Kuchen für alle
Buchkritik
Der Streit, ob die Globalisierung zu Ausbeutung führt oder Chancen auf Wohlstand schafft, geht in die nächste Runde. „Verteidigung der Globalisierung“ betitelt der Ökonom Jagdish Bhagwati sein jüngstes Werk. Doch steigende Preise für Rohstoffe, Energie und Lebensmittel signalisieren, dass die Globalisierung Opfer des eigenen Erfolgs wird. Was tun?
Schlag nach bei Karl Marx: „Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel“, schrieb der Sozialphilosoph vor rund 160 Jahren im „Kommunistischen Manifest“ und folgerte: „Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation.“ Für Marx, der die ungeheure Dynamik des Kapitalismus zum Teil richtig erkannte (wenn er daraus auch völlig irrige Schlüsse zog), war die Globalisierung eine zivilisierende Kraft! „Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt.“
Inzwischen schießen die Chinesen mit wohlfeilen Preisen derartig zurück, dass sich viele im Westen, vor allem in Amerika, neue Schutzzoll-Mauern wünschen. Auch in einigen Entwicklungsländern schwindet der Glaube, dass Freihandel grundsätzlich erstrebenswert ist; man sträubt sich dagegen, seine Märkte für die Weltkonkurrenz zu öffnen. Mythos Ausbeutung
Ohnehin kennen viele Kritiker nur einen Gewinner von Globalisierung und Freihandel: die reichen Länder, die von ungerechten wirtschaftlichen Machtverhältnissen profitieren und die armen Länder ausbeuten. Ist das wirklich so? Tatsächlich ist die Globalisierung eine große Chance für die Armen, endlich ein Stück vom großen Kuchen der Weltwirtschaft zu ergattern. Der indisch-amerikanische Ökonom Jagdish Bhagwati vertritt diese Überzeugung mit Verve. Gestützt auf Theorie und Empirie belegt Bhagwati, der in den fünfziger Jahren als junger Ökonom die indische Regierung beraten hat und heute an der Columbia University in New York lehrt, dass die Vorteile der Globalisierung deren Nachteile weit überwiegen. Durch Freihandel, die Expansion multinationaler Konzerne und deren Direktinvestitionen wird die internationale Arbeitsteilung ausgeweitet. Das bringt Chancen auf Teilhabe an einem global wachsenden Wohlstand.
So ist die Zahl der in bitterster Armut lebenden Menschen – trotz des Bevölkerungswachstums – im vergangenen Vierteljahrhundert um ein Viertel gesunken. Das ergab die im August veröffentlichte neueste Erhebung der Weltbank. Im Jahr 1981 gab es 1,9 Milliarden, im Jahr 2005 nur noch 1,4 Milliarden Menschen, die am Tag mit weniger als 1,25 Dollar auskommen müssen (die bisherige Messlatte von einem Dollar wurde entsprechend der Inflation angehoben). Besonders stark ging die Massenarmut in Südostasien zurück, wo sich große Volkswirtschaften der internationalen Wirtschaft geöffnet haben. Allein in China verringerte sich die Zahl der Armen von 835 Millionen auf 200 Millionen. Dagegen hat sich die Zahl der Armen in Afrika auf fast 400 Millionen verdoppelt.
In den von der Globalisierung erfassten Entwicklungs- und Schwellenländern wächst der Wohlstand, während diejenigen Länder, vor allem in Afrika, arm bleiben, die an der Weltwirtschaft wenig oder gar nicht teilnehmen. Die vermeintliche Ausbeutung der Entwicklungs- und Schwellenländer ist ein Mythos, zeigt Bhagwati. Er verweist auf empirische Studien, wonach die von multinationalen Konzernen gezahlten Löhne meist deutlich über dem ortsüblichen Tarif in den Entwicklungs- und Schwellenländern liegen. Daher reißen sich die Menschen um Arbeit in den von ausländischen Investoren errichteten Fabriken – weil es dort allemal besser ist als in ihren traditionellen Beschäftigungsverhältnissen in der Landwirtschaft.
Das Phänomen der Kinderarbeit ist nicht erst mit der Globalisierung aufgetaucht. Schon früher gingen in armen Ländern viele Minderjährige (vermutlich mehr als heute) zur Arbeit statt zur Schule. Wie Bhagwati betont, würde ein simples Verbot der Kinderarbeit diese kaum beseitigen und die Probleme wohl noch verschärfen, da es dazu führen würde, „dass arme Eltern ihre Kinder heimlich zur Arbeit und häufig in noch schlimmere ‚Beschäftigungsverhältnisse‘ schicken, etwa in die Prostitution“. Der steigende Wohlstand hat in vielen Schwellenländern zu einem Rückgang der Kinderarbeit und zu einer höheren Schulbesuchsquote geführt. Auch hat sich die Lage von Frauen verbessert, je mehr die zuvor in traditionellen Verhältnissen erstarrten Gesellschaften sich dem internationalen Wettbewerb stellen. Zudem fördert die mit der Globalisierung verbundene Öffnung tendenziell politische Reformen: Nach dem durch den US-Ökonomen Albert Hirschman entwickelten Modell von „Exit“ und „Voice“ wird politischer Protest („Voice“) gegen Missstände erst dann wirkungsvoll, wenn eine Abwanderungsoption (die Drohung mit „Exit“) besteht.
Opfer des eigenen Erfolgs?
Dass wirtschaftliche Zusammenarbeit und Integration zu Wohlstand führen, hatte schon 1776 der Brite Adam Smith erkannt. Später sprach David Ricardo von „komparativen Kostenvorteilen“, die jedes Land habe und ausnutzen solle. Nach der Aufhebung der britischen Importzölle auf Getreide und andere Produkte zur Mitte des 19. Jahrhunderts erhielt der Freihandel gewaltigen Auftrieb. Hinzu kamen die Erfindungen von Eisenbahn, Dampfer und Telegraph, die Raum und Zeit schrumpfen ließen.
Sei die frühere Globalisierung hauptsächlich durch den technischen Fortschritt getrieben gewesen, schreibt Bhagwati, so gewinne sie heute durch sinkende Informations- und Transportkosten an Tempo. Hinzu muss ein starker politischer Impuls kommen, Handels- und Investitionsschranken niederzureißen. „Diese Tatsache“, so Bhagwati, „drängt uns allerdings eine beunruhigende Erkenntnis auf: Regierungen, die die Globalisierung beschleunigen können, können sie ebenso gut auch umkehren.“
So erschallt häufig in der Globalisierungsdebatte der Ruf nach international verbindlichen Sozial- und Arbeitsstandards, besonders von Gewerkschaftsseite. Würden diese einen „fairen Wettbewerb“ und „fairen Handel“ unter „gleichen Bedingungen“ bringen? Ökonomen sind skeptisch. Auch Bhagwati deutet an, dass vom Westen geforderte Mindeststandards die Entwicklungschancen der aufstrebenden Länder behindern könnten. Oft verbirgt sich hinter dem Ruf nach Sozialstandards nur der Wunsch, der billigen Konkurrenz zu schaden, indem ihr teure Regulierung aufgezwungen wird („raising rivals’ costs“ nennen Ökonomen das, was auch in der EU unter dem Stichwort der „Harmonisierung“ versucht wird). Damit soll dem Wettbewerber ein „komparativer Kostenvorteil“ genommen werden. Der Markt als Wohlstandsmotor lebt aber davon, dass es unterschiedliche und vielfältige Standorte gibt.
In ihrer jüngsten Phase scheint die Globalisierung Opfer des eigenen Erfolgs zu werden: Über gut 20 Jahre hat sie sinkende Preise gebracht; nun aber verkehrt sich diese Entwicklung ins Gegenteil. Da mit der wachsenden Wirtschaft viel mehr Menschen als je zuvor zu Wohlstand gekommen sind, steigen ihre Konsumbedürfnisse und die globale Nachfrage. Das führt zu einer Überbeanspruchung begrenzter Ressourcen und zu einem dramatischen Anstieg der Preise für Rohstoffe, Energie und Lebensmittel.
Der Preis für Reis, Ernährungsgrundlage für rund drei Milliarden Menschen vor allem in Asien, hat sich in kurzer Zeit verdoppelt. Die Inflation der Lebenshaltungskosten droht, die Erfolge im Kampf gegen den Hunger zunichte zu machen. Einige asiatische und afrikanische Staaten haben darauf mit Exportquoten reagiert: Die Ausfuhr soll gedrosselt werden, damit mehr für den Verbrauch im Inland bleibt. Doch damit verschärft sich anderswo die Lebensmittelknappheit.
Sorgen um die Ernährungssicherheit waren es, die jüngst die Doha-Runde zur Liberalisierung des Welthandels in eine Sackgasse führten. Die WTO-Gespräche in Genf scheiterten Ende Juli vordergründig an der Forderung Indiens, einen Zoll von bis zu 30 Prozent auf importiertes Getreide zu erheben, falls die Einfuhr einen bestimmten Schwellenwert übersteige. Das diene dem Schutz der 700 Millionen Kleinbauern des Subkontinents, erklärte Indiens Handelsminister Kamal Nath.
Dabei spielt eine wichtige Rolle, dass die landwirtschaftliche Produktion in Europa und Amerika nach wie vor durch Subventionen künstlich verbilligt wird und dadurch der Wettbewerb verzerrt ist. Die europäische Agrarpolitik, die es ermöglicht, subventionierte Produkte auf fremde Märkte zu werfen, ist mitschuldig am Elend in Afrika, wo sie die Entwicklung der einheimischen Agrarproduktion behindert. Zwar hat die EU in den jüngsten WTO-Gesprächen einer Senkung der Höchstsätze der Importzölle auf Agrarprodukte um durchschnittlich 60 Prozent zugestimmt und einen Abbau von vier Fünfteln der Subventionen in Aussicht gestellt. Die Vereinigten Staaten boten an, die Höchstgrenze der marktverzerrenden Subventionen auf 15 Milliarden Dollar zu beschränken. Doch diese Zugeständnisse waren insgesamt nicht ausreichend.
Es könnte ein Befreiungsschlag für die Weltwirtschaft werden, wenn die EU unilateral sämtliche Agrarimportzölle abschaffen und zugleich die Subventionen für die Landwirtschaft auf ein Minimum senken würde. Der Zeitpunkt dafür scheint günstig, denn gegenwärtig sind die Preise so hoch, dass niedrigere Zölle auf breite Zustimmung der Verbraucher und vergleichsweise geringen Widerstand der Bauernverbände träfen (auch die Entscheidung der britischen Regierung zur Aufhebung der Getreideimportzölle, der „Corn Laws“, 1846 fiel in eine Zeit sehr hoher Preise).
Eine vollständige Aufhebung aller Einfuhrzölle hätte drei Effekte: Erstens würde sie die Lebensmittelpreise in Europa senken und die Teuerung dämpfen. Zweitens ergäben sich für die Exportwirtschaft der Entwicklungsländer bessere Chancen auf Teilhabe am Wohlstand, wodurch, drittens, der Migrationsdruck auf Europa abnähme. Deutschland sollte sich als Hauptprofiteur der Globalisierung und der wachsenden Weltwirtschaft für einen Beschluss der EU zu einer vollständigen, unilateralen Abkehr von Zöllen einsetzen. Das würde der Globalisierung einen Schub in die richtige Richtung geben.
Jagdish N. Bhagwati: Verteidigung der Globalisierung. Mit einem Vorwort von Joschka Fischer. Pantheon 2008, 528 Seiten, 16,95 €
Dr. PHILIP PLICKERT ist Wirtschaftsredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Internationale Politik 10, Oktober 2008, S. 110 - 113