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01. Nov. 2006

Laboratorien des Postnationalismus

Der multiethnische Kosmopolitismus der Megastädte ist wegweisend für die Menschheit

Megastädte sind mehr als gigantische Verdichtungsräume: Sie spielen eine äußerst komplexe Rolle in der vernetzten Welt der Globalisierung. Diese hochspezialisierten Wirtschaftszentren beziehen ihre Vitalität, ihre Innovationskraft und ihre intellektuelle Potenz aus ihrer Heterogenität – im Gegensatz zu Nationalstaaten. Städte sind älter, aber „moderner“.

Es ist üblich geworden zu behaupten, dass die großen Weltstädte, die zu den Knotenpunkten in der Globalisierungskette herangewachsen sind, mehr miteinander gemeinsam hätten als mit dem Nationalstaat, in dem sie sich zufällig befinden. Oder sogar mit den anderen kleineren Städten, mit denen sie sich die Nation teilen.

Diese Entwicklung wird als eine verstanden, die diese Städte weit über die traditionelle Dichotomie im nationalen Kontext – zwischen benachteiligten provinziellen Rändern und privilegiertem weltstädtischen Zentrum – hinauskatapultiert hat. Dieses alte Muster hat immer die Subventionspolitik befördert; sie hat Kleinstadtpolitiker in die Lage versetzt, für eine angeblich gerechtere Verteilung der Staatsbeihilfen zu plädieren, die eine Zentralregierung zur Förderung von Arbeitsplätzen und bei infrastrukturellen Investitionen wie der Standortwahl von Flughäfen anzubieten hat.

Aber das ist eine Strategie, die mittlerweile als Schädigung der eigenen Interessen angesehen werden könnte. Falls nämlich zum Beispiel London seine Anziehungskraft als Finanzumschlagplatz für einen koreanischen Chaebol oder eine russische Ölfirma verliert, werden nicht Manchester, Edinburgh oder Birmingham einspringen, um diese Rolle zu übernehmen – es werden Frankfurt, Tokio oder New York sein. Wenn man also Investitionen für eine neue Landebahn von Heathrow nach Manchester umleitete, wäre der Nutznießer in diesem Fall der deutsche, nicht der britische Steuerzahler. Die Stellung von Paris in der Modewelt wird ihm nicht von Lyon oder Marseille streitig gemacht – es sind Mailand und Tokio, mit denen es konkurrieren muss. Deshalb sollten Investitionen, anstatt sie gleichmäßig zu verteilen, dort konzentriert werden, wo sie den größten Nutzen bringen. Es sind die Weltstädte, die in unverhältnismäßig hohem Umfang für die Erfolge der nationalen Volkswirtschaften verantwortlich sind; damit haben sie auch eine unverhältnismäßig größere Bedeutung. Gleichzeitig separiert ihre soziale Zusammensetzung sie immer mehr vom Rest der Nation. Londons Bevölkerungswachstum im letzten Jahrzehnt zum Beispiel ist hauptsächlich von Menschen verursacht worden, die gar nicht in Großbritannien geboren sind. Es ist dieses neue Wachstum, das Jahrzehnte des Verfalls umgedreht hat, es ist das Erfolgsmodell der Stadtstaaten Singapur und Hongkong, wahrscheinlich sogar auch der erst kürzlich entstandenen Stadtstaaten am Persischen Golf, welches eine städtische Renaissance auf Kosten des Nationalstaats denkbar erscheinen lässt.

Man kann das entweder als neues Phänomen oder schlicht als neue Version einer alten Tendenz verstehen, genauso wie man den ganzen Antiglobalisierungsdiskurs mit seiner seltsam irrationalen Abneigung gegen vollkommen unschuldige Firmen wie Starbucks – das letzten Endes doch nur Kaffee und nicht Napalm verkauft – als eine zeitgenössische Variante jener fremdenfeindlichen Themen ansehen kann, die bäuerliche Landgemeinden jahrhundertelang misstrauisch gegenüber den Großstädten gemacht haben. Neu ist die Art und Weise, in der mehr und mehr Systeme immer stärker zentralisiert werden, obwohl wir doch annehmen, dass die Welt immer vernetzter, diffuser und dezentralisierter würde. Die Unterhaltungsbranche wird in außerordentlichem Maße von Los Angeles beherrscht. Das Finanzwesen ist in drei Städten konzentriert, in denen noch traditionelle Standortwirtschaft betrieben wird – trotz aller Prophezeiungen jener, die glauben, die Stadt würde gegenüber sehr viel diffuseren Siedlungsformen ins Hintertreffen geraten. Und die Form der Stadt kann man immer noch an den Bautypologien ablesen, die von ihren dominanten Gruppen verlangt werden – für die Anwälte sind das vor allem Hochhäuser mit einer maximalen Zahl von Eckbüros, während die Bankiers Gebäude mit weitläufigen Sitzungssälen vorziehen.

Die Stadt ist eindeutig eine viel ältere Schöpfung als der Nationalstaat, mit dem sie zunehmend im Wettbewerb um Prestige und Autorität steht. Selbst über die alten imperialen Systeme reden wir als „Rom“ oder „Byzanz“: Städte, die versuchten, sich als koloniale Franchise-Unternehmen darzustellen, so wie Venedig das tat, und die nicht auf den Schutz der generellen nationalen Identität bedacht waren. Eine Stadt ist vielleicht eher ein sich selbst organisierendes System als eine bewusste künstliche Schöpfung, im Gegensatz zum Nationalstaat, der das Produkt eines bestimmten historischen Moments ist, und von dem sich durchaus zeigen könnte, dass er nur vorübergehend wichtig ist.

Eine Stadt ohne einen nationalen Kontext muss von ihrem Esprit und ihrer Energie leben. Sie muss eine Maschine zur unablässigen Verwandlung von Ideen und Fähigkeiten werden, die sie zum Überleben und Prosperieren braucht. Und im Laufe der Zeit muss sie sich fortwährend adaptieren und neue Wege des Überlebens finden, indem sie von einer Technologie zur nächsten wechselt. Autoritäre Mächte misstrauen Städten: Sie sind unübersichtlich, komplex und schwer zu kontrollieren. Schlimmer ist, dass sie mit ihrer kosmopolitischen Verve und ihrem mangelnden Interesse an Chauvinismus die Essenz der Nation geradezu abzulehnen scheinen. Nationalstaaten streben nach Homogenität, denn das ist letztlich ihr Organisationsprinzip. Die erfolgreichsten Städte dagegen sind normalerweise jene, die am heterogensten und am kosmopolitischsten sind.

Interessant ist in dieser Hinsicht, dass die vergleichsweise große ethnische Uniformität Tokios ihre Verwandlung in eine echte Weltstadt verzögert hat. Trotz ihrer Neigung, alle möglichen exotisch erscheinenden Dinge enthusiastisch aufzugreifen, bleibt die Stadt in ihrer Substanz japanisch.

Die Kehrseite dieses Phänomens ist das Misstrauen, mit dem bestimmte Städte von ihrem Umland betrachtet werden. New York wird vom Rest der Vereinigten Staaten – vielleicht mit Ausnahme zweier Städte in Kalifornien, deren Ruf als zeitgenössische Sodoms dem von New York ähneln – mit Verachtung gestraft. Sogar im freundlicheren Kontext Großbritanniens nehmen die Unterschiede zwischen der Hauptstadt, welche die einzige wirkliche Weltstadt in Europa ist, und dem Rest des Landes kontinuierlich zu. Londoner mögen einen britischen Pass haben, mehr oder weniger die gleiche Sprache wie ihre Landsleute sprechen und das gleiche Rechtssystem benutzen. Dennoch unterscheidet London sich vom Rest des Landes. Britische Finanz- und Kreativkräfte sind derart ausschließlich in der Stadt konzentriert, dass der Rest des Landes sich damit unwohl fühlt und „fremdelt“. Offensichtlich muss eine erfolgreiche Stadt eine Strategie finden, mit diesem Gefühl der Entfremdung so umzugehen, dass die Reibungsflächen möglichst klein bleiben.

Viele Städte sind in der Tat das Produkt eines Staatsgründungs-Impulses, der von den Anfängen Berlins als einer bewussten Deklaration preußischer Eigenständigkeit, mit der es seine Überlegenheit über andere deutsche Städte zementieren wollte, bis hin zur Etablierung Washingtons oder Canberras als selbstbewussten neuen Hauptstädten reicht. Doch haben viele andere Städte einen noch älteren Ursprung. Die Entstehung Londons zum Beispiel geht zurück in die römische Zeit vor 2000 Jahren; damit ist die Stadt um mehrere Jahrhunderte älter als alles, was das heutige Vereinigte Königreich ausmacht. Es gibt Straßen in London, die mehr oder weniger kontinuierlich seit 2000 Jahren benutzt werden. Die Wood Street zum Beispiel, in der sich nun von Richard Rogers und Norman Foster entworfene Bürogebäude aneinander reihen, war einst die wichtigste Nord-Süd-Route von der römischen Stadt zum Paradeplatz der Festung gleich außerhalb der Stadtmauer. Und wo einst der Bau eines Mithras-Tempels stand, befanden sich später eine christliche, an den sächsischen Königspalast angebaute Kapelle und heute das berühmte Steingebäude einer neogotischen Kirche.

Die interessante Frage, die sich hier auftut, ist: Handelt es sich noch um die gleiche Stadt, obwohl die darin gesprochene Sprache und die Lebensweise seiner Einwohner sich so verändert haben? Oder definiert sich die Stadt bei jeder Inkarnation neu? Man kann eine Stadt durchaus als eine Art Maschine betrachten, die gemietet oder ausgeliehen werden kann und ihren zeitweiligen Besitzern die Chance ökonomischen Wachstums anbietet. Um dergestalt zu funktionieren, muss sie in ihrer Vergangenheit, ihren Traditionen, ihren Erfahrungsschichten etwas vorweisen, was sich dazu benutzen lässt, eine Art städtischen Gencode zu kreieren. Es gibt Wege, Sachen zu tun, die sich nicht ändern: Paris ist immer noch eine Stadt, die sich durch monumentale Plätze und eine unnachgiebige Bauplanung auszeichnet. London oder New York haben ebenso ihre ganz eigenen städtischen Charakteristika, welche jede ihrer jeweils neuen Inkarnationen untermauern. Sicherlich ist die Stadt trotz ihres Alters in vielerlei Hinsicht ein viel moderneres Gebilde als der Nationalstaat. Als hochkonzentrierte menschliche Organisationsform, die die Klügsten und die besten Talente anzieht und ihnen die Chance gibt, das Beste aus sich herauszuholen, macht sie offensichtlich Sinn. Wenn sie einigermaßen gut mit ihrem ländlichen Umland auskommt, von dem sie ihr Wasser und andere Rohstoffe bezieht, und wenn sie die materiellen oder intellektuellen Güter anbieten kann, die sie zum begehrten Handelspartner für die Welt machen, dann wird die Stadt florieren.

Im Westen hatten die großen Städte bis zum späten Mittelalter und der Entstehung von Spanien, Frankreich und England als Nationalstaaten wenige Wettbewerber um ökonomische, kulturelle und politische Macht. Selbst heute hat der Bürgermeister einer Stadt wie London, der über das populäre Mandat einer gewonnenen Direktwahl verfügt, eine persönliche Autorität, von der manch ein Premierminister nur träumen kann.

Gezielte nationale Stadtgründungen werden dagegen selten Metropolen mit wirklicher ökonomischer Macht: Man schaue sich nur das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von Brasilia an und vergleiche es mit dem von São Paulo, oder das BIP von Ankara mit dem von Istanbul. Dennoch gibt es Leute, die Städte für anachronistische, überflüssige Gebilde halten – typisiert durch die Exemplare der amerikanischen Nordostküste mit ihren verrosteten Doughnut Speckgürteln. Sie postulieren, dass der Ort, wo man ein Maximum an wirtschaftlicher Aktivität und wirtschaftlichem Wachstum finden kann, etwas ist, was sie als eine andere Form räumlicher Organisation präsentieren– eine posturbane Form, die Super-Stadt oder wie auch immer man es am Ende nennen könnte.

Dies ist keine Stadt in dem Sinne, wie wir ihn begreifen – mit öffentlichen Plätzen und beiläufigen Interaktionen zwischen Fremden, sondern stattdessen eine Agglomeration ohne „Stadtheit“. Was wir jetzt noch nicht wissen, ist, ob dies einfach eine andere Form einer Stadt wäre oder ein authentischer Ersatz für sie. Man sollte nicht vergessen, dass die einst als Vororte, als minderwertige und seelenlose Attribute der richtigen Städte verunglimpften Stadtteile heute vollkommen akzeptiert sind als vitale und urbane Bereiche der zeitgenössischen urbanen Stadt.

Was wirklich untersucht werden muss, ist die Natur der Kohäsion und der urbanen Identität. Selbst in den geteilten Städten Beirut, Berlin oder Belfast waren und sind die Bindungen, die eine erfolgreiche Stadt zusammenhalten, effektiver und subtiler als der Nationalismus. Die Frage, was eine Stadt tatsächlich ausmacht, geht über die Definition einer Kollektion von Siedlungen in regionaler Nähe zueinander hinaus. Eine Stadt hängt von Charakteristika ab, die das Gefühl einer Entität vermitteln, zu der ihre Bewohner sich zugehörig fühlen wollen. Sie bietet ein Potpourri von gemeinsamen Erfahrungen an, die über das hinausgehen, was eine Nationalflagge oder Nationalhymne offerieren kann.

Städte haben die Fähigkeit, sich selbst als imperiale Systeme zu klonen – man könnte das als Franchise-Unternehmen oder als Branding bezeichnen, so wie Venedig und seine Satelliten; Städte sind aufgebaut auf Handel und Organisation. Ein wichtiger Unterschied zwischen der Stadt und dem Staat ist vielleicht, dass die Stadt viel besser auf ökonomische Notwendigkeiten eingehen kann und dass sie stärker auf der alltäglichen Realität menschlicher Erfahrung gründet als ein Nationalstaat.

Prof. DEYAN SUDJIC, geb. 1952, war u.a. Dean der Faculty of Art, Architecture and Design an der Kingston University, London, Gastprofessor für Designtheorie an der Hochschule für Angewandte Kunst in Wien und am Royal College of Art. 2002 leitete er die Architektur-Biennale in Venedig. Seit August 2006 ist er Direktor des Designmuseums London.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11, November 2006, S.50‑54

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