Korruption als Quelle regionaler Instabilität
Wie fehlende Rechtsstaatlichkeit auf dem Balkan die EU-Erweiterung aufhält.
Wenn es um den Zusammenhang zwischen Korruption und regionaler Stabilität geht, kommen einem sofort Iran und Afghanistan in den Sinn. Wie diese Verbindung auf dem alten Kontinent wirkt, ist viel weniger bekannt – oder wurde, besser gesagt, viel länger missachtet. Und doch verdient die jüngste Geschichte Bulgariens und Nordmazedoniens besondere Aufmerksamkeit. Die beiden Länder spielen zwar nicht in derselben Liga wie Ungarn und Polen, wenn es um die Brüsseler Bedenken hinsichtlich ihrer Rechtsstaatlichkeit geht. Doch ihre Politiker gehören zu den jüngsten Neuzugängen auf der Sanktionsliste des Global Magnitsky Act der USA, eines Korruptionsindex, der nicht weniger wichtig ist als die Rechtsstaatsberichte der EU. Beide Länder hatten Regierungen, die aus Brüsseler Sicht anfangs vielleicht noch akzeptabel erschienen. Am Ende wirkten die Staaten allerdings auf Brüssel, als wären sie in die Hände von Kleptokraten gefallen. Nach außen taten sie aber immer noch so, als wären sie parlamentarische Demokratien mit wirksamer Gewaltenteilung.
Durch den Krieg in der Ukraine an der Ostgrenze der EU sind einige der Auswirkungen auf die regionale Stabilität sichtbar geworden, vor allem in Bulgarien. Dort wurden russische Pipelineprojekte, durch die die Ukraine aus dem Transitgeschäft gedrängt werden soll, so rasch erbaut wie sonst nur ein neuer Palast in einem Golf-Staat, der zum Geburtstag des Scheichs fertig werden soll. Bulgarien blockiert weiterhin die Aufnahme Nordmazedoniens in die EU, was den Jugoslawien-nostalgischen und prorussischen Wählern weiteren Zulauf verschafft.
Die Blockade hat ihre tieferen Ursachen in der jüngsten politischen Geschichte beider Länder. Es geht dabei um mehr als den offensichtlichen Zusammenhang mit dem Nationalismus als der letzten Zuflucht korrupter Balkan-Politiker. Kleptokratie und ungestrafte Korruption der Mächtigen sind kein Beiwerk, sondern eine Hauptzutat im Rezept für geopolitischen Zündstoff.
In den beiden Balkan-Staaten endeten Regierungssysteme, die über Jahrzehnte bestanden hatten, inmitten von öffentlichen Protesten, deren Slogans sich klar gegen die Korruption richteten. Geopolitisch gesehen, vollzog Nordmazedonien unter Nikola Gruevski eine beinahe komplette Kehrtwende. Es wandte sich Russland (und dessen engstem Verbündeten Serbien) zu und gestattete chinesischen Unternehmen, wichtige Infrastrukturprojekte zu bauen. Bulgarien hingegen blieb innerhalb der für die EU erträglichen Grenzen, gab aber den Gaspipeline-Projekten Vorrang, die Russland weiter mit dringend benötigtem Geld versorgen. Bulgarien gehört zudem – wenig überraschend – zu den Ländern, die der Ukraine keine Militärhilfe gewähren.
Bulgariens Fehde mit Nordmazedonien über Geschichte und Sprache war von dem Moment an unvermeidlich, als in Sofia 2017 eine nationalistische Dreierkoalition mit dem Namen Vereinte Patrioten ins Parlament gewählt wurde und dieses wiederbelebte. Sie war zu diesem Zeitpunkt als einzige willens, eine Koalition mit der korruptionsvergifteten GERB-Partei einzugehen, die bereits zwei Amtszeiten an der Macht verbracht hatte. Ataka, der kremlfreundlichste Teil der Koalition, wurde ohne viel Aufhebens ausgesondert, wodurch die neue Regierung für die EVP-Freunde und langjährigen Unterstützer von GERB leichter verdaulich wurde.
Es gab aber noch einen tiefergehenden Grund für diesen destruktiven Zuwachs nationalistischer Macht. Davor hatte GERB gemeinsam mit dem Reformisten-Block (ein Bündnis kleinerer liberaler und gemäßigt konservativer Parteien mit Rückhalt vor allem in den Großstädten) eine Mitte-rechts-Koalition geführt. Diese war gescheitert, nachdem sie es nicht geschafft hatte, eine versprochene Justizreform zu verabschieden. Ende 2015 schlug der Rücktritt von Justizminister Hristo Ivanov große Wellen, nachdem GERB sich geweigert hatte, die institutionelle Ausstattung des Generalstaatsanwalts einzuschränken.
Fassade einer Demokratie
All dies stellte nur die allerletzten Pinselstriche an einem verschandelten politischen Landschaftsgemälde dar. Dessen große Linien waren durch Tonbänder mit der Stimme von Ministerpräsident Bojko Borissow entstanden, die durchgesickert waren. Es zeigt die Fassade einer parlamentarischen Demokratie, regiert von einem Premier, der „unabhängigen“ Richtern und Aufsichtspersonen direkte Aufträge erteilt.
Die gescheiterten Reformen führten zur Aufspaltung der kleineren Partner von GERB und zum Beginn eines neuen politischen Unterfangens mit dem Namen Da Bulgaria. Als 2017 das nächste Mal gewählt wurde, erreichten die drei verbliebenen reformistischen Fraktionen jeweils weniger als 3 Prozent der Stimmen und schieden aus dem Parlament aus. Die Diskussion über die Korruptionsbekämpfung war erledigt, bis sie dreieinhalb Jahre später erneut auf den Protestzügen in Sofia ausbrach.
Um die Korruptheit der von Nikola Gruevski geführten Regierung von VMRO und DPMN (2006–2016) zu belegen, braucht es viel weniger Worte. Gruevski wurde zu zwei Jahren Gefängnis wegen Korruption und zu weiteren sieben Jahren wegen Geldwäsche und illegaler Aneignung von Staatseigentum verurteilt. Gruevski schuf mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln ein Netz von Korruption, Vetternwirtschaft und Machtmissbrauch. So war sein Vetter der Direktor der nationalen Spionageabwehr, die von der Opposition beschuldigt wurde, sie in großem Umfang abgehört zu haben. Im öffentlichen Beschaffungswesen uferte die Korruption aus, was ein weiterer Grund für die massiven öffentlichen Proteste des Jahres 2015 war, die zu Gruevskis Rücktritt führten.
Anders als sein bulgarischer Kollege unterschätzte Gruevski, wie viel Zeit und Aufwand es kostet, „Einflussnehmer“ im Justizsystem heranzuziehen und zu befördern. Die nordmazedonische Justiz ist alles andere als perfekt. Ihr werden oft politische Abhängigkeiten im Geiste des alten Jugoslawiens vorgeworfen. Aber das ist noch kein Grund um zu vermuten, dass politische Tendenzen bei den Urteilen gegen Gruevski eine Rolle gespielt hätten.
In Bulgarien führte die Toxizität von GERB als Koalitionspartner dazu, dass allein 2021 dreimal gewählt werden musste – so etwas hatte die junge Demokratie des Landes noch nicht erlebt. Aus Wahlmüdigkeit entstand im vergangenen Dezember eine Koalition von vier gegen die GERB verbündeten Parteien, die nur unter großen Schwierigkeiten zusammenbleiben. Die Koalition ist in der Frage des Ukraine-Krieges gespalten und strebt ein Embargo für russisches Erdöl an, vor allem, um der ehemals kommunistischen BSP-Partei einen Gefallen zu tun. Die Mitte-links-Regierung hat noch immer nicht die versprochenen Justizreformen zustande gebracht. Trotz ihrer Wahlversprechen hat sie bisher auch noch keinen neuen Vorsitzenden für die Antikorruptionskommission bestimmt. „Neuwahlen“ ist ein Begriff, den keine andere Koalition in ihren ersten vier Monaten an der Macht so häufig gehört hat. Wie soll sich die EU in einem solchen Umfeld erfolgreich erweitern?
Aus dem Englischen von Bettina Vestring
Internationale Politik Special 4, Juli 2022, S. 32-33