Kriegführung: Gaza ist nicht Belgrad
Wer Israels militärisches Vorgehen gegen Gaza kritisiert, dem könnte ein sicherheitspolitischer Blick in die Geschichte nicht schaden. Denn die Kriegführung westlicher Demokratien ähnelt sich stark – allerdings unterscheidet sich das Verhalten der jeweiligen Gegner erheblich voneinander.
2006, 2009, 2012, 2014, 2021: Es ist immer wieder dieselbe Abfolge von Aktion und Reaktion – militärisch, politisch, medial. Israel wird mit Raketen attackiert, ob aus dem Gaza-Streifen oder dem Libanon, ob von Hamas, Hisbollah oder Islamischem Dschihad. Die israelische Antwort: Luftangriffe, Artilleriebeschuss und dann schließlich nicht selten der Einsatz von Bodentruppen.
Politisch und medial folgt auch das Echo aus Europa bislang immer demselben Muster: Anfänglichem Verständnis für die Reaktion Israels folgt rasch Kritik, die sich zu Empörung steigert. Recht schnell hält die Mehrheit der Europäer die israelischen Luftschläge für „unverhältnismäßig“. Die allabendlichen Bilder von getöteten Zivilisten und zerstörten Wohnhäusern lassen dies auf den ersten Blick verständlich erscheinen.
Auch im Gaza-Krieg 2021 stieg von Tag zu Tag die Zahl der Opfer. In den schwersten Auseinandersetzungen seit Jahren starben mindestens 243 Palästinenser und 12 Israelis. Tausende wurden verletzt. Dabei soll nach israelischen Angaben ein Zehntel der palästi-nensischen Opfer auf versehentlichen Eigenbeschuss zurückzuführen sein – mehr als 500 der 4000 von Hamas und Islamischem Dschihad abgefeuerten Raketen sollen fehlgeleitet die Bevölkerung des Gaza-Streifens getroffen haben.
Gleichzeitig bekämpfte dort Israels Luftwaffe mehr als tausend militärische Ziele in dicht besiedeltem Gebiet – in direkter Nähe zu Wohnhäusern, Krankenstationen und Schulen. Die Folgen: Ein Viertel der Opfer waren Kinder und Kleinkinder; Zehntausende Palästinenser mussten ihre Häuser und Wohnungen verlassen.
Doch stellt sich erneut die Frage, ob das moralische Überlegenheitsgefühl, das sich dann angesichts solcher Bilanzen in der europäischen Öffentlichkeit einstellt, gerechtfertigt ist. Denn die Europäer führen zusammen mit ihren amerikanischen Verbündeten immer wieder selbst Feldzüge, die mit dem Vorgehen der Israelis große Übereinstimmungen aufweisen.
Den Willen des Gegners brechen
Die Bundesrepublik Jugoslawien bekam im Kosovo-Konflikt 1999 die Zerstörungskraft der amerikanischen und europäischen Luftwaffen zu spüren. Aus wohlbegründeter Furcht vor hohen Verlusten in einem Bodenkrieg griff die NATO auf den strategischen Luftkrieg zurück. Im Gegensatz zum taktischen Luftkrieg, der vor allem die Streitkräfte des Gegners zum Ziel hat, handelt es sich hierbei um eine Variante der nach dem Ersten Weltkrieg vom britischen Militärtheoretiker B. H. Liddell Hart entwickelten Strategie des „indirect approach“, die den Feind an seiner schwächsten Stelle treffen will: seiner Infrastruktur. Während im Seekrieg die äußeren Versorgungswege attackiert werden, nimmt der strategische Luftkrieg die wirtschaftlichen Zentren ins Visier. Die systematische Bombardierung von Industrieanlagen und Verkehrswegen soll die Rüstungsproduktion und den Nachschub der gegnerischen Streitkräfte einschränken.
Seit dem Zweiten Weltkrieg ist diese Strategie zu einem festen Bestandteil der Kriegführung westlicher Mächte geworden. Um verlustreiche Entscheidungen auf dem Schlachtfeld zu vermeiden und dennoch durch die Zufügung erheblicher Schäden den politischen Willen des Gegners zu brechen, wird dessen Infrastruktur angegriffen. Der Luftkrieg gegen Japan gipfelte im Abwurf von zwei Atombomben.
Eine Vorgehensweise, die in den Flächenbombardements von Korea und Vietnam ihre Fortsetzung fand, um schließlich in den sogenannten „chirurgischen Angriffen“ etwa auf Brücken, Hörfunk- und Fernsehsender, Telekommunikationseinrichtungen oder Wasser- und Elektrizitätswerke auf dem Balkan oder im Nahen und Mittleren Osten weiterentwickelt zu werden. Während es die immer modernere Waffentechnik erlaubte, statt weitflächiger Wohnquartiere nun einzelne Versorgungseinrichtungen von elementarer Bedeutung für den Feind zu zerstören, blieb das Ziel der Angriffe gleich: der politische Durchhaltewille des Gegners, seines Landes, seiner Bevölkerung.
Das Leid der Zivilbevölkerung
Diese Strategie hat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten einen weiteren „zivilen“ Aspekt erhalten: Die wachsende Bedeutung des Luftkriegs für die Kriegführungsfähigkeit westlicher Demokratien hat wesentlich damit zu tun, dass hier technologische Überlegenheit am stärksten ausgespielt und die Zielvorstellung einer Kriegführung ohne eigene Verluste am ehesten realisiert werden können.
Die politische Unterstützung einer militärischen Intervention ist am größten, wenn klar ist, dass es sich dabei lediglich um den Einsatz von Luftstreitkräften handelt. Es steht aber außer Frage, dass ein wesentlich aus der Luft geführter Krieg trotz des Einsatzes moderner Kampf-mittel die eigenen Verluste minimiert, aber das Risiko für die Zivilbevölkerung des bombardierten Landes erhöht.
Inwieweit neben diesen strategischen Überlegungen auch technische Fähigkeiten beziehungsweise Schwächen dafür sorgen, dass nicht wirkungsvoll zwischen Kombattanten und Nonkombattanten unterschieden werden kann, zeigt ein Blick auf die Entwicklungsgeschichte der im Luftkrieg eingesetzten Waffen: Selbst in den „Hightech-Kriegen“ der vergangenen Jahre haben die sogenannten Präzisionswaffen eine hohe Fehlerquote aufgewiesen, meist zum Leidwesen der Zivilbevölkerung.
Nicht zuletzt daher weisen die Kampfhandlungen im Gaza-Streifen und im Libanon sowie die Kriege im Kosovo, in Afghanistan, im Irak und in Libyen ähnliche Charakteristika auf: Obwohl weder Israelis noch Amerikaner und Europäer gezielt zivile Ziele im engeren Sinne angreifen, werden bei ihren Luftschlägen immer wieder auch Zivilisten getötet. Die Zahl der Opfer geht dann – je nach Intensität und zeitlicher Länge der Luftkampagne – in die Hunderte bis Tausende.
Bereits ein Vergleich der Kriege 1999 im Kosovo und 2006 im Libanon führt hier zahlreiche Parallelen vor Augen: Amerikanische und europäische Kampfflugzeuge setzten im Kosovo Cluster- und Splitterbomben ein, die auch viele Nonkombattanten töteten, bombardierten versehentlich Flüchtlingstrecks und verschossen umstrittene Uranmunition. Auf serbischer Seite starben nach Angaben von Human Rights Watch und der NATO 500 Zivilisten und 5000 Soldaten. Belgrad sprach von 5000 Zivilisten und 500 Soldaten. Die Zahl der getöteten Kosovo-Albaner wurde auf etwa 2500 geschätzt. Die NATO-Staaten verloren keinen Soldaten.
Nach Angaben der libanesischen Regierung starben 2006 bereits in den ersten Kriegswochen mehr als 1000 Libanesen, davon über 90 Prozent Zivilisten. Auf israelischer Seite bestätigte die Regierung im gleichen Zeitraum 100 Tote, davon rund zwei Drittel Soldaten.
Auf der Flucht
Der Versuch, dem Gegner durch Bombardements den eigenen politischen Willen aufzuzwingen, löste in beiden Fällen große Flüchtlingsbewegungen aus: Serbische Truppen intensivierten 1999 unter den Luftangriffen der NATO ihre „ethnischen Säuberungen“. Über eine Million Kosovaren flohen oder wurden vertrieben. Auch im Libanon befanden sich 2006 nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks UNHCR eine Million Libanesen auf der Flucht. Jerusalem sprach indes davon, dass 300.000 Israelis den Norden des Landes verlassen hatten, um dem Raketenbeschuss der Hisbollah zu entkommen.
Die ökonomischen wie ökologischen Schäden des strategischen Bombardements waren auf beiden Schauplätzen ebenfalls immens. Belgrad bezifferte die Kosten des Wiederaufbaus auf mehr als hundert Milliarden Dollar. Auch die Schätzungen des libanesischen Rates für Entwicklung und Wiederaufbau gingen in die Milliarden. Im Norden Israels wiederum vernichteten die Raketen der Hisbollah über eine Million Bäume und viele Quadratkilo-meter Felder. Die Kosten für den Wiederaufbau lagen gleichfalls im Milliardenbereich.
Doch nicht nur die Auswirkungen, auch die Logiken des Vorgehens ähneln sich: In der Bundesrepublik Jugoslawien wollten die Europäer 1999 mit Luftschlägen die Infrastruktur der serbischen Streitkräfte zerstören und damit die Vertreibung und Ermordung der Kosovo-Albaner beenden. Das sollte nicht nur deren Autonomie, sondern auch die Opposition gegen das Belgrader Regime stärken. 2006 wollte Jerusalem mit einem Bombardement die militärische Infrastruktur der Hisbollah vernichten und damit deren Autonomie im Libanon beenden. Dies sollte nicht nur Israel, sondern auch den Libanon als souveränen Staat stärken.
Erbitterter Gegner
Im Gaza-Streifen wiederum sollte 2009, 2012, 2014 und nun erneut die Infrastruktur der Hamas und des Islamischen Dschihads zerstört werden, um ihre militärische und politische Dominanz in diesem Gebiet zu beenden oder sie zumindest für einen möglichst langen Zeitraum zu schwächen. Denn vernichtet werden sollen Hamas und Islamischer Dschihad laut Aussagen israelischer Militärs nicht. Auch soll der Gaza-Streifen nicht erneut besetzt werden. Jerusalem geht es lediglich darum, den – wenn auch letztlich fragilen – Zustand wiederherzustellen, der zumindest für mehrere Monate nach den letzten größeren Operationen gegen Hamas und Islamischem Dschihad 2012 und 2014 herrschte: Sicherheit vor Angriffen für die Bewohner Israels.
Die Europäer sind 1999 durch ihr Zurückschrecken vor einem Bodenkrieg im Kosovo beinahe militärisch gescheitert. Denn selbst die massive Ausweitung der Luftangriffe schien Belgrad über Wochen nicht zu beeindrucken. Erst nach drei Monaten begann der Rückzug der serbischen Truppen. Mit einem solchen Kriegsglück, wie es der NATO damals widerfahren ist, kann Israel hingegen kaum rechnen. Seine Luftschläge treffen im Gaza-Streifen und im Libanon einen Gegner, der noch entschlossener und todesmutiger erscheint als Belgrad 1999.
Für Israel blieb daher nach wochenlangem Luftkrieg 2006, 2009 und 2014 allein eine Offensive am Boden als weitere militärische Option. Die Europäer können sich glücklich schätzen, dass sie diesen Schritt im Kosovo und auch in Libyen und Syrien nicht gehen mussten, zumal sie dort nicht ihr eigenes Leben, sondern das von anderen zu schützen versuchten. Israel hat auch dieses Glück nicht. Es kämpft für seinen eigenen Schutz – in einem Konflikt, in dem die „Verhältnismäßigkeit“ der Mittel bisher ebenso selten gewahrt wurde wie auf dem Balkan, in Afghanistan, im Irak, in Libyen oder Syrien.
Die Maßstäbe gehen verloren
Gemein haben all diese Schauplätze, dass sie immer stärker von einem grundlegenden Wandel des Kriegsverständnisses vor allem auf Seiten der Gegner der westlichen Demokratien geprägt sind: Die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nonkom-battanten ist in der Ära der zwischenstaatlichen Kriege von der Mitte des 17. bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts relativ gut gelungen, weil seitens der politischen wie militärischen Führungen ein Interesse an ihrer Durchsetzung bestand, während sie im Verlauf des 20. Jahrhunderts sukzessive erodiert ist.
Hierbei hat der Bedeutungsverlust des sogenannten konventionellen Krieges eine entscheidende Rolle gespielt. Wurde er zu Zeiten des Kalten Krieges vor allem durch Atomkriegsszenarien und Partisanenkriege in den Stellvertreterkonflikten zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion überlagert, so löst seit den neunziger Jahren die wachsende Globalisierung von Terrorismus und seiner Bekämpfung aufgrund politischer wie technologischer Dynamiken die Selbstbindung durch Konventionen auf.
In den asymmetrischen Kriegen des 21. Jahrhunderts gehen die Maßstäbe der Haager Landkriegsordnung wie der Genfer Konventionen mehr und mehr verloren. Dabei scheint es, als ob die Fähigkeit, zwischen Kriegsgewalt und Kriegsverbrechen zu differenzieren, weniger von einer Verrechtlichung des Krieges als vielmehr vom Ehrenkodex der Kombattanten abhängt. Mit den Mitteln des Kriegsvölkerrechts lässt sich offenbar nicht aufrechterhalten, was in der Sozialorganisation bewaffneter Verbände keine Grundlage hat.
Während in den klassischen Staatenkriegen die kriegsvölkerrechtlichen Bestimmungen zum Schutz der Zivilbevölkerung der Organisationsrationalität des militärischen Apparats mehr oder weniger stark entgegenkommen und entsprechend durchgesetzt werden, sind die in jüngster Zeit unternommenen Bemühungen um eine Weiterentwicklung und Differenzierung der kriegsrechtlichen Bestimmungen für die meisten der entstaatlichten Kriege folgenlos geblieben.
Kamen im Ersten Weltkrieg auf ein ziviles Opfer noch zehn getötete Soldaten, hat sich das Verhältnis heute nahezu umgekehrt. Kriege scheinen damit erneut mehr und mehr zu einer Angelegenheit von Gesellschaften als Ganzem gemacht zu werden. Diese „republikanische“ Sicht eines Jean-Jacques Rousseau, die keine Privatheit und daher auch keine Nonkombattanten kennt, erlebt in den heutigen Kriegstypen und Kampfformen eine Renaissance. Sollte sie weiter andauern, dürfte dies elementare Folgen für die Durchsetzbarkeit der Genfer Konventionen und des Völkerrechts haben.
Dr. Thomas Speckmann ist Historiker, Politikwissenschaftler und Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Potsdam.
Internationale Politik, Online exclusive, Juni 2021