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01. Dez. 2002

Am mächtigsten allein?

Plädoyer für eine sanfte Hegemonie Amerikas

Wie niemals zuvor in der jüngsten Geschichte scheint die amerikanische Regierung von dem Gedanken beseelt, auf sich allein gestellt zu sein; keine Regierung vor ihr hat derart konsequent das Primat der Entscheidungs- und Handlungsfreiheit für sich in Anspruch genommen. Josef Janning stellt zwei Bücher vor, die sich mit der Paradoxie amerikanischer Macht kritisch auseinander setzen.

Amerikas Außenpolitik gibt derzeit wenig Rätsel auf: George W. Bush und sein Kernteam im Weißen Haus, im Amt des Vizepräsidenten und im Pentagon haben den Ankerpunkt der Präsidentschaft Bushs im Krieg gegen den Terror gefunden. Amerika führt diesen Krieg entschlossen und, falls nötig, allein, wenn im Verbund, dann nur unter eindeutiger amerikanischer Führung. Vieles, vielleicht sogar alles Wesentliche leitet sich daraus ab –  das Verhältnis zur NATO und die Stellung der Verbündeten, die eher instrumentelle Betrachtung der Vereinten Nationen, die Behauptung einer moralischen Legitimation Amerikas jenseits der Normen des Völkerrechts wie die Bush-Doktrin präventiver Militärschläge.

Das Gefühl der USA, auf sich allein gestellt zu sein, ist im Bewusstsein ihrer Führung wohl zu keiner Zeit in der jüngeren Geschichte so intensiv gewesen wie heute, und keine amerikanische Regierung hat derart konsequent das Primat der Entscheidungs- und Handlungsfreiheit für sich in Anspruch genommen wie die gegenwärtige. Dabei scheint die amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik durchaus nicht auf den  Kampf gegen den international agierenden Terrorismus verengt. Die Strategie Bushs kennzeichnen vielmehr weltpolitische Ambitionen: Die Auseinandersetzung mit der „Achse des Bösen“ scheint einer neuen Dominotheorie zu folgen, nach der die gezielte Beseitigung eines aggressiven Regimes positive Wirkungen auf das regionale Umfeld auslöst und so die Voraussetzung für die Stabilisierung kritischer Regionen im westlichen Sinne schafft. Fraglich ist indes, ob nach dem scheinbaren Erfolg dieser Strategie in Afghanistan vergleichbare Resultate auch in Bezug auf Irak erzielt werden können, mehr noch: ob die Instrumentalisierung amerikanischer „hard power“ nicht zur Hybris führen müsse.

Dieser Frage widmet sich das jüngste Buch des an der Kennedy School der Harvard University lehrenden Joseph S. Nye. Auch er hält die USA für „bound to lead“ – so der Titel seiner 1990 erschienenen Analyse der Weltlage nach dem Ost-West-Konflikt. Die Paradoxie amerikanischer Macht liege jedoch darin, dass ihre Bedeutung im Moment größter Fülle bereits im Schwinden begriffen sei und es deshalb einer neuen Kombination von harter und weicher Macht bedürfe, um die Interessen und Ziele Amerikas in der Welt zu sichern. Damit gehört Nye zu den prominenten Kritikern der Regierungspolitik in der laufenden Grundsatzdebatte in den USA. Er  argumentiert jedoch weder idealistisch oder prinzipiell multilateralistisch noch mit dem eher strukturalistisch geprägten Ansatz seiner großen, 1977 mit Robert Keohane publizierten Verflechtungsanalyse „Power and Interdependence“.  Nyes Dissens ist heute realpolitisch fundiert, und sein Plädoyer für eine aktive Nutzung amerikanischer „soft power“ lässt einen im Kern pragmatisch begründeten Multilateralismus erkennen. Als stellvertretender Verteidigungsminister in der Regierung von Bill Clinton mit den Potenzialen amerikanischer Machtprojektion bestens vertraut, will Nye mit seinem jüngsten Buch zum weisen Umgang mit der Macht anleiten.

Er begründet sein Plädoyer in fünf Schritten. Den Ausgangspunkt bildet ein Abriss amerikanischer Macht in den Konstellationen der Weltpolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Weder harte noch weiche Machtressourcen Amerikas bleiben demnach von den Prozessen der Globalisierung und der Digitalisierung verschont. Nye diagnostiziert eine Tendenz der „Privatisierung“ ehemals staatlicher Ressourcen – durch Nichtregierungsorganisationen im zivilen wie militärischen Bereich. Eine sanfte Hegemonie Amerikas hält er für tendenziell stabiler und friedlicher als eher traditionelle Konzepte einer „Balance of Power“. Nur sollte der Hegemon multilateral denken. Im zweiten Schritt befasst sich Nye mit den Folgen der Informationstechnologie, die einerseits Unterschiede im Machtgefälle nivelliert, andererseits aber auch die Stärke Amerikas durch seinen technologischen Vorsprung stützen kann, wiederum in beiden Bereichen harter und weicher Macht, vor allem in ihrer integrierten Anwendung als „system of systems“, zu deren Beherrschung derzeit nur die USA in der Lage seien. Information wirke dezentralisierend und ergänze die klassischen Raumhierarchien durch funktional geknüpfte Netzwerke. Über Macht verfügen, laut Nye, in diesem Umfeld vor allem diejenigen Staaten, deren Werte und Kultur denen der entstehenden globalen Normen entsprechen, die den besten Zugang zu möglichst vielen Informationskanälen besitzen und damit die Wahrnehmungsmuster prägen könnten, sowie solche, die über die Qualität ihres politischen Handelns nach innen und außen die höchste Glaubwürdigkeit besitzen.

Das dritte Kapitel ergänzt die Analyse um die Wirkungen der Globalisierung. Auch hier sieht Nye die Vereinigten Staaten in einer besonderen Position, da sie in allen Dimensionen der Globalisierung eine führende Position einnähmen und durch ihre „synkretische Kultur“ offener als andere OECD-Gesellschaften seien. Die gleichen Faktoren könnten jedoch auch zu einer Verwässerung amerikanischer Vormacht beitragen, wenn die Politik es nicht verstehe, den Bedarf an globalen Regelungen (governance) durch die Nutzung der eigenen „soft power“ und multilaterale Aktionsstrategien zu befriedigen. Dazu werde es künftig wichtiger, die „Home Front“ amerikanischer Außenpolitik zu pflegen (Kapitel 4). Im fünften Kapitel schließlich entwickelt Nye auf dieser Grundlage eine Bestimmung nationaler Interessendefinitionen, die den multilateralen Kontext fest im Rahmen amerikanischer Interessen und Ziele verankern soll. Amerikas militärische Macht, die wichtige Größe der Interessensicherung bleibe, dürfe dabei die „soft power“ nicht unterlaufen. Mehr als andere könnten die USA von einer aktiven Gestaltung der „global governance“ profitieren – sowohl als Nutznießer als auch über ihre Position als Definitionsmacht. Drei Kernbereiche sollten die Interessendefinition ausmachen: die Wahrung amerikanischer Lebensinteressen, die Entwicklung von „global public goods“ sowie die Beförderung von Demokratie und Menschenrechten. Für jeden der Bereiche entwickelt Nye Checklisten, die eine vernünftige Ziel-/Mittel-Relation sichern und eine Überdehnung der eigenen Ressourcen verhindern sollen.

Eine im Ergebnis ähnliche Grundmelodie kennzeichnet das Buch des früheren britischen Diplomaten Fraser Cameron. Sein Anliegen ist die kompakte, in elf Kapitel gegliederte Analyse amerikanischer Weltpolitik, ihrer Akteure, Institutionen und Entscheidungsprozesse. Reiche eigene Anschauung bringt der Autor, derzeit Director of Studies am Brüsseler European Policy Centre, aus Stationen im britischen Außenministerium, in der außenpolitischen Generaldirektion der Europäischen Kommission sowie zuletzt an der EU-Vertretung in Washington mit. Sie schlagen sich in anschaulich und knapp gefassten Fallstudien nieder, die die Gesamtdarstellung ergänzen sollen. Beide Bücher sind auch für die Nutzung an der Hochschule bestimmt – Nye wohl eher für die Reflexion harvardscher „graduate seminars“, Cameron dagegen für die Vermittlung grundlegender Kenntnisse, allerdings konzentriert auf die amerikanische Außenpolitik des letzten Jahrzehnts – für viele der studentischen Leser selbst schon Geschichte.

Camerons gekonnte und leicht fassliche Darstellung zeigt deutlich den Politikwechsel von Clinton zu Bush und macht den Einfluss prägender Ereignisse wie die des 11. September 2001 auf die Grundströmung und die Agenda amerikanischer Politik sichtbar. Der Autor verhehlt nicht sein Interesse an einer Intensivierung transatlantischer Beziehungen auf der Grundlage einer amerikanisch-europäischen Partnerschaft. In diesem Sinne liest sich das Buch auch als Kritik an europäischer Zögerlichkeit und Uneinigkeit. Amerikas Macht, warnt Cameron, werde zu einem Risiko, wenn das Land nicht der Maxime aus dem Wahlkampf George W. Bushs folge, „humble and strong“ zu sein: „Contrary to what Condoleezza Rice stated in 2000, there is no contradiction between promoting the national interest and a commitment to the interests of a far-from-illusionary international community“. (S. 198).

Weder Nyes noch Camerons Buch hätten in ihrer Ausrichtung eine große Chance, für die Weihnachtsfeiertage auf die Leseliste des Weißen Hauses  oder des Pentagon gesetzt zu werden, doch viele ihrer Schlussfolgerungen dürften den gegenwärtigen Pendelschwung amerikanischer Weltpolitik überdauern und könnten uns wieder begegnen – selbst in einer zweiten Amtszeit von George W. Bush.

Joseph S. Nye Jr., The paradox of American power. Why the world’s only superpower can’t go it alone, New York: Oxford University Press 2002, 222 S., 26,00 $.

Fraser Cameron, US foreign policy after the Cold War. Global hegemon or reluctant sheriff?, London: Routledge 2002, 221 S., 16,99 £.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 12, Dezember 2002, S. 57 - 59.

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