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25. Aug. 2014

Konfrontation mit Russland

... aber einen „neuen Kalten Krieg“ wird es nicht geben

Der russische Präsident Wladimir Putin hat sich für eine dauerhafte Abkehr vom Westen entschieden. Politisch, ideologisch, wirtschaftlich und auch militärisch muss sich der Westen auf eine anhaltende Konfrontation einstellen. Trotzdem wird es kein Zurück zum Kalten Krieg geben, denn die strukturellen Unterschiede zwischen damals und heute sind zu groß.

Im August 2014 machte das führende amerikanische Nachrichtenmagazin TIME mit dem Titel „Cold War II“ auf. Auch in Westeuropa wird in Diskussionen um die künftigen Beziehungen zu Russland immer wieder die Befürchtung einer Rückkehr zum Kalten Krieg geäußert.  Doch dazu wird es nicht kommen. Der größte Unterschied besteht darin, dass Europa nicht mehr das Zentrum einer globalen Auseinandersetzung ist.  Vor diesem Hintergrund hat Amerika nicht die Absicht eines „pivot to Europe“, also einer Achsverschiebung nach Europa. Europa ist daher selbst gefordert, die Hauptlast des neuen Konflikts zu tragen. Dieser wird politisch, ideologisch, wirtschaftlich und militärisch herausfordernd. Jedoch sind neue, nicht alte Antworten gefragt.

Kampf um Einfluss und Territorien

Kern des politischen Streites ist zum einen der westliche Anspruch, seine Werte für universell gültig zu erklären und jedem Staat – sofern er entsprechende Kriterien erfüllt – Zugang zu westlichen Strukturen zu gewähren. Zum anderen hegt Russland die Ambition, selber Machtzentrum eines in seinen Werten antiwestlich ausgerichteten Pols zu sein. Die Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion mit Kasachstan und Belarus steht im Zentrum dieser Bemühungen. Ziel ist die dauerhafte Aufnahme weiterer Nachbarländer in diesen Orbit.

Es ist nicht zu erwarten, dass dieser Interessengegensatz in nächster Zeit überwunden wird. Vielmehr ist mit einer Verhärtung zu rechnen. Der Westen hat sich im Zuge der Erweiterung von NATO und EU, und vor allem, weil er sich neue Erweiterungsrunden offenhält – so jedenfalls die russische Lesart – bereits tief in das russische Interessengebiet hineingefressen. Unzweifelhaft bildet die Ukraine den Nukleus dieser Auseinandersetzung. Sollte sie je zu einer wirtschaftlich florierenden, westlich orientierten und funktionierenden Demokratie werden, wären alle Moskauer Träume von der Errichtung einer antiwestlichen Einflusszone ausgeträumt. Mehr noch: Das derzeit unter Putin dominierende Modell einer mit dem Label „gelenkte Demokratie“ versehenen, antipluralistischen Klientelwirtschaft hätte ebenfalls keine Zukunft. Umgekehrt würde der Westen seine eigenen Werte verraten, würde er der (west-) ukrainischen oder georgischen Jugend, die nicht unter russische Kuratel zurückkehren wollen, die Tür vor der Nase zuschlagen.

In gewisser Hinsicht ist die heutige Situation sogar problematischer als während des Kalten Krieges. Grundlage der KSZE-Schlussakte von Helsinki, die 1975 von allen europäischen Staaten unterschrieben wurde, war die Anerkennung aller damals bestehenden Grenzen sowie das Versprechen, diese nur in gegenseitigem Einvernehmen zu verschieben. Davon sind wir heute weit entfernt. Im Zuge der jugoslawischen Nachfolgekriege wurden neue Staaten gegründet, ohne dass dies von allen europäischen Staaten gewollt war. Bis heute ist das Kosovo von vielen Ländern, darunter Russland, nicht anerkannt. Es kann daher nicht den Vereinten Nationen und weiteren internationalen Organisationen beitreten. Moskau selbst hat infolge des Georgien-Krieges 2008 mit Abchasien und Ossetien Entitäten geschaffen, die außer von ihm von kaum einer Regierung als Staat anerkannt werden. Schließlich hat Russland seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim selbst Außengrenzen, die keine internationale Akzeptanz finden. Mit anderen Worten: Es ist heute viel schwieriger, politisch korrekte Landkarten zu drucken, als anno 1975.

Zudem sollte man sich in Erinnerung rufen, dass Entspannungspolitik im Kalten Krieg erst möglich wurde, nachdem die „Claims“ von Washington und Moskau abgesteckt waren. Diese Grundlage fehlt heutzutage. Wichtiger Bestandteil der Entspannungspolitik waren ferner Abrüstungs- und Rüstungskontrollgespräche. Sie führten zwar – abgesehen vom INF-Vertrag von 1987, der mit den Mittelstreckenraketen eine ganze Kategorie von Atomwaffen verbot – nicht zu durchgreifenden Ergebnissen. Doch die Diskussionen selbst schärften das gegenseitige Verständnis über das Denken des jeweils Anderen. Überdies wurden gewisse Fortschritte im Bereich der militärischen Vertrauensbildung erzielt. Heutzutage ist die gesamte Abrüstungs- und Rüstungskontrollagenda quasi zum Erliegen gekommen. Moskau hat derzeit kein Interesse, über seine Atomwaffen zu verhandeln, da es sie als wichtige Attribute seines Großmachtstatus ansieht. Der fortdauernde Disput um die NATO-Raketenabwehr, die Russland als Bedrohung seiner strategischen nuklearen Zweitschlagfähigkeit ansieht, bildet ein weiteres, derzeit unüberwindliches Hindernis. Auch bei konventionellen Waffen herrscht seit Jahren Stillstand. Der Streit um nicht allgemein anerkannte Entitäten blockiert die Inkraftsetzung neuer Abkommen.

Zugleich existieren weiterhin Sphären des gemeinsamen Interesses zwischen dem Westen und Moskau. Am augenfälligsten wird dies im Zuge der Atomgespräche mit dem Iran. Hier ziehen die westlichen Partner und Moskau zumindest insofern an einem Strang, als beide Seiten eine iranische Bombe verhindern wollen. Zugegeben: Die Verhinderung der Verbreitung von Kernwaffen war schon während des Kalten Krieges ein gemeinsames west-östliches Interesse; nur deshalb wurde der 1970 in Kraft getretene Nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV) überhaupt ermöglicht. Doch könnten – ungeachtet gegensätzlicher Interessen hinsichtlich des syrischen Potentaten Baschar al-Assad - heute auch gemeinsame Interessen bezüglich bestimmter Regionen wie dem Mittleren Osten dort bestehen, wo es um die Bekämpfung terroristischer Akteure wie des „Islamischen Staates“ (IS) geht.

Eine neue ideologische Konfrontation

Wie Philip Stephens in der Financial Times unlängst zu Recht bemerkte, lag Francis Fukuyama mit seiner These vom Ende der Geschichte nur halb richtig: Die kapitalistische Produktionsweise hat global über alle anderen Reproduktionsmodelle obsiegt, jedoch haben Russland (und auch China) zugleich dem von der Demokratie weitgehend entkoppelten autoritären Kapitalismus zum Durchbruch verholfen. Während der Westen Demokratie, Rechtsstaat einschließlich des Schutzes des Einzelnen und von Minderheiten sowie Pluralismus und Individualismus hoch hält, denkt die russische politische Klasse zunehmend in sozialdarwinistischen und nationalistischen Kategorien. Von der in Russland immer mehr an Boden gewinnenden „eurasischen Schule“ werden nationale russische Werte der westlichen Denkweise  gegenüberstellt und ein Feldzug gegen Liberalismus und „westliche Dekadenz“ geführt. Im Westen - so heißt es - würden die Rechte des Individuums verabsolutiert, einem moralischen Relativismus gefrönt und religiöse Werte als rückständig verunglimpft. Die eigene Bevölkerung wird dementsprechend mit völkischer Propaganda zugekleistert. Nach außen wird die Zusammenarbeit mit rechtspopulistischen und nationalistischen Parteien in einer Reihe von westlichen Ländern gesucht, wobei die Kontakte zum immer einflussreicheren französischen „Front National“ von Marine Le Pen besonders herausragen.

Was die Wirtschaft anbelangt, verfügt Russland über keine Alternative im Sinne einer abgegrenzten, grundsätzlich anders orientierten kommunistischen Planwirtschaft mehr. Vielmehr ist Russland – ob es will oder nicht – unwiederbringlich Teil einer globalisierten, kapitalistischen Weltwirtschaft. Seine Oligarchenökonomie setzt auf den Verkauf von Rohstoffen, während zugleich die dringend erforderliche Modernisierung der Infrastruktur ebenso sträflich vernachlässigt wird wie das Bildungs- oder das Gesundheitssystem. Zudem hat Russland aufgrund  seiner beständig schrumpfenden und alternden (russischen) Bevölkerung ein gravierendes Demografieproblem.

„Keine Fulda Gap“ mehr

Der größte Unterschied zwischen dem Kalten Krieg damals und dem heutigen Konflikt ist die militärstrategische  Situation. Obgleich Moskau in den vergangenen Jahren seine Armee modernisierte und zumindest einige Einheiten mobiler und einsatzfähiger machte: Es gibt keine „Fulda Gap“ und keine Panzerarmeen mehr, die mit dem Erreichen des Rheins binnen weniger Tage nach Ausbruch von Kampfhandlungen planen. Wohl aber hat die Ukraine-Krise gezeigt, dass Moskau andere militärische Mittel erfolgreich einzusetzen weiß. Mittels infiltrierender Spezialkräfte und Desinformationskampagnen gelang es nicht nur, die Krim aus der Ukraine herauszulösen, sondern auch dauerhaft für Unruhe in der Ostukraine zu sorgen. Ferner könnte die NATO künftig mit begrenzten Herausforderungen, die jedoch Bündnisterritorium einschließen, konfrontiert werden. Diese könnten schwierig zu handhaben sein. Während des Kalten Krieges genügte ein „Stolperdraht“  aus zahlenmäßig den um sie herum gruppierten sowjetischen Divisionen massiv unterlegenen alliierten Truppen, um Moskau von einem Angriff auf Westberlin abzuhalten, da dieser aller Wahrscheinlichkeit nach den dritten Weltkrieg ausgelöst hätte. Gerade weil diese Gefahr etwa im Zuge einer Krise im und um das Baltikum, wo russische Minderheiten leben, nicht zwingend besteht, könnten begrenzte, auch militärische  Auseinandersetzungen mit Russland wahrscheinlicher werden.

Konturen neuer Antworten

Ideologisch gilt es, Russlands Versuche, über die Zusammenarbeit mit rechtspopulistischen Parteien möglichst viel Einfluss auf westliche Diskurse zu gewinnen, abzuwehren. Dies kann nur gelingen, wenn zugleich diesen Parteien und ihren oft fremdenfeindlichen Parolen der Boden entzogen wird. Dies wiederum setzt eine Wirtschaftspolitik voraus, die dem Abbau des Sozialstaats im Zeichen der Wirtschafts- und Finanzkrise Grenzen setzt.

Wirtschaftlich kommt es darauf an, sich einzugestehen, dass der Versuch, gegenseitige energiepolitische Abhängigkeiten zur Förderung westlicher Denkweisen in Russland zu nutzen, gescheitert ist. Vor allem Deutschland ist daher gefordert, sich aus dieser selbst gewählten Abhängigkeit zu lösen, um so neue Handlungsmöglichkeiten gegenüber Moskau zurückzugewinnen.

Militärisch führt kein Weg daran vorbei sicherzustellen, dass alle NATO-Mitglieder den gleichen Schutz genießen. Dies muss nicht unbedingt zu dauerhaften, zahlenmäßig starken Stationierungen von Bündnistruppen auf dem Gebiet neuer NATO-Mitglieder führen. Wohl aber kann dies heißen, die Fähigkeiten der NATO Response  Force anzupassen. Das Bündnis braucht eine neue Abschreckungsdoktrin, die auf regionale Bedrohungen etwa im Baltikum zugeschnitten ist und sich auch auf neue Bedrohungsformen wie die Tätigkeit von Spezialkräften unterhalb der militärischen Einsatzschwelle vorbereitet. Dies setzt eine Verständigung der NATO-Partner auf ein gemeinsames Bedrohungsszenario voraus.

Komplementär zum Aufbau einer neuen Abschreckung besteht die politische Herausforderung darin, trotz andauernder Territorialstreitigkeiten (man kann wegen des Krim-Landraubs nicht einfach zur Tagesordnung übergehen!) und obwohl die zwischen westlichen Strukturen und Russland mäandernden Staaten bis auf Weiteres keinen festen Halt finden werden, Möglichkeiten des politischen Dialogs mit Moskau auszuloten, was auch Fragen der Abrüstung, Rüstungskontrolle und der militärischen Vertrauensbildung einschließt.

Die kommenden Konfrontationsjahre mit Russland werden sich stark von den Tagen des Kalten Krieges unterscheiden. Insbesondere wird es sich nicht um einen weltumspannenden Konflikt mit Europa als Zentrum handeln. Dies hat Konsequenzen: Amerika sieht Russland als regionale Herausforderung, die anderen Brennpunkten – vor allem mit Blick auf Asien – eher nachgeordnet ist.  Europa – und hier insbesondere Deutschland – werden daher die Hauptlast der neuen Auseinandersetzung tragen müssen.

Dr. Oliver Thränert leitet den Think Tank am Center für Security Studies der ETH Zürich und ist Senior Fellow (Non-Resident) der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

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