Kurswechsel mit Tücken
Mit der Annäherung an die Hamas verspielt die Türkei ihren Neutralitätsbonus
Engagement in der arabischen Welt, Vermittlung in regionalen Konflikten und Ambitionen als Regionalmacht – mit Amtsantritt der AKP-Regierung fand ein außenpolitischer Kurswechsel statt. Doch Ankaras Schulterschluss mit der Hamas widerspricht dem türkischen Selbstverständnis als ehrlichem Makler und gefährdet die Westorientierung.
„Neutralität wahren“ lautete traditionell das oberste Gebot in der türkischen Nahost-Politik. Seit ihrer Gründung 1923 versuchte die Türkei, sich konsequent aus regionalen Konflikten herauszuhalten, nicht mit Terrororganisationen zu verhandeln und zu allen Beteiligten Äquidistanz zu wahren. Besonders seit Amtsantritt der AKP-Regierung (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) zeichnet sich jedoch ein deutlicher Wandel ab. Während der israelischen Angriffe im Gaza-Streifen kritisierte die türkische Regierung Israel ungewohnt scharf und präsentierte sich gleichzeitig als Ansprechpartner der Hamas. Warum spricht Ankara neuerdings mit der Hamas, die von den USA und Europa als Terrororganisation eingestuft wird? Gibt die Türkei zugunsten einer aktiven Nahost-Politik ihre traditionelle Westorientierung auf?
Nachdem die Türkei auf dem EU-Ratsgipfel in Helsinki als Beitrittskandidat anerkannt wurde, gab es eine intensive Phase der „Europäisierung“, während der zahlreiche Gesetzesreformen verabschiedet wurden. Ab 2006 erlahmte der Reformeifer der Regierung jedoch aus verschiedenen Gründen zusehends. Erstens wurden die Beitrittsverhandlungen teilweise ausgesetzt, weil sich die EU und die Türkei in der Zypern-Politik uneins waren. Zweitens zeigten sich türkische Politiker verärgert über die uneindeutige Beitrittspolitik der EU und insbesondere Deutschlands und Frankreichs, die sich klar gegen eine Vollmitgliedschaft der Türkei aussprachen. Das von Bundeskanzlerin Angela Merkel vorgeschlagene Alternativmodell, die so genannte „privilegierte Partnerschaft“, schien für die Türkei wenig reizvoll. Ein weiterer Grund für den außenpolitischen Kurswechsel der Türkei waren die wieder einsetzenden Angriffe der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) auf türkische Soldaten. Angesichts des türkischen Demokratisierungsprozesses und angesichts des Machtgewinns der irakischen Kurdenführer Masud Barzani und Jalal Talabani befürchtete die PKK, marginalisiert zu werden und ihre Bedeutung als Widerstandsbewegung zu verlieren. Mitte 2004 beendete sie daher die Waffenruhe, die sie seit der Verhaftung des PKK-Führers Abdullah Öcalan eingehalten hatte. Zudem verschlechterte sich das Klima zwischen der Türkei und den USA, weil sich PKK-Kämpfer nach ihren Angriffen auf türkische Militärs ungestört in nordirakische Lager zurückziehen konnten. Die Angriffe der PKK verschärften die ohnehin schon prekäre Sicherheitslage, und die politischen Prioritäten in der Türkei verschoben sich zunehmend von „mehr Demokratie“ zu „mehr Sicherheit“.
Abkehr von Israel
Ankaras außenpolitischer Kurswechsel belastete die bislang engen türkisch-israelischen Beziehungen. Bereits 1949 hatte die Türkei als erster muslimischer Staat die Existenz Israels anerkannt und diplomatische Beziehungen mit Jerusalem aufgenommen. Eine strategische Dimension erhielt das türkisch-israelische Verhältnis, als beide Staaten 1996 ein Ausbildungs- und Kooperationsabkommen und ein Rüstungsabkommen unterzeichneten. Die USA begrüßten diese strategische Partnerschaft, während die meisten arabischen Staaten die Zusammenarbeit scharf kritisierten und von einer „neuen Achse“ sprachen. Was Ankara und Jerusalem zusammenbrachte, waren nicht nur ihre Gemeinsamkeiten – zum Beispiel demokratische Strukturen und Westorientierung –, sondern auch ähnliche Sicherheitsbedrohungen durch Organisationen wie die PKK oder Hisbollah und Hamas.
Ab 2003 wurden die partnerschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten jedoch empfindlich gestört. Zum einen verbesserte die Türkei ihr Verhältnis zu Nachbarstaaten wie Syrien und dem Iran, da diese im Gegenzug zusicherten, ihre Unterstützung für die PKK einzustellen. Zweitens veränderte 2003 der Einmarsch der Amerikaner in den Irak die Sicherheitslage in der Region. Aus Sicht der Türkei war die Vorstellung eines unabhängigen Kurdenstaats im Nordirak ein Alptraum, weswegen türkische Politiker die territoriale Integrität des Irak mit Nachdruck verteidigten. Israel dagegen setzte andere Prioritäten und sprach sich gegen die Entstehung von Hegemonien in der Region aus, weswegen ein mächtiger irakischer Staat nicht im israelischen Interesse lag. Außerdem stellten die Kurden als muslimisches, aber nicht arabisches Volk für Israel potenziell einen wichtigen strategischen Partner dar.
Nicht zuletzt spielt die religiöse Identität der AKP und ihrer Wähler eine wichtige Rolle. Als Partei mit Wurzeln im islamistischen Milieu hat die AKP mehrheitlich religiös-konservative Wähler, die besonders empfindlich auf die Notlage muslimischer Völker in ihrer Nachbarschaft reagieren. Als Erdogan 2005 Israel beschuldigte, eine Politik des Staatsterrors gegen die palästinensische Bevölkerung zu betreiben, wurde deutlich, dass eine neue Ära in den türkisch-israelischen Beziehungen angebrochen war.
Der Wahlerfolg der Hamas im Januar 2006 wurde von der türkischen Regierung begrüßt. Während die EU-Staaten und die USA das Wahlergebnis nicht anerkannten, erklärten AKP-Politiker, die Wahl sei demokratisch verlaufen und müsse daher akzeptiert werden. Das waren ungewohnte Töne, denn bisher hatten es türkische Politiker strikt abgelehnt, mit Organisationen wie der Hamas zu verhandeln, um die eigene Position im Kampf gegen die PKK nicht zu untergraben. Der offizielle Besuch des Hamas-Führers Khaled Meschaal 2006 in Ankara markierte daher einen Einschnitt in der türkischen Nahost-Politik.
Wenige Tage vor Beginn der israelischen Offensive in Gaza führten der israelische Ministerpräsident Ehud Olmert und Erdogan in Ankara Gespräche über den israelischen Konflikt mit Syrien, die scheinbar erfolgreich verliefen. Auf türkischer Seite hoffte man auf baldige direkte Verhandlungen zwischen Jerusalem und Damaskus. Die dreiwöchigen Angriffe Israels auf Gaza, bei denen mehr als 1300 Menschen starben, waren daher für die Türken ein schwerer Schock. Erdogan bezeichnete Israels Vorgehen als Respektlosigkeit und offenbarte damit seine tiefe Enttäuschung darüber, dass die türkischen Bemühungen um eine Beilegung des israelisch-syrischen Konflikts gescheitert waren. Während die türkische Kritik an Israel zunehmend schärfer ausfiel, näherte sich die AKP-Regierung gleichzeitig der Hamas. Türkischen Medienberichten zufolge stand der oberste außenpolitische Berater Erdogans in ständigem Kontakt mit Me-schaal. Erdogan plante sogar, die Forderungen der Hamas den Vereinten Nationen zu übermitteln. Er reiste kurz nach Beginn der Angriffe persönlich nach Syrien, Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien, um die Unterstützung dieser Staaten für seinen Zwei-Stufen-Plan zu gewinnen. Dieser sah zuerst eine Waffenruhe, dann Versöhnung zwischen der Hamas und der PLO (Palästinensische Befreiungs-organisation) vor. Doch die türkische Initiative scheiterte, weil die besuchten Staaten den Zwei-Stufen-Plan als unzureichend erachteten. Die Ziele der AKP, gleichzeitig die Hamas zu unterstützen und im Nahen Osten als neutraler Vermittler aufzutreten, schienen unvereinbar.
„Neo-Osmanische“ Rhetorik
Die außenpolitische Neuorientierung der Türkei lässt sich nicht zuletzt an der „neo-osmanischen“ Rhetorik türkischer Politiker während der Angriffe auf Gaza ablesen. Erdogan sprach wiederholt vom osmanischen Erbe und der historischen Mission der Türkei in der Nahost-Region. Als er verletzte Palästinenser besuchte, die in türkischen Krankenhäusern behandelt wurden, ließ er den Dolmetscher ausrichten: „Sag ihnen, dass sie in einem sicheren Land sind. Sag ihnen, dass sie sich in den Häusern ihrer Brüder und Väter befinden.“
Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos Ende Januar 2009 kam es dann zum Eklat: Erdogan verließ aus Protest gegen die israelische Offensive in Gaza vorzeitig eine Diskussionsveranstaltung. Bei seiner Rückkehr in die Türkei wurde er von tausenden AKP-Anhängern als „Held von Davos“ und als „Führer der Welt“ gefeiert. AKP-Politiker und AKP-nahe Medien waren der Meinung, Erdogans Abgang in Davos sei legitim gewesen. Cengiz Candar, ein prominenter türkischer Journalist, bezeichnete Erdogan sogar als „neuen Nasser“ in der arabischen Welt. In Oppositionskreisen wurde Erdogans medienwirksamer Abgang jedoch kritischer aufgenommen. Man warf dem türkischen Premier mit Blick auf die kommenden Lokalwahlen am 29. März Populismus vor. Zudem hielten Beobachter der Regierung vor, dass sie trotz ihrer israelkritischen Rhetorik an der engen militärischen Zusammenarbeit mit Israel festhalte.
Erdogans außenpolitischer Berater Ahmet Davutoglu legte 2001 mit dem einflussreichen Buch „Stratejik Derinlik“ (Strategische Tiefe) den programmatischen Grundstein für die Nahost-Politik der AKP-Regierung. Darin umreißt er die Doktrin der „strategischen Tiefe“ und die geopolitischen Besonderheiten der Türkei an der Schnittstelle zwischen Nahost, Europa und Zentralasien. Um Sicherheitsrisiken zu minimieren und um zu einer Regionalmacht aufzusteigen, muss sie laut Davutoglus Doktrin gute Beziehungen zu ihren Nachbarn pflegen. Die rigide Gegenüberstellung von „West versus East“ lehnt Davutoglu ab. Ein Land wie die Türkei, das mehreren unterschiedlichen Weltregionen zugleich angehört, dürfe sich nicht zwischen Westen und Osten entscheiden. Davutoglu vergleicht die türkische Außenpolitik mit Pfeil und Bogen: Wird der Bogen stark gespannt, schießt der Pfeil besonders schnell nach vorne. Engagiert sich die Türkei intensiv in der arabischen Welt, gewinnt sie in der westlichen Welt umso mehr an Ansehen.
Davutoglus Überlegungen stellen eine Kritik an der bisherigen, starren Westorientierung der Türkei dar. Er kritisiert auch die Nahost-Politik der Türkei während des Kalten Krieges, die unhinterfragt der Strategie der westlichen Staaten gefolgt war. Seit Jahrhunderten sei die Türkei eng mit ihren arabischen Nachbarn verbunden und müsse daher eine unabhängige Nahost-Politik entwickeln. Davutoglu zufolge sollte die Türkei die muslimischen Völker in ihren Nachbarregionen, zum Beispiel auf dem Balkan, als politische Partner wahrnehmen.
Davutoglu ist nicht der erste Außenpolitiker, der die Bedeutung der Nachbarstaaten hervorhebt. Viele vor ihm, zum Beispiel der ehemalige Ministerpräsident Bülent Ecevit und der ehemalige Staats- und Regierungschef Turgut Özal, legten Wert auf gutnachbarschaftliche Beziehungen mit der arabischen Welt. Dennoch bestand ein Konsens darüber, dass der Westen eine herausgehobene Bedeutung besaß. Mit Davutoglu legt nun erstmals ein türkischer Politiker eine umfassende außenpolitische Doktrin vor, die die klassische Westbindung in Frage stellt.
Die Bedeutung der Türkei im Nahen Osten ist in den vergangenen Jahren gewachsen. Als Regional- bzw. Mittelmacht kann sie Politik zwar nicht auf globaler Ebene bestimmen, verfügt aber über genügend militärische und wirtschaftliche Ressourcen, um Entwicklungen in ihren Nachbarregionen zu beeinflussen. Die AKP-Regierung vermittelte zum Beispiel zwischen Afghanistan und Pakistan, zwischen der EU und dem Iran und zwischen Israel, Syrien und den Palästinensern. Diese Vermittlerrolle ist im Einklang mit Davutoglus außenpolitischer Doktrin einer zugleich aktiven und ausgewogenen Außenpolitik. Doch die Haltung Ankaras während der israelischen Angriffe auf Gaza und der „Eklat von Davos“ widersprechen dem türkischen Selbstverständnis als ehrlichem Makler.
Anspruch und Wirklichkeit
Kritik an Israel mit der Rolle als neutralem Vermittler im Nahen Osten in Einklang bringen – das ist derzeit eine der größten Herausforderungen für türkische Politiker. Denn ihr Verhältnis zu Israel ist zutiefst ambivalent: Obwohl die israelkritische Rhetorik der AKP-Regierung in letzter Zeit ungewohnt scharf ausfiel, setzt sie weiterhin auf enge militärische und strategische Kooperation und Verflechtung.
Doch nicht nur in der Israel-Politik klafft eine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Auch Erdogans Innenpolitik passt nicht zu seinem Versprechen, eine „Stimme der Opfer“ zu sein, wie er bei seiner Rückkehr aus Davos verkündete. Angesichts der Probleme der kurdischen und alewitischen Bevölkerung in der Türkei wird deutlich, dass sich die AKP-Regierung trotz einiger Reform-initiativen nicht nachhaltig um eine Verbesserung des Minderheitenschutzes bemüht.
Gerade die kleine jüdische Minderheit ist von den Veränderungen in der türkischen Nahost-Politik betroffen. Zwar sind die Türken im Allgemeinen stolz auf ihre historische Toleranz gegenüber Minderheiten. Als zum Beispiel in den 1930er Jahren Juden aus Nazi-Deutschland flohen, fanden sie in der Türkei Unterschlupf. Doch es gab auch dunkle Zeiten im Umgang mit Minderheiten, beispielsweise die Eigentumssteuer während des Zweiten Weltkriegs oder in jüngerer Zeit die Anschläge auf zwei Synagogen in Istanbul, bei denen 20 Menschen starben. Obwohl sich die Regierung bemühte, dem Eindruck entgegenzuwirken, in der Türkei gebe es ein Antisemitismus-Problem, heizte sie die spannungsgeladene Stimmung mit ihrer scharfen Kritik an Israel weiter auf. Während des Gaza-Kriegs kam es zu Übergriffen auf die jüdische Minderheit, und es bleibt abzuwarten, wie sich die harsche Israel-Kritik langfristig auf die Situation dieser Minderheit auswirken wird.
All diese Entwicklungen deuten eine Zeitenwende in der türkischen Nahost-Politik an, die auch von der muslimischen Identität der AKP-Wähler und der ideologischen Strömung des „Neo-Osmanismus“ beeinflusst wird. Unklar ist bislang, ob es sich um eine kurzfristige Taktik oder um eine langfristige Veränderung handelt. Eines ist jedoch klar: Solange der türkische EU-Beitrittsprozess keine Fortschritte macht, wird sich die Türkei weiterhin in der arabischen Welt engagieren. Das bedeutet nicht, dass Ankara die strategischen Beziehungen zu Israel abbricht. Doch die Partnerschaft mit Israel wird wahrscheinlich, anders als in den neunziger Jahren, nicht mehr ganz oben auf der außenpolitischen Prioritätenliste stehen.
Zudem muss die Türkei die inhärenten Widersprüche ihrer Nahost-Politik auflösen: Einerseits möchte Ankara als neutraler Vermittler in regionalen Konflikten auftreten. Andererseits hat die türkische Regierung zuletzt so eindeutig Partei für die Palästinenser ergriffen, dass ihr Neutralitätsanspruch unglaubwürdig scheint. Erdogan bezeichnet die Palästinenser als unterdrückte Minderheit, doch gleichzeitig vernachlässigt die Regierung im eigenen Land benachteiligte Bevölkerungsgruppen.
Auf absehbare Zeit bleibt die Türkei ein Bündnispartner des Westens, doch die Nachbarregionen gewinnen außenpolitisch an Bedeutung. Das muss nicht unbedingt schädlich für die türkischen Beziehungen zum Westen sein. Doch wenn die Türkei das traditionelle Ziel der EU-Vollmitgliedschaft aus den Augen verliert, kann es passieren, dass der mit dem Beitrittsverfahren einhergehende Reformprozess langfristig gestoppt wird. Die Folgen für die Demokratisierung der Türkei wären verheerend. Und wenn sich Ankara allzusehr an die Hamas annähert, besteht Gefahr, dass sich die türkische Außenpolitik vom Westen abwendet. Es ist wie mit Davutoglus Pfeil und Bogen: Spannt man den Bogen zu stark, besteht Gefahr, dass der Pfeil sein Ziel verfehlt. Und ohne klares Ziel vor Augen ergibt es ohnehin keinen Sinn, den Bogen zu spannen. Darum darf die Türkei das Ziel der Europäisierung nicht aus den Augen verlieren.
Dr. BIRGÜL DEMIRTAS-COSKUN lehrt Politikwissenschaft an der Baskent-Universität in Ankara. Sie promovierte an der Freien Universität Berlin.
Internationale Politik 4, April 2009, S. 62 - 68.