Wahrnehmungsmuster und Traditionen im Kalten Krieg. Seit Beginn der neunziger Jahre und den Debatten über Rolle, Zukunft und Ausrichtung des westlichen Zusammenhangs treten die Unterschiede noch sichtbarer hervor.

Für Deutschland ist der Westen institutionell zum festen Standort geworden, die strategische Perspektive des Westens jedoch ertastet die deutsche Politik seit der Einheit erst schrittweise – vielfach vor dem Hintergrund einer eher skeptischen öffentlichen Meinung und mit dem Sondergepäck des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs. Die in westlicher außenpolitischer Tradition praktisch selbstverständliche Verknüpfung politischer, wirtschaftlicher und militärischer Ressourcen war in Deutschland diskreditiert. Die drei Säulen wurden funktional getrennt:

–    Außenpolitik hatte die Aufgabe, die Bundesrepublik in den Kreis der zivilisierten Staaten zurückzuführen und diese dazu zu bewegen, die deutschen Interessen mitzudenken;

–    Handelspolitik hatte die Aufgabe, den Wohlstand der Deutschen zu mehren;

–    die Bundeswehr besaß keine andere militärische Aufgabe als die, das Gebiet der Bundesrepublik vor einem Angriff der Sowjetunion und des Warschauer Paktes schützen zu helfen – zu helfen, denn unter den Bedingungen des Kalten Krieges und der Nachkriegsordnung war dies nur im Verbund möglich und der deutsche Beitrag dazu sicherte die Bereitschaft der Verbündeten.

Im Europa nach dem Ost-West-Konflikt, nach Herstellung der Einheit und nach der vollständigen Ablösung alliierter Vorbehaltspositionen konnten die strategischen Konstanten deutscher Außenpolitik nicht dieselben bleiben – analytisch wurde die Überwindung der traditionellen Mittellage durchaus erkannt und im Expertendialog vielfach gewendet.5 Ihre operative Bedeutung blieb jedoch politisch unscharf, wattiert durch die Kontinuitätslinien des westlichen Multilateralismus. Das Vermeidungsverhalten deutscher Außenpolitik setzte sich fort:

–    im Golf-Krieg, in dem Deutschland die westlich geführte Koalition mit dem Scheckbuch unterstützte, während Israel mit Raketen angegriffen wurde und der NATO-Partner Türkei in den Konflikt einbezogen zu werden drohte;

–    im Drängen auf die Anerkennung Kroatiens in dem Glauben, das internationale Recht werde die Integrität des neuen Staates schützen;

–    im Krieg um Bosnien und den damit verbundenen ethnischen Gräueln, in dem noch galt, dass deutsche Soldaten nicht an Schauplätzen in Erscheinung treten sollten, die Hitlers Wehrmacht schon gesehen hatte.

Kontinuität als Maxime

Vor diesem Hintergrund eines unvollendeten Perspektivenwechsels tritt im Herbst 1998 eine neue Bundesregierung an – ihrerseits eine Premiere in mehrfacher Hinsicht. Sie ist die erste neu ins Amt gewählte Koalition und tritt mit Spitzenpolitikern ohne internationale Regierungserfahrung an; sie ist die erste Bundesregierung mit grünen Ministern, deren politische Heimat starke antizentralistische, antimilitärische und auch antiwestliche Strömungen aufweist. In der Abfolge politischer Generationen ist es zugleich die erste Regierung, deren Kanzler, Außenminister und Verteidigungsminister der Nachkriegsgeneration angehören. Nicht zuletzt: Schröders Koalition war die erste, die noch vor Übernahme ihrer Amtsgeschäfte mit der Aufforderung ihrer wichtigsten Partner zum Einsatz der Bundeswehr „out of area“ konfrontiert worden war, ohne dafür gewählt worden zu sein.

Nur vier Jahre später scheint diese Zeit weiter entfernt, als es die Chronologie erlaubt – eine Episode in einem langen Jahrzehnt, in dem, wie Jan Ross schreibt, die Zeit verloren wurde, die NATO keinen neuen „Daseinszweck“ fand, das Transatlantische „einfach außer Mode“ kam und der „Identitätskern der alten EWG und EG“, das deutsch-französische Tandem, zerfiel, ohne dass sich die Wiedervereinigung des Kontinents als „die zentrale Gestaltungsaufgabe“ durchgesetzt hatte.6

Die Kritik an der Trägheit der neunziger Jahre grundiert auch das Programm der rot-grünen Koalition unter dem Titel „Aufbruch und Erneuerung“7; der Wille zum Wandel streift die Außenpolitik jedoch nur am Rande. Die Grundaussage des Regierungsprogramms war Kontinuität: in der Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union, der Rolle von NATO und transatlantischer Partnerschaft wie im Verhältnis zu den Nachbarn. Veränderungsakzente setzte die Koalitionsvereinbarung neben parteipolitischen Spezifika wie den Forderungen nach Verrechtlichung und Zivilisierung der internationalen Beziehungen, aktiver Menschenrechtspolitik, restriktiver Rüstungsexportpolitik oder „zu einem ökonomischen, ökologischen und sozial gerechten Interessenausgleich der Weltregionen“ im Wesentlichen auf drei Punkte:

1.   im Drängen auf eine Politikreform der Europäischen Union, vor allem in den Bereichen der Agrar- und der Strukturpolitik;

2.   in der Ankündigung einer umfassenden Reform von Auftrag, Umfang, Wehrform, Ausbildung und Ausrüstung der Streitkräfte sowie

3.   in der Forderung eines ständigen deutschen Sitzes im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, „wenn die Reform des Sicherheitsrates unter dem Gesichtspunkt größerer regionaler Ausgewogenheit abgeschlossen ist und bis dahin der grundsätzlich bevorzugte europäische Sitz im Sicherheitsrat nicht erreicht werden kann.“8

Zum Gesicht der Kontinuitätsmaxime wurde praktisch mit dem ersten Tag der neuen Regierung ihr Außenminister Joschka Fischer, von Stund an dreiteilig perfekt, sich selbst und sein Haus voll engagierend, gewandt im Umgang mit den Mächtigen wie den Meinungsmachern und mit jedem Zug seines Mienenspiels den Ernst der Lage wie die Ernsthaftigkeit seiner Politik widerspiegelnd. Die Metamorphose vom Rebellen zum Staatsmann sicherte ihm international Aufmerksamkeit und brachte ihm positive Noten ein selbst für Dinge, die bei „bürgerlichen“ Politikern keiner Erwähnung wert gewesen wären. Nachhaltig wurde seine Bedeutung in der Außenvertretung Deutschlands allerdings erst, als die über Jahre entwickelte Substanz seiner europapolitischen Vorstellungen9 oder die ganz und gar nicht taktisch motivierte aktive Beteiligung an der Regelung des Jugoslawien-Konflikts erkennbar wurde.

Beides hat für Fischer mit den Lektionen deutscher Geschichte zu tun: mit der EU einen Rahmen für die Nationalstaaten zu schaffen, der den Nationalismus ausschließt, und mit dem Einsatz aller Mittel jedem Versuch des Genozids und des Massenmords entgegen zu treten, durch den das nationalsozialistische Deutschland schuldig geworden war. In der Europa-Politik, vor allem aber in der Sicherheitspolitik war Fischer Vielen in seiner Partei und seiner Basis weit voraus, aber auch Manchem in den Reihen seines Koalitionspartners, für die die Vertiefung europäischer Integration zuallererst ein Projekt Helmut Kohls darstellte und die Krisenreaktion unter der Führung der Vereinigten Staaten unter ständigem Hegemonialverdacht stand.

Schwachpunkte

Soviel Anfang und Aufgabe – dagegen wirkt die Bilanz der zurückliegenden vier Jahre eher gemischt. Die stärkste Nachwirkung zeigt das insgesamt erfolgreiche Management der Doppelherausforderung von Jugoslawien-Krieg und EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 1999, nicht zuletzt deshalb, weil die Koalition entgegen mancherlei Befürchtungen außenpolitisch Geschlossenheit, Richtung und Handlungsfähigkeit bewies, während ihr innenpolitisches Profil im gleichen Zeitraum deutliche Schwächen zeigte. Im Erfolg erwies sich zugleich auch die Begrenztheit des außenpolitischen Handlungsspielraums der deutschen Politik: In der Kontaktgruppe zum Jugoslawien-Konflikt wirkte Deutschland zwar in der ersten Reihe des Krisenmanagements mit, doch an den Schlüsselentscheidungen zum Militäreinsatz war Berlin noch weniger beteiligt als Großbritannien und Frankreich und musste in der Folge mangels eigener Gestaltungsmacht mit ansehen, dass die beiden anderen EU-Mächte aus ihrer Marginalisierung eher nationale Schlussfolgerungen zogen, als etwa über eine kraftvolle Weiterführung ihrer St.-Malo-Initiative auf eine konsequente Europäisierung der Verteidigungsressourcen hinzuarbeiten.

Die Kosovo-Erfahrung reichte zwar für die Verabschiedung der Leitziele zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), doch deren Erfüllung folgte eher dem NATO-Prinzip freiwilliger nationaler Beiträge als der Integrationsmechanik des EU-Prozesses. Ein Integrationsimpuls, von dem sich die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik nur zu gern hätte mitziehen lassen, blieb aus – von Frankreich und Großbritannien nicht gewünscht und von Deutschland aus Mangel an kritischer Masse nicht erfolgversprechend zu initiieren.

Verteidigungspolitik

Als wesentliche Schwachpunkte dabei erwiesen sich die Verteidigungspolitik und ihr Kernstück, die Reform der Bundeswehr. Unter ungünstigen Ausgangsbedingungen – der nach 1990 für eine Reform verlorenen Zeit und die vor allem in der Verteidigungspolitik wirksamen strategischen Denktraditionen – hätte wohl nur ein kühner Entwurf mit starken Schnitten die Korsettstangen der Innen- und Haushaltspolitik sowie der zahlreichen kleineren und größeren Besitzstände, die sich um Bundeswehrstandorte und Beschaffungsprogramme ranken, durchbrechen können. Das Zeitfenster dazu war knapp: Nach dem Ende des Luftkriegs gegen Jugoslawien und den ersten Erfahrungen mit der Friedenstruppe für Kosovo stand das öffentliche Ansehen der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf einem Höhepunkt. Verteidigungsminister Rudolf Scharpings Entscheidung für einen mittleren Weg zwischen den Vorschlägen der Weizsäcker-Kommission10 und denen der militärischen Führung wirkte nicht inspirierend, sondern halbherzig.

In der Folge verlief sich das Thema unter den Zwängen der Haushaltslage und den Schwierigkeiten, trotz zahlreicher Innovationen in den Bereichen Unterhalt und Beschaffung zusätzliche Mittel in dem erforderlichen Umfang zu mobilisieren. Den Rest besorgte mangelnde Fortune des Ministers, so dass schließlich selbst europapolitisch hoch interessante Projekte wie die Konzeption eines europäischen Lufttransportkommandos und eine Servicerolle der Bundeswehr darin für kleinere Partnerstaaten im Gestrüpp der Beschaffungsdebatte um das Transportflugzeug A400M untergingen.

Das Grundproblem ineffizient ausgerüsteter und strategisch derzeit weitgehend unbrauchbarer Territorialstreitkräfte – zu groß und auf zu viele Standorte verteilt, umgeben von befreundeten und verbündeten Nachbarn mit dem gleichen Grundproblem, von denen die meisten aus struktur- und regionalpolitischen Gründen wie Deutschland ein enormes Maß an Duplizierung in Ausstattung und Ausrüstung betreiben – wäre auch unter günstigeren Umständen allenfalls europäisch lösbar gewesen. Den Anstoß dazu hätte Deutschland wohl nur mit einer einschneidenden Reform und mit konkreten Integrationsangeboten an ausgewählte europäische Partner geben können.

Fehlende Partner

Die Liste der ungenutzten Möglichkeiten verweist auf ein Kerndefizit in der Bilanz rot-grüner Außenpolitik: das Fehlen strategischer Partnerschaften und Gestaltungskoalitionen. Mit keinem der wesentlichen Partner kam eine belastbare strategische Allianz zustande. Ein Indiz dafür sind die schwachen personalen Achsen, die vor allem der Kanzler – und hier kommt es in der Tat auf den Kanzler an – in den letzten vier Jahren entwickelt hat. Mit dem französischen Staatspräsidenten, Jacques Chirac, verband Schröder spätestens seit dem Affront aus Paris bei der Agenda 2000, der die Reformpläne von Rot-Grün in der europäischen Agrarpolitik rasch begrub, wenig Positives. Das französische Lavieren auf der Regierungskonferenz von Nizza zerstörte den Rest zwischenmenschlicher Chemie. Weder gemeinsame Fingerübungen der außenpolitischen Planungsstäbe noch die zur Beruhigung der Kritik inszenierten höheren Traktate deutsch-französischer Begegnungen haben diese Störung beseitigen können. Die Maxime Kohls, französischen Empfindlichkeiten fast immer Priorität einzuräumen, mag sich im Vergleich als die erfolgreichere erwiesen haben, doch passte sie weder zum Regierungsstil Schröders noch zu den eigentlichen Verhältnissen der europäischen Politik.

In der Anfangsphase rot-grüner Außenpolitik schien es, als könne mit der Intensivierung des Verhältnisses zu Großbritannien ein Hebel zur Überwindung der konventionellen Mechanik kontinentaler Europa-Politik gewonnen werden. Immerhin war die deutsche Europa-Politik selbst britischer geworden, das heißt pragmatischer und von weniger Pathos begleitet.11 Die politischen Farben harmonierten, das persönliche Verhältnis zu Tony Blair schien zu stimmen und die frühere Reserve der britischen Europa-Politik schien endgültig vergangen. Doch weder in der Frage der Politikreform, die Großbritanniens Beitragsrabatt ebenfalls zum Thema gemacht hätte, noch in der institutionellen Weiterentwicklung der EU, über die auf der Insel weniger konstitutionell und integrationistisch gedacht wird als in Deutschland, noch über die Sicherheits- und Verteidigungspolitik ergab sich die Gelegenheit zu einem Projekt, mit dem beide Staaten die Europa-Politik prägen konnten. Die mit dem Gipfel von Lissabon angeschobene offene Koordinierung blieb die einzige Frucht deutsch-britischer Harmonie – das ihr zugrunde liegende Benchmarking-Konzept öffentlicher Leistungen stammt aus dem heute praktisch vergessenen Schröder-Blair-Papier von 1999.12

Andere personale Achsen blieben Episode – wie die anfängliche Verständigung mit Spaniens Ministerpräsident, José Maria Aznar – oder kamen, wie die Verbindung zum amerikanischen Präsidenten, Bill Clinton, zu spät, um Wirkung zu entfalten. Dagegen hat die Pflege der Kontakte zum russischen Präsidenten, Wladimir Putin, positive Wirkungen entfaltet, andererseits aber auch zu der eher diffusen Haltung der deutschen Politik gegenüber der zweiten NATO-Erweiterung beigetragen. Immerhin ist Russlands Verhältnis zum Westen heute besser als je seit dem Zerfall der Sowjetunion – sicherlich auch ein Ergebnis besonderer deutscher Bemühungen.

Was bleibt?

Welche Spuren haben die letzten vier Jahre deutscher Außenpolitik im internationalen Kontext wie in der außenpolitischen Kultur Deutschlands hinterlassen? Was fehlte ohne Rot-Grün?

An den großen Zäsuren der internationalen Politik hatte die deutsche Außenpolitik ihren mitgestaltenden Anteil – dies gilt für Kosovo wie für Mazedonien, aber auch für die Folgen des 11. Septembers. Sie zu prägen, liegt jenseits der Dispositionsmasse von Bundesregierungen, wie auch der deutsche Versuch eines europäischen Einwirkens in der Eskalation des Nahost-Konflikts oder Fischers Ansätze einer deutsch-europäischen Iran-Politik belegen. Deutsche Außenpolitik hat jedoch im westlichen Verbund gehandelt, ohne Sonderwege oder Trittbrettpositionen.

Über 10 000 Soldaten der Bundeswehr sind derzeit im internationalen Einsatz. Dies nach innen zu vermitteln und die eigene Anhänger- wie Wählerschaft in die neue strategische Perspektive deutscher Außen- und Sicherheitspolitik einzubinden, macht die wohl wichtigste außenpolitische Leistung des Tandems Schröder/Fischer aus. Die außenpolitische Kultur des Landes wäre nicht auf dem heutigen Stand, wenn nicht SPD und Grüne ebenfalls in der Verantwortung für Entscheidungen jenseits des alten Status quo der Teilung Europas gestanden hätten – eine erneute Polarisierung entlang der Linien der achtziger Jahre hätte die Aktualisierung des außenpolitischen Denkens aufhalten können. Hinter diese Sozialisationserfahrungen wird keine Regierungskoalition nach den Wahlen am 22. September zurückfallen wollen.

Rot-Grün hat erfahren müssen, dass auch selbstbewusste Normalität Deutschland noch keinen besonderen Handlungsspielraum eröffnet, vor allem dann nicht, wenn traditionelle Partner selbst weiter traditionell denken. Auch über zehn Jahre nach dem Abschied von der alten Ordnung zählt in Europa die „Verhinderungsmacht“ zu den Konstanten – zu Lasten der Gestaltungsfähigkeit. So ernüchternd die Einsicht in die Beharrungskräfte der europäischen Politik auch sein mag: Rot-Grün hat die Struktur- und Prozessprobleme der Integration nicht lösen können, aber die Koalition hat den Zug der Europa-Politik beharrlich angeschoben, zwar in die Richtung, in die er ohnehin zu rollen schien, aber immerhin auch gegen Widerstände. Mit ihrem Einsatz für die Grundrechtecharta und den Konvent, für die Erweiterung und für eine Stärkung der Handlungsfähigkeit hat rot-grüne Europa-Politik den Kurs deutscher Integrationspolitik gehalten. Mehr noch: mit der Rede Joschka Fischers vor der Humboldt-Universität13 und mit dem Leitantrag der SPD zu ihrem Nürnberger Parteitag14 hat sie in Deutschland die Rückbesinnung auf ein Leitbild für den Einigungsprozess eingeleitet – eine Position, die seit dem Verblassen des Zielbilds vom europäischen Bundesstaat vakant war.

Es ist die Föderation der Nationalstaaten, in deren Beschreibung sich Elemente älterer und neuerer deutscher Überlegungen zu Europa verbinden. Aus dem Altbestand wurden übernommen: das Modell der zwei Gesetzgebungskammern, die Vorstellung der Kommission als Regierung mitsamt den Überlegungen zur Stärkung ihrer Legitimation sowie die Vorstellung von einer Verfassung für Europa. Neu dagegen sind die Betonung der Rolle der Staaten, deren Bestands- und Bedeutungsgarantie über eine klare Kompetenzabgrenzung sowie die Suche nach einer Aufgabe für die nationalen Legitimationsinstanzen.

Die letzten vier Jahre haben Deutschland auf dem langen Weg nach Westen ein Stück vorangebracht, in dem sie die mentale Lücke zwischen institutioneller Bindung und außenpolitischer Wahrnehmung weiter verringert haben. Die Herausforderungen wie die Entscheidungen dieser Jahre haben jedoch bereits die nächste Erfahrung vorgezeichnet: die Auflösung der alten Handlungsstränge im endgültigen Hineinwachsen der Innenpolitik in die Europa-Politik zulasten der Außenpolitik, im Zusammenwachsen von Außenpolitik und Verteidigungspolitik sowie in der Verwebung von äußerer und innerer Sicherheit.

Anmerkungen

1  Klaus Dieter Frankenberger, Deutscher Irrweg, in: Frankfurt Allgemeine Sonntagszeitung, 11.8.2002, S. 6.

2 Vgl. Werner Weidenfeld, Der deutsche Weg, Berlin 1990.

3 Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, 2 Bde., München 2000.

4  Diese Perspektive mag auch die außerordentlich starke Reaktion auf invasionsäquivalente Ereignisse erklären – das Auftauchen der spanischen Armada vor den britischen Inseln, der Luftkrieg und die Raketenangriffe auf Großbritannien im Zweiten Weltkrieg oder die Anschläge des 11. Septembers in New York und Washington.

5  Siehe u.a. dazu den ersten Band der vierbändigen Reihe: Karl Kaiser u. Hanns W. Maull (Hrsg.), Deutschlands neue Außenpolitik, Band 1: Grundlagen, München 1994; ferner das wortgewaltige Plädoyer für den Wandel von Hans-Peter Schwarz, Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 1994. Zum Zwischenstand der Debatte vor dem Regierungswechsel vgl. Janning, A German Europe – a European Germany? On the debate over Germany’s foreign policy, in: International Affairs, Nr. 1/1996, S. 33–41.

6  Jan Ross, Die verlorene Zeit. Ein kurzer Rückblick auf die langen neunziger Jahre, in: Merkur, Nr. 7/2002, S. 555–565, hier S. 562.

7  Aufbruch und Erneuerung – Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert. Koalitionsvereinbarung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und Bündnis 90/Die Grünen, Bonn, 20.10.1998; auszugsweise abgedruckt in:Internationale Politik (IP), 12/1998, S. 67 ff.

8  Ebd., S. 75.

9  Vgl. das noch immer lesenswerte Europa-Plädoyer von Fischer in seinem Buch: Risiko Deutschland, Köln 1994.

10 Auszugsweise abgedruckt in:IP, 10/2000, S. 93 ff.

11 Siehe dazu Janning, Bundesrepublik Deutschland, in: Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels (Hrsg.), Jahrbuch der europäischen Integration 1997/98, Bonn 1998, S. 311–318.

12 Das Manifest von Drittem Weg und Neuer Mitte trägt den Titel „Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten. Ein Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony Blair“; auszugsweise abgedruckt in:IP, 8/1999, S. 86 ff.

13 Vgl. den leicht gekürzten Abdruck in:IP, 8/2000, S. 100 ff.

14 Auszugsweise abgedruckt in:IP, 9/2001, S. 102 ff.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2002, S. 9 - 18.

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