Kommt es zum Bruch?
Die Beziehungen zwischen Israel und der jüdischen Diaspora sind auf einem Tiefpunkt angelangt
Es war ein außenpolitischer Erfolg von US-Präsident Donald Trump: Im September nahmen erst die Vereinigten Arabischen Emirate, dann auch Bahrain diplomatische Beziehungen zu Israel auf – ein Durchbruch für die israelische Außenpolitik und eine Bestätigung für Trump als unkonventionellen Dealbroker, der auf „WhatsApp-Diplomatie“ setzt. Weitere Staaten dürften folgen: Ein Sprecher der sudanesischen Regierung erklärte, Khartum könne sich eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel vorstellen; Libanons Präsident Michel Aoun sprach vorsichtig von der Möglichkeit eines Friedensvertrags.
Die neue Politik könnte nicht nur Frieden in der Region schaffen: Die Einigung zwischen Jerusalem und Abu Dhabi könnte auch den finalen Bruch der Beziehungen zwischen Israel und der jüdischen Diaspora verhindern, der sich in den vergangenen Jahren angebahnt hatte. Denn Ärger und Wut über die Politik der israelischen Regierung kamen zuletzt vor allem aus New York, Paris und Berlin, wurden in London, São Paulo und Budapest auf die Straße getragen: von Verbündeten, die sich von Israel entfremden.
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, glaubt jedoch nicht an eine Entfremdung: „Ein Konflikt oder eine Abkühlung der Beziehungen zwischen hier lebenden Juden und Israel ist nicht zu beobachten.“ Und die israelische Ministerin für Diaspora-Angelegenheiten, Omer Yankelevich von der Blau-Weiß-Partei, möchte sich erst gar nicht zu der Frage äußern. Dabei lässt der Blick auf jüngste Entwicklungen kaum einen anderen Schluss zu als den, dass sich die Beziehungen dramatisch verschlechtert haben. Der israelische Journalist Anshel Pfeffer warf Premierminister Benjamin Netanjahu sogar vor, „alles zu tun, um die Beziehung zu sabotieren“.
Die Beziehungen zwischen Israel und der jüdischen Diaspora spielen seit der Staatsgründung – und durch die zionistische Bewegung bereits zuvor – eine wichtige Rolle im Selbstverständnis des jüdischen Staates. Die Schicksale der Diaspora und Israels sind bis heute untrennbar miteinander verbunden. Unmittelbar nach der Staatsgründung hatten die Gründerväter noch versucht, sich von der Diaspora zu distanzieren: Der Aufbau Israels sollte Hand in Hand mit der Schaffung des „neuen Juden“ in einer „erneuerten jüdischen Gesellschaft“ gehen. Die Diaspora passte nicht in dieses Konzept und stand, so die damalige Einstellung – durch das Schicksal der europäischen Juden in der Schoah – eher für die Schwäche, Wehrlosigkeit und Verfolgung von Juden. Die Erschaffung des „wehrhaften neuen Israeli“ habe zu jener Zeit zu „einem Verlust des Gefühls einer Bindung zum größeren jüdischen Volk geführt“, so die ultra-orthodoxe Ministerin. Folglich versuchten die ersten Regierungen, den Einfluss der Diaspora auf den jüdischen Staat so gering wie möglich zu halten.
Insbesondere die Unterstützung des jungen Staates durch die jüdische Diaspora in den USA – und das weitreichende Potenzial, das darin gesehen wurde – führte jedoch dazu, dass sich die Stimmung in Israel wendete. Man erkannte, dass die Diaspora wertvolle Hilfe leisten und wichtigste Stütze Israels im Ausland werden könnte. Jahrzehntelang war das Verhältnis klar: Israel profitierte von der Diaspora, die ihm materiell und politisch zur Seite stand, und die Diaspora konnte sich darauf verlassen, in Zeiten erneuter Verfolgung in Israel Sicherheit zu finden. Für Schuster ist es dieses Vertrauen in Israel, das auch in der Gegenwart Israels Bedeutung für jüdische Deutsche ausmacht. So werde dieser Staat nach wie vor „als Rückversicherung betrachtet, als sicherer Hafen“.
Doch die Zeiten, in denen das Überleben des jüdischen Staates auch auf der Unterstützung durch die Diaspora beruhte, sind vorbei. Israel hat sich als mächtiger, wohlhabender und starker Player in der Region etabliert, der selbstbewusst einen Platz in der internationalen Arena einnimmt. Es ist damit auf materielle und politische Unterstützung der Diaspora kaum mehr angewiesen. Dabei sei Israel ein Staat, der „nicht nur seinen Bürgern [dienen soll], sondern als Nationalstaat aller Juden“ gegründet wurde, so Yankelevich. Somit habe Israel die Verpflichtung, auf die Bedürfnisse und Anliegen des gesamten jüdischen Volkes einzugehen.
Realpolitik geht vor
Doch die derzeitige Politik von Premier Netanjahu wird im Ausland als gegenteiliges Signal empfunden: Der israelischen Regierung scheinen realpolitische Beziehungen derzeit wichtiger zu sein als der Bund zur Diaspora, wie Vertreter der Diaspora bemängeln. Zwar wird in der Forschung diskutiert, ob die Diaspora für Israel wieder wichtiger werden könnte, sollte das Land in massive wirtschaftliche oder außenpolitische Schwierigkeiten geraten. Doch aktuell haben sich der Regierungschef und sein Kabinett klar entschieden: Realpolitik geht vor. Und in dieser Realpolitik ist die Diaspora 2020 nicht mehr relevant genug.
Deutlich wird diese Spannung durch die Bündnispolitik und Staatsbesuche Netanjahus: Mit Politikern wie dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro und dem ungarischen Premier Viktor Orbán pflegt Netanjahu ein freundschaftliches Verhältnis – sehr zum Missfallen der jüdischen Gemeinden dieser Staaten. Aus Brasilien war wiederholt Kritik zu hören, Bolsonaros israelfreundliche Politik sei nur darauf ausgerichtet, evangelikale Wähler anzusprechen. Jüdisches Leben – und dessen Schutz – in dem südamerikanischen Land spiele in seiner Politik hingegen keine Rolle.
Noch deutlicher wird dieser Bruch in der Beziehung zu Orban. Der ungarische Premier und die Fidesz-Partei bedienen sich in ihrem Kampf gegen George Soros regelmäßig antisemitischer Stereotype, um das Bild eines übermächtigen Strippenziehers mit Kontrolle über die Finanzwelt zu zeichnen. Andras Heisler, Vorsitzender des Nationalrats der jüdischen Gemeinden in Ungarn, wurde in ähnlicher Manier auf der Titelseite eines regierungsnahen Magazins gezeigt: umgeben von Geldscheinen. In Budapest verbat man sich die Kritik, diese Abbildung bediene antisemitische Ressentiments.
Auch die unterschiedliche Bewertung der Präsidentschaft Donald Trumps von Juden in Israel bzw. in der Diaspora zeigt den Bruch auf: Die Mehrheit der amerikanischen Juden unterstützt Trump nicht und kann sich mit seiner Politik – auch mit Blick auf den Nahen Osten – nicht identifizieren. In Israel wird Trump hingegen versöhnlicher betrachtet; dort ist man für seine Israel-Politik dankbar, die als Stärkung der Rolle Israels in der Region und der internationalen Politik gesehen wird.
Doch es ist nicht nur die eigentümliche Außenpolitik der Netanjahu-Regierung, die in weiten Teilen der Diaspora auf Unverständnis stößt: Auch der Umgang mit den Palästinensern sorgt für Konflikte. So befürwortet der Großteil der Diaspora eine Zwei-Staaten-Lösung, in der die Palästinenser ihren eigenen Staat bekommen. Das Fehlen eines realistischen Friedenplans und die Weiterführung des Siedlungsbaus erschweren es der Diaspora weiter, uneingeschränkte Solidarität mit Israel zu zeigen. In Jerusalem ist man sich bewusst, dass die Annexion von Teilen des Westjordanlands zu einem finalen Bruch führen könnte. Doch das wird eher gleichgültig betrachtet. Bezeichnend ist auch, dass die Abkühlung der Beziehungen zwischen Israel und der Diaspora in der hebräischsprachigen Presse Israels kaum Aufmerksamkeit findet. Und Wahlen lassen sich mit einer Politik, die im Ausland auf Beifall stieße, in Israel nicht gewinnen.
Die Annexion von Teilen des Westjordanlands liegt durch das Friedensabkommen zwischen Israel und den VAE erstmal auf Eis: Käme es in dieser Frage zu einer Politikwende, wäre das aber kein Erfolg der Diaspora. Die Politik gegenüber den Palästinensern und Netanjahus Freundschaften mit Staatsmännern, die mit autoritärer Herrschaft liebäugeln, reichen schon, um weltweit die Krise zwischen Israel und der Diaspora zu verschärfen.
Mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten
Um den Konflikt zu verstehen, bedarf es einer Betrachtung der unterschiedlichen Wertekodexe, die unter israelischen Juden sowie in der Diaspora vertreten und gelebt werden. Die Diaspora ist selbstverständlich keine homogene Gruppe; doch es lassen sich politische Werte finden, die von einem Großteil dieser Gemeinschaft geteilt werden.
Die jüngsten Knesset-Wahlen haben erneut unterstrichen, dass Israel von einer konservativen, auf traditionellen und religiösen Werten bauenden Wählerschaft dominiert wird. Weite Teile der Diaspora verfolgen hingegen eine integrationistische Politik gegenüber westlichen Gesellschaften. Während die Mehrheit der Diaspora und insbesondere die lautstarken, einflussreichen Gruppen vorwiegend europäisch-amerikanisch geprägt sind, wird die israelische Gesellschaft zunehmend orientalisch-jüdisch.
Diese Kluft führt zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Verständnissen. Westliche Gesellschaften, in denen die überwiegende Mehrheit der Juden der Diaspora lebt – allein in den USA leben laut Berman Jewish DataBank der Stanford Universität rund zwei Drittel –, sind weitgehend individuell orientiert, während die israelische Gesellschaft in der Forschung als Gefüge einer sozialen, jüdischen Kollektivität beschrieben wird.
Über eine gemeinsame Zukunft des jüdischen Volkes – ob es in Israel lebt oder im Ausland– zu reden, ist kompliziert: Yankelevich betont die „historische, bedeutende, tiefe Verbindung“ zwischen Israel und der Diaspora, die dazu führe, dass man eine „gemeinsame Zukunft“ aufbaue. Während in Israel allerdings die Betonung des nationalen Gefüges im Vordergrund steht, definiert sich jüdische Kultur in der Diaspora häufig über religiöse Zugehörigkeit: Die nationale Bindung zu Israel spielt – selbstverständlich – kaum eine Rolle. Der Aufstieg Israels zur Regionalmacht hat zu diesen Identitätsbrüchen beigetragen. Israel weitet seinen Einfluss aus; die Diaspora kämpft zeitgleich darum, eine gemeinsame Identität zu wahren.
Religiöse Legitimitätsdebatten
Doch der Bruch zwischen der aktuellen israelischen Regierung und der jüdischen Diaspora ist nicht zwingend politischer oder identitärer Natur. Das zeigen die Western-Wall-Proteste eindrucksvoll. An der Klagemauer, auch als Kotel oder Western Wall bekannt, treten die Spannungen dieses außergewöhnlichen Konflikts auf. Regelmäßig kommt es dort zu Demonstrationen, physischen Übergriffen und Festnahmen. Der Konflikt in Jerusalem ist eine innerjüdische Angelegenheit und tobt zwischen denen, die eine orthodoxe Auslegung des Judentums befürworten, und jenen, die eine liberale, reformorientierte Form ihrer Religion sehen wollen. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Frage, wer wann, wie und wo beten darf. Den Konflikt auf ein israelisches innerstaatliches Problem zurückzuführen, wäre allerdings zu kurz gegriffen. In Jerusalem geht es auch darum, welche Rolle Juden aus der Diaspora im jüdischen Staat einnehmen können.
Die Frage, wer die Vormachtstellung an der Kotel hat und wie von wem dort gebetet werden kann, ist seit Jahren ein Politikum in Israel. Konflikte kamen erstmals 1989 auf, als Frauenrechtsorganisationen in Israel begannen, bei öffentlichkeitswirksamen Protesten an der Western Wall zu fordern, dass Frauen – anstatt wie bis heute lediglich in einem kleinen separaten Bereich – an der gesamten Mauer beten dürften. Zudem wurde für Frauen die Aufhebung des ultraorthodoxen Verbots für lautes Beten, das Lesen der Tora an der Kotel und das Tragen des traditionellen Gebetsschals (Tallit) gefordert.
In den vergangenen Jahren kam die Diaspora ins Spiel: In weiten Teilen nichtorthodox, übernahmen deren Vertreterinnen und Vertreter die Forderungen der „Women of the Wall“ und setzten sich für die Öffnung der heiligsten Stätte im Judentum ein. Zwischenzeitlich schien es so, als habe man eine Lösung gefunden: Im Januar 2016 einigten sich Vertreter des orthodoxen Großrabbinats in Israel mit der Regierung auf die Einrichtung eines Gebetsbereichs an der Kotel, in dem Frauen und Männer gemeinsam beten durften. Doch knapp 18 Monate später kippte das Kabinett den Vorschlag nach Protesten der ultraorthodoxen Parteien.
Der Streit um die Klagemauer führt regelmäßig zu Protesten von Diaspora-Gruppen und feministischen Gruppen Israels. Von nichtorthodoxen Juden wird die mangelnde Kompromissbereitschaft der Regierung als Zeichen mangelnden Respekts gegenüber nichtorthodoxen Juden betrachtet. Aber es wäre zu einfach, dies auf Netanjahus Suche nach Wählerstimmen zu reduzieren. Mit derartiger Politik können (ultra-)orthodoxe Stimmen gewonnen und Parteien zu Koalitionen bewegt werden. Doch das Problem geht tiefer: Legitimitätsdebatten und der Kampf um Deutungshoheiten sind Teil dieses Konflikts. Es geht auch darum, welche politischen Strömungen Eingang in die Gesellschaft finden und als legitim gelten.
Die Legitimitätsdebatte wurde durch die Reaktionen auf den antisemitischen Anschlag auf die Tree of Life-Synagoge in Pittsburgh im Oktober 2018 ins mediale Zentrum gerückt, bei dem elf amerikanische Juden ermordet wurden. Die Weigerung des aschkenasischen Oberrabbiners Israels, David Lau, das Tree of Life-Gemeindezentrum als Synagoge zu bezeichnen und stattdessen von einem Ort mit „tiefgreifender jüdischer Prägung“ zu sprechen, sorgte für Streit. Lau hatte den Begriff Synagoge vermieden, da der Tatort kein orthodoxes Gotteshaus war.
Die Kontroverse um die Anschläge in Pittsburgh markierte ein weiteres Kapitel im jüngsten Konflikt zwischen (hauptsächlich amerikanischen) Diaspora-Juden und der israelischen Regierung und Vertretern ihrer religiösen Institutionen.
Die Frage nach einem Bruch zwischen Israel und der Diaspora ist insbesondere im US-Wahljahr 2020 spannend: Zwar ist unter der Trump-Regierung klar geworden, dass es bei der Israel-Politik nicht darum geht, jüdische Wähler zu aktivieren – hier stehen Evangelikale im Fokus. Dennoch kann eine potenzielle Verschiebung von wahlentscheidenden Fragen für die jüdische Bevölkerung, die knapp 2 Prozent der US-Wählerschaft ausmacht, nicht außer Acht gelassen werden.
Mit Interesse und Sorge
Die Beziehungen zwischen Israel und der jüdischen Diaspora mögen an einem historischen Tiefpunkt angelangt sein. Israel bewegt sich politisch in eine Richtung, mit der sich weite Teile der Diaspora nicht identifizieren können. Doch dass sie Israel ganz den Rücken kehren werden, erscheint zumindest hinsichtlich der Funktion Israels als sicherer Hafen in Zeiten von Ungewissheit und möglicher Verfolgung unwahrscheinlich.
Für Josef Schuster ist die Zukunft klar: Israel werde für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland seine „seit jeher wichtige Rolle“ auch weiter spielen. „Die Beziehungen zwischen in Deutschland lebenden Juden und Israel“ seien sehr eng, „schon allein, weil viele in Israel Verwandte haben und regelmäßig nach Israel reisen“. Omer Yankelevich spricht davon, dass es „Schmerz und Hass“ auf beiden Seiten gegeben habe.
Die Kluft zwischen der westlich geprägten Diaspora und einer immer stärker orientalisch-jüdischen Gesellschaft in Israel schafft eine kulturelle Abweichung mit langfristigen Folgen. Dennoch zeigen Studien, dass die überwiegende Mehrheit der Juden in der Diaspora trotz des angespannten Verhältnisses die Bindung zu Israel nach wie vor für wichtig hält. So stimmten laut einer Umfrage des Jewish People Policy Institute jeweils zwei Drittel der amerikanischen und französischen Juden der Aussage zu, dass „Interesse an und Sorge für Israel ein wichtiger Bestandteil ihrer Identität als Juden“ ausmache. Juden in der Diaspora interessieren sich also weiterhin für Israel. Nur gefällt ihnen längst nicht alles mehr, was sie sehen.
Benjamin Brown ist britisch-deutscher Journalist und Student der Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Geschichte. Er arbeitete u.a. für die dpa, den Tagesspiegel, die ARD, die Israelische Nachrichtenagentur. Nach Abschluss seines Studiums an der Ludwig-Maximilians-Universität München wird er an der University of Oxford einen MSc in „Modern Middle Eastern Studies“ absolvieren.
Internationale Politik Special 2, November 2020, S. 22-27