Kleines Wirtschaftslexikon Großbritannien
#BBC & Co.
BBC & Co.
Jahrelang stand die British Broadcasting Corporation quasi synonym für britische Medien schlechthin. Heute sieht sich das Traditionshaus von der Digitalisierung überholt. Zwei Wirt-schaftszeitungen haben ihm den Rang als globale Meinungsmacht abgelaufen.
Eine Stimme für die Freiheit wollte der Unternehmer James Wilson schaffen, als er in London das Wirtschaftsmagazin The Economist gründete. Das Magazin sollte teilnehmen „am harten Wettstreit zwischen Intelligenz, die nach vorne drängt, und einer unwürdigen, scheuen Ignoranz, die unseren Fortschritt bremst“. 1843 war das, als in Großbritannien gerade die Debatte um die Corn Laws, hohe Einfuhrzölle auf Getreide, tobte. Den Economist gibt es auch 173 Jahre später noch, und es geht ihm so gut wie nie zuvor.
Seine beste Zeit erlebt das britische Wirtschaftsmagazin mit den dünnen Seiten ausgerechnet jetzt, inmitten der großen Medienkrise. Überall kämpfen Zeitungen und Magazine ums Überleben, weil Auflagen sinken und Werbeerlöse fallen. Selbst jahrhundertealte Traditionstitel haben Probleme, seit es Nachrichten, Reportagen und Analysen schneller und in ähnlicher Qualität kostenlos im Internet gibt. Nicht so der Economist: Die Auflage des Magazins aus London ist in den vergangenen zehn Jahren um 65 Prozent gestiegen, inzwischen haben 1,6 Millionen Menschen in 200 Ländern das Heft abonniert.
Überraschend ist der Erfolg des Economist vor allem deshalb, weil das Heft auf den ersten Blick ziemlich altbacken daherkommt. Statt immer größerer Bilder und Grafiken dominiert im Economist der Text. Doch der erste Eindruck täuscht: Die Zeitschrift hat die Digitalisierung der Medienwelt besser verstanden als die meisten anderen Medien.
Um das klassische Heft herum hat die Redaktion zahlreiche weitere Vertriebskanäle aufgebaut. Als eines der ersten Printmedien hatte der Economist eine ausgereifte und stabile App im Angebot. Die Redakteure posten ihre Texte auf Twitter und Facebook, sie machen Video-Interviews und Audio-Podcasts, auf der Webseite gibt es zahlreiche Blogs.
Dabei hat der Economist von Anfang an eine klare Strategie verfolgt: Für sämtliche Inhalte muss man auch auf der Webseite zahlen. Nach drei Gratisartikeln greift die Bezahlschranke und Leser werden aufgefordert, ein Abo abzuschließen. Die Leser sind es daher gewohnt, für journalistische Inhalte zu bezahlen, ein entscheidender Unterschied zu anderen Zeitungen, die anfangs alle Inhalte kostenlos ins Netz stellten und jetzt Probleme haben, Bezahlmodelle einzuführen, ohne Leser zu verlieren.
Vor allem aber hat man beim Economist verstanden, dass die Kanäle am Ende zweitrangig sind. Leser gewinnt man durch guten Inhalt. Die Artikel im Economist sind nicht lang, dafür aber vollgepackt mit Informationen. Wer sich schnell auf den neuesten Stand bei einer wichtigen Nachricht bringen will, bekommt hier ein dichtes Konzentrat, geschrieben in einem lockeren Stil. Meinungsbeiträge sind mutig und konstruktiv. Damit trifft das 173 Jahre alte Magazin genau den Geschmack der Zeit.
Das gilt auch für die Tageszeitung Financial Times, die ebenfalls zu den erfolgreichsten Medien der Welt gehört. Als der damalige Eigentümer, die Verlagsgruppe Pearson, die FT im Juli vergangenen Jahres zum Verkauf anbot, setzte ein wahres Wettbieten um die Zeitung mit dem rosafarbenen Papier ein. Auch der deutsche Axel-Springer-Verlag war bereit, viel Geld in die Hand zu nehmen. Doch es reichte nicht, am Ende bekam die japanische Mediengruppe Nikkei den Zuschlag – für 1,2 Milliarden Dollar. Dass eine Tageszeitung noch so viel wert sein kann, war eine große Überraschung.
Wie der Economist hat auch die Financial Times von Anfang an eine Bezahlschranke für Online-Texte eingeführt, auch sie lockt Leser mit kostenlosen Blogs. Das ist aber nur die technische Seite. Die FT lebt vor allem von ihrem Status als Pflichtlektüre für die Finanzbranche. In Banken, Versicherungen und an den großen Börsen ist sie Leitmedium, meistens vor lokalen Konkurrenten wie in Deutschland dem Handelsblatt. Dabei profitiert die Zeitung von ihrer Nähe zum Finanzplatz London. Anders als der Economist, der auch über Kultur, Gesellschaft und Wissenschaft schreibt, konzentriert sich die FT vollständig auf Finanz- und Wirtschaftsthemen sowie die große Weltpolitik. Das aber macht sie so gut, dass viele, die täglich über Investitionen und neue Gesetze entscheiden, auf die Informationen aus der FT nicht verzichten wollen.
Ein anderes britisches Weltmedium, die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt BBC, verlor dagegen zuletzt etwas von altem Glanz. Zwar gehört „Tantchen“ („Auntie“) zu den beliebtesten nationalen „Schätzen“, ihre Fernsehprogramme und -formate verkaufen sich in aller Welt, und sie erreicht gerade mit ihren – kostenfreien – Nachrichtenangeboten mittlerweile ein globales Publikum von mehr als 300 Millionen Menschen. Doch der Missbrauchsskandal um Jimmy Saville, der erst nach dem Tod des pädophilen Entertainers ans Licht kam, hat der BBC ebenso zugesetzt wie Einsparungsvorschriften der Regierung Cameron, der die angeblich linksliberale BBC auch politisch ein Dorn im Auge ist. So wurden die Rundfunkgebühren eingefroren und der Anstalt die Finanzierung des BBC World Service aufgebürdet, den zuvor das Foreign Office finanziert hatte. Im vergangenen Juli kündigte BBC-Chef Tony Hall ein drastisches Sparprogramm an: Mehr als 1000 Angestellte müssen gehen – was vor allem auf Kosten des Journalismus gehe, kritisierte dieGewerkschaft NUJ.
Malte Buhse
Fabrik-Sterben
➞ Kein anderes europäisches Land hat in den vergangenen Jahrzehnten eine derart radikale Deindustrialisierung betrieben wie das Mutterland der industriellen Revolution. Nun will die Regierung umsteuern – doch das wird nicht einfach.
Rauchende Schornsteine, riesige Schiffswerften, Hochöfen – so sah lange der Norden Englands aus. Manchester, Liverpool und Sheffield gehörten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den wichtigsten Industriemetropolen der Welt. Auf seine Arbeiter war Großbritannien stolz, britische Industrieprodukte waren Weltspitze. Und nicht zuletzt war das Ganze ja eine britische Erfindung: Hier, in der Textilindustrie, hatte die industrielle Revolution im 18. Jahrhundert ihren Anfang genommen.
Doch wie die ersten mechanischen Webstühle sind auch die großen Fabriken und Werften inzwischen ein Kapitel im britischen Geschichtsbuch. Kein anderes europäisches Land hat in den vergangenen Jahrzehnten eine derart radikale Deindustrialisierung erlebt wie das Mutterland der industriellen Revolution.
1948 betrug der Anteil der Industrie am britischen Bruttoinlandsprodukt noch 41 Prozent, 2013 waren es lediglich 14 Prozent. In Großbritannien wird längst nicht mehr produziert, sondern vor allem verwaltet, beraten und verkauft. Mit fast 80 Prozent am BIP ist der Dienstleistungssektor inzwischen die wichtigste Branche. Der Wandel vom Industrie- zum Dienstleistungsland war kein Zufall, sondern wurde sorgfältig geplant. Den ersten Schritt machte in den achtziger Jahren Margaret Thatcher, die die damals kriselnde Wirtschaft in eine neue Zeit führen wollte. Nahezu alle ihre Nachfolger setzten diesen Kurs fort.
Tatsächlich sahen die britischen Regierungen und ihre Berater große Trends der Weltwirtschaft bereits früh voraus: den Aufstieg der Schwellenländer, die Globalisierung, die Digitalisierung. Man wollte einen Schritt schneller sein und etwas Neues aufgebaut haben, bevor die Industriejobs in die Schwellenländer mit ihren niedrigeren Arbeitskosten abwanderten. Schon in den späten neunziger Jahren nahm sich die Regierung von Tony Blair das Silicon Valley zum Vorbild.
Auf den ersten Blick war diese Strategie erfolgreich: Großbritannien gehörte in den vergangenen 20 Jahren stets zu den am stärksten wachsenden Ökonomien Europas. Auch von der Finanzkrise erholte sich das Land erstaunlich schnell. 2014 lag das Wirtschaftswachstum bei 2,9 Prozent, für 2015 gingen die Prognosen von ebenfalls über 2 Prozent aus.
Doch der erste Blick täuscht, denn die radikale Umstellung der britischen Wirtschaft hat ihren Preis: Das Land ist abhängig geworden von einigen wenigen, sehr erfolgreichen Dienstleistungsbranchen. Denn so richtig aufgegangen ist der Plan von der „New Economy“ nicht. London besitzt zwar eine erfolgreiche Start-up-Szene, doch die schafft nur Arbeit für einige wenige Spezialisten, vor allem aus dem IT-Bereich.
Die einzige Branche, die die hohen Erwartungen erfüllt hat, ist der Finanzsektor. Banken und Versicherungen erwirtschaften inzwischen 10 Prozent des britischen BIP. Rechnet man die zahlreichen Dienstleistungsunternehmen dazu, die von der Finanzindustrie abhängen, ist der Beitrag sogar noch größer. Das Herz der britischen Wirtschaft schlägt längst nur noch an einem Ort: in der City of London.
Lange hat sich darum niemand allzu große Sorgen gemacht. Inzwischen aber gibt es immer mehr Politiker und Ökonomen, die eine Re-Industrialisierung Großbritanniens fordern. Denn vor allem die sozialen Folgen des Niedergangs der Industrie sind unübersehbar. Keine der neuen Branchen hat die gut bezahlten und für breite Bevölkerungsschichten zugänglichen Fabrikjobs ersetzen können.
Eine Umschulung zum Banker war für die meisten Arbeiter keine Option, viele Arbeiterfamilien haben einen tiefen Abstieg hinter sich. Immer öfter fällt das Wort von der „lost generation“.
Vor allem beim Blick nach Deutschland merken viele Briten, dass sich das Land verfrüht von der Industrie verabschiedet hat. Mit erfolgreichen Industrieunternehmen wie Siemens oder den Automobilherstellern ist Deutschland zur viertgrößten Volkswirtschaft der Welt geworden. Und bietet dank seines Ausbildungssystems zahlreiche stabile Arbeitsplätze, für die man keinen akademischen Abschluss benötigt.
Schon in seiner ersten Amtszeit hat Premierminister David Cameron angekündigt, die britische Industrie stärken zu wollen. Doch die Reindustrialisierung des ehemaligen industriellen Vorzeigelands wird nicht einfach werden. Nach Jahrzehnten der Vernachlässigung ist das Land auf dem wettbewerbsintensiven Weltmarkt für Industrieprodukte abgehängt. Der Niedergang großer Industriebetriebe hat auch die Netze von Zulieferern zerstört. Das alles so wieder aufzubauen, dass man mit Deutschland und Frankreich auf der einen und den Schwellenländern auf der anderen Seite konkurrieren kann, wird sehr schwierig und langwierig. Bis auf Weiteres wird Großbritannien daher das Land der Banken und Berater bleiben.
Malte Buhse
Generation Rent
Wer in Londons City wohnen möchte, sollte Kosten um die 4000 Euro nicht scheuen. Doch der Mangel an bezahlbarem Wohnraum ist nicht auf die britische Hauptstadt be-schränkt. Die Heimat des „My home is my castle“ wird zum Mieterland.
Wer im Londoner Großstadtdschungel Orientierung sucht, dem hilft normalerweise ein Blick auf den U-Bahn-Plan. Dort sieht man die 270 Haltestellen auf einen Blick und erfährt, mit welcher Linie der Tube man an sein Ziel kommt. Seit kurzer Zeit gibt es eine kleine Abwandlung der Karte, die Orientierung auf einem anderen unübersichtlichen Terrain geben soll: dem Londoner Wohnungsmarkt.
Neben dem Namen jeder Haltestelle findet man darauf eine Zahl, die die mittlere Monatsmiete für ein Ein-Zimmer-Apartment im Umkreis von einem Kilometer der jeweiligen Tube-Station angibt. Und so viel sei verraten: Die Zahlen sind hoch. Direkt im Zentrum an den Haltestellen Hyde Park Corner oder Knightsbridge kratzen die Preise an der 4000-Euro-Marke (ca. 3000 Pfund). Nur ein Viertel der U-Bahn-Haltestellen sind von Apartments umgeben, deren durchschnittliche Miete bei weniger als 1300 Euro (1000 Pfund) im Monat liegt.
Die Karte ist bezeichnend überschrieben: „Wo Sie sich das Wohnen nicht leisten können, Haltestelle für Haltestelle.“ Und sie zeigt, dass London ein Problem hat. Es gibt zu wenig bezahlbaren Wohnraum. Damit steht die Hauptstadt stellvertretend für ein Phänomen, das im gesamten Vereinigten Königreich immer ausgeprägter wird. „Housing Crisis“ nennen es Politiker, Wissenschaftler und andere Experten. Die National Housing Federation hat vor Kurzem auf der Grundlage von Zahlen der europäischen Statistikbehörde Eurostat ausgerechnet, dass Mieter in Großbritannien 40 Prozent des Einkommens für ihre Unterbringung aufwenden müssen. In keinem europäischen Land liegt dieser Anteil höher. Die hohen Mieten sind allerdings nur ein Symptom eines tieferliegenden Missstands.
Seit Jahrzehnten werden in Großbritannien zu wenige neue Wohnungen und Häuser gebaut. In einem BBC-Bericht, der sich ebenfalls auf Zahlen der National Housing Federation beruft, wird der Bedarf an neuen Wohnungen auf 250 000 im Jahr geschätzt, nur um die Nachfrage zu decken. In den Jahren 2011 bis 2014 hätte man dementsprechend fast eine Million neuer Wohnungen bauen müssen. Tatsächlich entstanden aber weniger als die Hälfte davon. Die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage wächst immer weiter.
Das führt dazu, dass die Preise für Wohnungskäufer steigen. Die Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC) schätzt in einer aktuellen Studie, dass die Wohnungspreise im Jahr 2015 um 5 Prozent gestiegen sind. Diese Entwicklung werde bis 2020 so weitergehen. Die Folge der steigenden Preise bei gleichzeitig stagnierendem Angebot: Immer weniger Menschen können es sich leisten, die erste Stufe der umgangssprachlichen „housing ladder“ zu erklimmen, also der Leiter, an deren Ende die eigene Immobilie steht. Und sie werden auch deshalb zum Mieten gezwungen, weil ihre Löhne nicht im selben Maß gestiegen sind wie die Kaufpreise.
Die Zahl der Haushalte, die privat eine Wohnung mieten, lag im Jahr 2001 bei 2,3 Millionen und hat sich bis 2014 auf 5,4 Millionen mehr als verdoppelt. Bis 2025, so schätzen die Berater von PwC, werden noch einmal 1,8 Millionen Haushalte dazukommen. Besonders stark ist diese Entwicklung in der Altersgruppe der 20- bis 39-Jährigen zu beobachten, von denen bis zum Jahr 2025 die Hälfte zur Miete wohnen wird. „Generation Rent“ wird diese Kohorte bereits genannt, und ihre Zahl werde weiter steigen, sagen die PwC-Experten voraus.
Das Problem ist auch in der Politik angekommen. Im vergangenen September läutete Jeremy Corbyn, der Oppositionsführer der Labour-Partei, die traditionelle Fragestunde des Premierministers David Cameron mit einer Bemerkung zur Wohnungsbaukrise ein. Cameron antwortete darauf: „Wir müssen in unserem Land bezahlbaren Wohnraum schaffen. In der vergangenen Legislaturperiode konnten wir 260 000 Wohneinheiten bereitstellen. Aber wir wissen, dass noch mehr getan werden muss.“
Für den Ökonomen Henry Overman von der London School of Economics gibt es dafür nur eine Lösung: mehr bauen. Insbesondere durch die Schaffung staatlich geförderter Sozialwohnungen könnte man dazu beitragen, Wohnraum günstiger zu machen; doch seit Jahren nimmt der Anteil der erschwinglichen Wohnungen ab. Das liegt zum einen an gesetzlich festgelegten Mietpreissenkungen, die die Sozialwohnungen unrentabel für Vermieter machen. Zum anderen aber auch daran, dass Mieter dieser Wohnungen per Gesetz ein vergünstigtes Kaufrecht haben. Sind sie einmal verkauft, werden die Sozialwohnungen nicht im gleichen Maße ersetzt.
Und noch ein weiteres Regierungsprogramm soll es den Bürgern einfacher machen, einen Fuß auf die „Housing ladder“ zu setzen. Seit 2013 ist das „Help-to-buy“-Programm in Kraft, das unter anderem durch zinsfreie Darlehen Käufer bei der Finanzierung unterstützen soll. Im Februar wird es auch in der Region London verfügbar sein, wie Wohnungsbauminister Brandon Lewis ankündigte. „Wir wollen, dass die Menschen in den Genuss der Sicherheit eines Eigenheims kommen“, sagte Lewis bei der Vorstellung der Initiative.
All das zeigt, welch große Skepsis gegenüber dem Mieten von Wohnungen und Häusern in Großbritannien besteht. Wer sein Heim nicht besitzt, hat ein Problem, so scheint es. David Cameron stellte dazu erst kürzlich einen neuen Plan vor, der Immobilienfirmen dazu bringen soll, sich statt Mietwohnungen auf solche Wohnungen zu konzentrieren, die für Erstkäufer erschwinglich sind. „Wir machen die Generation Rent zur Generation Buy“, so Cameron.
Ob das die richtige Lösung ist, daran zweifelt zum Beispiel Dan Wilson Craw, der im Vorstand der Organisation Generation Rent sitzt. Seiner Ansicht nach wird Camerons Vorschlag die Wohnungsnot letztlich nur verschärfen. Craws Organisation macht sich für einen anderen Ansatz stark: die Rechte von Mietern zu stärken und Mietpreise zu regulieren. Dazu zählt auch, Mindeststandards für Mietobjekte einzuführen und langfristige Mietverträge und damit Sicherheit für Mieter zur Norm zu machen. Dieser Ansatz würde allerdings bedeuten, die Entwicklung zur Generation Rent zu akzeptieren.
Ein Vorbild dafür könnte man auf dem europäischen Festland finden. Die Immobilienfinanzierungsgesellschaft Halifax wirft in einem aktuellen Forschungsbericht einen Blick über den Kanal, in Richtung Deutschland, wo traditionell mehr gemietet und weniger gekauft wird. „Das deutsche Modell ist nicht unattraktiv“, so der Bericht. Doch auch die mobilen, flexiblen Facharbeiter, die gerne zur Miete wohnen würden, bräuchten weiterhin erschwingliche und trotzdem hochwertige Unterkünfte. Auch deshalb bleibe das Grundproblem das gleiche, so die Halifax-Studie: Man müsse die richtigen Häuser am richtigen Ort mit der richtigen Ausstattung bauen. Und davon, wenn möglich, mehr als bisher.
Jan Guldner
Kate-Effekt
Rechnen sich die Royals? Von außen betrachtet, scheint es im Europa des 21. Jahr-hunderts ein anachronistischer Luxus zu sein, den Lebensunterhalt einer Königsfamilie mit Steuergeldern zu finanzieren. Unterm Strich aber stimmt die Bilanz.
Am 9. September 2015 war es so weit: Königin Elizabeth II. ging offiziell in die Geschichtsbücher ein als die Monarchin, die es am längsten auf dem britischen Thron ausgehalten hat. Seit über 53 Jahren lenkt sie die Geschicke der königlichen Familie und hält das zuletzt nicht sonderlich einige Vereinigte Königreich zusammen.
Glaubt man dem Beratungsunternehmen Brand Finance, ist Elizabeth aber nicht nur Familienoberhaupt, sondern gleichzeitig auch Chefin eines der größten Unternehmen Großbritanniens. „The Firm“ nennen Beobachter die Royals auch deshalb, weil die Queen und ihre Kinder, Enkel und andere Verwandte nach einigen Schätzungen Umsätze generieren, die sich vor denen mancher Unternehmen nicht verstecken müssen.
Um diese royale Rendite aufzuschlüsseln, haben die Berater von Brand Finance eine Bilanz des Königshauses aufgestellt. Auf der Einnahmenseite stehen die Beträge, die Großbritannien dank der Royals zusätzlich einnimmt, auf der Ausgabenseite werden die Aufwendungen aufgelistet, die der britische Steuerzahler für Queen und Konsorten aufbringen muss. Unterm Strich steht eine beachtliche Zahl: Der Gesamtbeitrag der Monarchie zur britischen Volkswirtschaft im Jahr 2015 beziffert sich auf rund 1,8 Milliarden Euro (rund 1,2 Milliarden Pfund).
Woher kommt das Geld? Den größten Teil macht der Tourismussektor aus. Menschen aus der ganzen Welt kommen nach Großbritannien, um die Symbole der Monarchie zu bewundern: den Buckingham Palace, die Kronjuwelen oder die Wachablösung der königlichen Sicherheitsleute. Und sie kaufen dabei Souvenirs wie Tassen, Teller oder T-Shirts mit dem königlichen Konterfei.
Dazu kommen die Auswirkungen, die nach den populären Neuankömmlingen in der Windsor-Familie benannt sind. An erster Stelle steht der „Kate-Effekt“, der nach der Frau von Prinz William benannt ist und dem fast 200 Millionen Euro (152 Millionen Pfund) im Jahr 2015 zugeschrieben werden. Herzogin Kate, geborene Middleton, erzeugt diesen positiven Bilanzposten vor allem dadurch, dass sie Kleidung britischer Modemarken trägt – und diese dann von ihren Bewunderinnen nachgekauft werden.
Ähnlich verhält es sich mit George und Charlotte, den Kindern von William und Kate. Werden sie mit einem Spielzeug, einem Kinderwagen oder einem Strampler fotografiert, kann sich der jeweilige Hersteller gleich auf steigende Orderzahlen einstellen. Zusammen sorgen die königlichen Kinder für einen Beitrag von 234 Millionen Euro (fast 180 Millionen Pfund).
Doch ist das die Millionen Pfund, die jährlich für die Instandhaltung der königlichen Anwesen, für den Personenschutz und den alltäglichen Bedarf aufgewendet werden, wert? Es gibt einige Beobachter, die das bezweifeln. Doch laut Brand Finance rechnen sich die Kosten von über 340 Millionen Euro (260 Millionen Pfund) im Jahr 2015 angesichts des daraus erzielten Nutzens durchaus.
In der Bevölkerung ist man sich ohnehin einig. Seit Jahren fragt das Marktforschungsunternehmen Ipsos-MORI die Briten, ob sie aus ihrem Königreich eine Republik machen würden, wenn sie es denn könnten. Das Ergebnis ist seit Beginn der Umfrage ähnlich: Rund drei Viertel der Briten möchten ihre Monarchie behalten. Und die königliche Bilanz gibt ihnen Recht.
Jan Guldner
National Health Service
Dass jeder Brite ein Anrecht auf kostenlose medizinische Versorgung hat, ist eine soziale Errungenschaft, auf die man im Königreich sehr stolz ist. Doch der Mythos Gesund-heitssystem bröckelt – und die Regierung setzt auf schleichende Privatisierung.
Krankenschwestern bewegen sich roboterartig zu elektronischer Musik. Blaues Scheinwerferlicht bricht sich im Kunstnebel. Kinder hüpfen auf weißen Krankenbetten gen Himmel. Eine Szene aus einem Drogenrausch? Nein, aus der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 2012 in London.
Auf kaum etwas sind die Briten so stolz wie auf ihr staatliches Gesundheitssystem, den National Health Service (NHS). Seit dem Zweiten Weltkrieg hat dort jeder Bürger ein Anrecht auf kostenlose medizinische Versorgung. Finanziert wird das über Steuern und Sozialabgaben. Wer zum Arzt geht, muss lediglich einen geringen Eigenanteil in Höhe von etwa zehn Euro für Medikamente leisten.
Doch der Mythos des Systems bröckelt. Immer öfter kommt es zu langen Wartezeiten und Fehlbehandlungen. Gleichzeitig steigen die Kosten, weil die britische Bevölkerung altert.
Ein schockierender Weckruf für die Briten waren insbesondere die Ereignisse im Stafford Hospital bei Birmingham. Zwei unabhängige Regierungsberichte haben festgestellt, das dort zwischen 2005 und 2009 bis zu 1200 Menschen nur deswegen sterben mussten, weil das Pflegepersonal sie vernachlässigt hatte. Ältere Patienten wurden monatelang nicht gewaschen und bekamen zu wenig zu essen. Manche tranken vor lauter Verzweiflung aus Blumenvasen.
Der NHS leidet unter einer ganzen Reihe von strukturellen Problemen. Das System ist mit seinen insgesamt mehr als 1,7 Millionen Mitarbeitern schwierig zu reformieren. Erst kürzlich streikten die britischen Assistenzärzte, weil die Regierung von ihnen mehr Nacht- und Wochenendarbeit forderte. Zudem wird der fast kostenlose Service übermäßig häufig in Anspruch genommen. Dazu kommt, dass die konservative Regierung kräftig spart, um das Haushaltsdefizit auf ein EU-verträgliches Maß abzusenken. Die NHS-Verwaltungskosten sollen insgesamt um ein Drittel gesenkt werden.
Dabei setzt Premier David Cameron auf eine schleichende Privatisierung. Schon in den neunziger Jahren integrierten die damaligen Regierungen erste private Anbieter in den NHS. Aber unter der jetzigen Regierung hat diese Entwicklung ein neues Ausmaß erreicht. Inzwischen fließen mehr als 6 Prozent des Gesundheitsbudgets an Private. Seit der Gesundheitsreform 2012 haben sie jede dritte Ausschreibung gewonnen. Auch der Wettbewerb zwischen den Kliniken wurde gestärkt. Inzwischen können Patienten ihren Hausarzt frei wählen und werden nicht mehr automatisch nach Wohnort zugeordnet.
Die Labour-Partei kritisiert diese Entwicklung. Sie befürchtet, dass Gesundheit in Zukunft immer stärker von der Größe des eigenen Geldbeutels abhängt – ein Bruch mit der britischen Tradition. Darüber hinaus hält die Partei die Reformen für kontraproduktiv: Das Gesundheitssystem werde durch die Maßnahmen immer mehr fragmentiert, und die Bürokratie werde eher noch übermächtiger.
Tatsächlich sind die Erfahrungen mit der Teilprivatisierung gemischt. Zwar gelten private Anbieter oft als leistungsfähiger. Die erste vollständige Übernahme eines NHS-Krankenhauses durch einen privaten Betreiber ist aber bereits gescheitert. Der private Dienstleister Circle übernahm 2012 unter großem medialen Interesse eine Klinik in Hinchingbrooke nördlich von London und versprach, innerhalb von zwei Jahren Gewinne zu machen. Daraus wurde nichts: 2015 schrieb die Klinik erneut rote Zahlen, die Gesundheitsaufsicht bemängelte schlechte Pflegestandards. Inzwischen gehört die Klinik wieder dem Staat.
Katja Scherer
Oxbridge
Elitär, abgehoben, ausgrenzend: Die Vorwürfe, denen sich Großbritanniens Vor-zeige-Universitäten ausgesetzt sehen, sind nicht neu. Gleichzeitig tragen Oxford und Cambridge viel zur Wirtschaftsleistung und zur Soft Power des Königreichs bei.
Die Geschichte der beiden renommiertesten britischen Universitäten reicht mehr als 800 Jahre zurück und beginnt mit einem Verbrechen. Wie die Historikerin Elisabeth Leedham-Green in ihrer Gründungsgeschichte der Universität Cambridge schreibt, wurden zwei Gelehrte der Universität Oxford zu Beginn des 13. Jahrhunderts für den Tod einer Frau verantwortlich gemacht und deshalb von den örtlichen Autoritäten gehängt. Dagegen protestierte die University of Oxford; die dort Forschenden unterbrachen ihre Studien und zogen in andere Städte weiter. Eine Gruppe floh nach Cambridge und ließ sich dort nieder – die Geburtsstunde der University of Cambridge.
Oxford und Cambridge, zusammen auch oft Oxbridge genannt, sind die ältesten Hochschulen in Großbritannien. Ihnen wird immer noch eine Rivalität zugeschrieben, die sich heute noch vor allem bei Sportwettkämpfen manifestiert. Das jährliche Ruderduell auf der Themse ist hart umkämpft, auch im Rugby schenken sich die Mannschaften der beiden Institutionen nichts. Doch auf akademischer Ebene gibt es längst mehr Kooperation als Konfrontation.
In den einschlägigen Ranglisten der besten Universitäten weltweit findet sich Oxbridge regelmäßig unter den ersten zehn Plätzen. Geschlagen werden sie nur von den Schwergewichten aus den USA, Harvard, Berkeley oder Stanford. Kein Wunder, dass die Universitäten für das Vereinigte Königreich eine ausgesprochen wichtige Rolle spielen.
Der Economist machte die Vorzeige-Universitäten als Faktoren für die britische Soft Power aus. Sie ziehen Tausende von internationalen Studenten an und sorgen mit ihren Innovationen auch für wirtschaftlichen Fortschritt. Das hebt sie von den anderen britischen Top-Unis ab. Das Higher Education Policy Institute (Hepi), ein unabhängiger britischer Think Tank, der sich mit Hochschulpolitik befasst, hebt hervor, dass es Oxbridge immer wieder gelinge, die fähigsten Studierenden anzulocken und Geld von privaten Gebern einzuwerben.
Doch in den vergangenen Jahren standen die britischen Top-Hochschulen vermehrt in der Kritik. „Elitismus“ wurde ihnen vorgeworfen und mit eindeutigen Zahlen belegt: Im Jahr 2010 präsentierte der Unterhausabgeordnete David Lammy eine Statistik, nach der 90 Prozent der Oxbridge-Studenten aus der Mittel- oder Oberschicht stammten. In einer Gesellschaft, in der der soziale Aufstieg sowieso schon schwer ist, wird die Ungleichheit damit noch weiter verstärkt.
Wer in Politik, Verwaltung oder Wirtschaft oben mitspielen will, hat mit einem Abschluss von den Elite-Unis viel bessere Karten. Nach Zahlen der Bildungsorganisation Sutton Trust hatten im Jahr 2013 fast 80 Prozent der Richterschaft, 47 Prozent der Finanzelite und 41 Prozent der Top-Journalisten ein Oxford- oder Cambridge-Diplom. Auch in der Politik sind die Alumnis der Elite-Unis überdurchschnittlich oft anzutreffen.
Den Universitäten ist das Problem bekannt. Mittlerweile investieren sie viel Geld in Rekrutierungsprogramme, die speziell auf benachteiligte Schüler in öffentlichen Schulen zielen. Denn die Kinder der Eliten, die sich auf den Privatschulen tummeln, kommen sowieso.
Jan Guldner
Premier League
Für Fußballer ist Großbritanniens Eliteklasse derzeit das, was die italienische Serie A in den neunziger Jahren war: ein Traumziel. Keine Liga ist spannender, nirgendwo sind die Spiele rasanter. Und, ganz am Rande: Nirgendwo fließt mehr Geld.
Es war nur ein Gerücht, und davon gibt es bekanntlich viele, wenn auf dem internationalen Transfermarkt für Fußballspieler die Handelsperiode beginnt. Doch es machte mal wieder deutlich, wie momentan die Machtverhältnisse zwischen den europäischen Fußballligen aussehen. Der britische Club Manchester City hatte im Winter laut Zeitungsberichten Interesse am 20-jährigen Mittelfeldspieler Leroy Sané von Schalke 04 und wollte für den Transfer 55 Millionen Euro bezahlen. 55 Millionen für einen 20-Jährigen, der seine erste Bundesligasaison spielt – nicht nur in Gelsenkirchen war man angesichts dieser Summe schockiert.
Am Ende kam es nicht zu dem Transfer – zumindest vorerst. An derartige Angebote aus Großbritannien müssen sich deutsche Fußballclubs aber wohl gewöhnen. Denn die britische Premier League schwimmt im Geld. Anfang vergangenen Jahres schloss der britische Fußballverband FA einen neuen Vertrag mit dem TV-Sender Sky und dem Telekommunikationsunternehmen British Telecommunications. Insgesamt fast sieben Milliarden Euro bekommen die 20 Clubs in den nächsten vier Jahren. Und zwar nur für die nationale TV-Vermarktung, hinzu kommen noch Erlöse aus dem Rechteverkauf an ausländische Sender. Selbst Clubs, die am unteren Ende der Tabelle landen, haben dadurch höhere TV-Einnahmen als der deutsche Rekordmeister Bayern München.
Nirgendwo sonst wird so viel Geld mit Fußball verdient wie in dem Land, das den Sport erfunden hat. Denn nicht nur die Briten sind bereit zu zahlen, um die Fernsehübertragungen der Spiele zu sehen: Auch im Ausland ist die Premier League beliebt. Vor allem in Ländern, in denen es keine eigenen interessanten Ligen gibt, wie mancherorts in Asien, aber auch in den USA und in Russland wird Premier League geschaut. Das liegt zum einen daran, dass Clubs wie Manchester United und der FC Liverpool früh das Potenzial im Ausland erkannt haben. Bereits in den neunziger Jahren eröffnete Manchester United einen großen Fanshop in Singapur, deutsche Clubs wie Bayern München und Borussia Dortmund zogen erst in den vergangenen Jahren nach. Die britischen Teams haben sich so einen großen Vorsprung auf den noch unerschlossenen Fußballmärkten erarbeitet und sind zu internationalen Marken mit Fans auf der ganzen Welt geworden.
Dass in Sportbars in Tokio, Moskau oder New York Premier League und nicht Bundesliga läuft, hat aber noch einen anderen Grund: Britischer Fußball ist spannend und spektakulär. Kein Team dominiert die Liga in der Weise, wie es in Deutschland seit Jahrzehnten Bayern München tut. Jedes Jahr spielen mindestens drei Teams um die Meisterschaft. Immer wieder spielen sich Überraschungsmannschaften wie in diesem Jahr Leicester City nach vorne. In der vergangenen Saison im Abstiegskampf verstrickt, ist das Team nun plötzlich Meisterschaftskandidat. Und dann gibt es noch die unerklärlichen Abstürze, wie ihn in der laufenden Saison das Luxus-Ensemble von Chelsea London erlebt, das momentan nicht weit von den Abstiegsrängen entfernt ist.
Damit bietet die Premier League immer genug Gesprächsstoff. Hinzu kommt: Es gibt so etwas wie eine DNA des britischen Fußballs, an die sich auch Spieler und Trainer aus dem Ausland automatisch anpassen. Premier-League-Spiele sind immer etwas lauter, rasanter, wilder und weniger taktisch eingeengt als die Spiele anderer Ligen. Auch das hilft bei der internationalen Vermarktung in Ländern, die schnelle und ereignisreiche Sportarten gewöhnt sind wie Basketball, Eishockey oder Rugby.
Und es ist, neben den üppigen Gehältern, auch für Spieler und Trainer ein wichtiger Grund, nach England zu gehen. Gut verdienen kann man auch in Katar oder China – doch in England spielt man in einer spannenden Liga und erreicht Fans auf der ganzen Welt. Damit ist die Premier League momentan das, was die italienische Serie A in den neunziger Jahren war: ein Traumziel des europäischen Fußballs. So wechselte der Top-Star des VfL Wolfsburg, Kevin de Bruyne, im August vergangenen Jahres zu Manchester City, wo er schon bald von Pep Guardiola trainiert werden dürfte, dem es bei Bayern München zu langweilig geworden ist.
Doch für die britischen Fans hat der Aufschwung der Premier League auch Schattenseiten. Den Besuch im Stadion können sich viele Briten nicht mehr leisten. Die günstigsten Tickets kosten im Durchschnitt über 40 Euro (30 Pfund). Ein Arbeitersport ist der Fußball auch anderswo in Europa längst nicht mehr, in Großbritannien aber ist er in den vergangenen Jahren zu einem Unterhaltungsprogramm für die Oberschicht geworden. Darunter leidet auch die Stimmung in den Stadien, die lange ebenfalls den besonderen Reiz der Premier League ausgemacht hat. Das Stadion des FC Arsenal wird zuweilen bereits scherzhaft „Opernhaus“ genannt – wegen des anspruchsvollen Publikums, das nur dann leise applaudiert, wenn es große Kunst zu sehen bekommt, und ansonsten schweigt.
Malte Buhse
Start-up-Metropolis
Früher als anderswo hat man in Großbritannien den volkswirtschaftlichen Wert einer florierenden Gründerszene erkannt. Die gezielte Förderung junger Unternehmen hat Wir-kung gezeigt: London ist der Start-up-Nabel Europas. Doch die Konkurrenz holt auf.
Von Einhörnern träumen nicht nur kleine Mädchen, sondern auch gestandene Männer und Frauen. Jene Gründer, die ein Unternehmen aufbauen wollen, das mehr als eine Milliarde Dollar wert ist. „Unicorns“ heißen solche jungen Firmen im Fachjargon, Einhörner. José Neves ist eine solche Gründung gelungen: In seinem Online-Shop Farfetch verkauft er Mode von mehr als 2000 Designern weltweit. Seinen Hauptsitz hat das Unternehmen in London.
Dort ist es in guter Gesellschaft; 17 der insgesamt 40 europäischen Unicorns sitzen in der britischen Hauptstadt. London galt jahrelang als das Silicon Valley Europas: hip, dynamisch und vollgestopft mit Wachstumskapital. Deutsche Politiker und Investoren blickten teils sehnsüchtig, teils neidisch auf den Nachbarn und fragten sich nach dessen Erfolgsgeheimnis.
Das ändert sich gerade. Denn Firmen wie der Lieferdienst Delivery Hero, die neu in den Start-up-Olymp aufgestiegen sind, stammen immer öfter aus anderen europäischen Hauptstädten – nicht zuletzt aus Berlin. Der Titel der europäischen Start-up-Metropole wird neu ausgefochten.
Die Briten waren die ersten, die den Wert von Start-ups als Wirtschaftskraft erkannten. Schon 2010 begann die Regierung damit, unter dem Motto „Tech City London“ junge Technologiefirmen gezielt zu fördern. Rund 170 Millionen Euro stellte sie dafür bereit. Zudem organisierte sie regelmäßig Veranstaltungen, auf denen sich Jungunternehmer im In- und Ausland vernetzen konnten, und sie lockerte die Einwanderungsbestimmungen, damit ansiedlungswillige Firmen ohne großen Aufwand Visa für Mitarbeiter erhielten.
Die politische Starthilfe zahlte sich aus: In London florierte die Gründerszene bereits, als Deutschland noch den Verlusten der Dotcom-Blase Anfang des Jahrtausends nachtrauerte. Damals hatten Anleger mit Investitionen in überbewertete Technologiefirmen viel Geld verloren. Allein im Londoner Osten, bekannt als Silicon Roundabout, sitzen inzwischen mehr als 2000 Start-ups sowie zahlreiche namhafte Fonds. Insgesamt arbeiten dort mehr als 48 000 Menschen an neuen Ideen und digitalen Geschäftsmodellen. Eine riesige Infrastruktur, die über Jahrzehnte gewachsen ist und London zum Ankerpunkt für Investoren aus aller Welt werden ließ.
Die britische Gründerszene gilt im europäischen Vergleich als ausgesprochen international. Das liegt einerseits an der Sprache, die Unternehmen den Sprung auf den Weltmarkt erleichtert und deren Geschäftsmodelle für amerikanische Investoren leichter nachvollziehbar macht.
Dazu kommt aber auch die Präsenz internationaler Firmen: Allein Cisco hat in den vergangenen fünf Jahren 500 Millionen Pfund vor Ort investiert, unter anderem für einen so genannten Inkubator. Dort bekommen Jungunternehmer günstige Büroplätze und Mentoren zur Seite gestellt. Google ist seit 2012 mit einem eigenen Campus vor Ort: Über sieben Stockwerke erstrecken sich die Büros der Gründer. Neben frei verfügbarem Internet gibt es regelmäßig Vorträge und Netzwerktreffen.
Besonders erfolgreich ist die Szene derzeit im FinTech-Bereich. Zahlreiche Start-ups arbeiten daran, Dienstleistungen im Bankensektor zu digitalisieren. Zu den größten Hoffnungsträgern gehören die Kreditplattform Funding Circle und der Überweisungsdienst TransferWise aus Großbritannien. Auch sie sind im vergangenen Jahr zu so genannten Unicorns aufgestiegen.
Die Nähe zum Finanzsektor zeigt sich auch auf andere Weise. In der Londoner Finanzbranche gehört es inzwischen quasi zum guten Ton, als Gründervater und Investor aktiv zu sein. Und noch immer sitzen die meisten großen europäischen Wagniskapitalgeber in London.
Fondsgesellschaften wie Index Ventures, Atomico oder Balderton Capital haben jahrzehntelange Erfahrung bei der Finanzierung von jungen Unternehmen – deutlich mehr als deutsche Investoren. Wer in London auf einem Netzwerktreffen unterwegs ist, hat also eine größere Chance, beim Smalltalk am Tischkicker einen namhaften Investor zu treffen, als das in Berlin der Fall ist.
Inzwischen zeigt der lange Zeit ungebremste Aufstieg Londons aber auch seine Schattenseiten. Leben und arbeiten ist in vielen Stadtteilen für Gründer unerschwinglich geworden. Die Beratungsfirma Knight Frank hat ausgerechnet, dass die Büromieten in London allein in der ersten Hälfte des vergangenen Jahres um 11 Prozent gestiegen sind – stärker als in jeder anderen Stadt weltweit.
Das bleibt nicht ohne Folgen: Im vergangenen Jahr wurden im Epizentrum Shoreditch nur noch 10 000 neue Firmen gegründet. 2014 waren es noch knapp 16 000. Und einer Studie der Initiative Tech London Advocats zufolge überlegt ein Viertel der Londoner Start-up-Manager, die Stadt ganz zu verlassen. Davon könnten kleinere Städte wie Bristol oder Peterborough profitieren. Oder aber Berlin.
Die deutsche Hauptstadt hat sich in den vergangenen Jahren zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten entwickelt. Wichtigste Kennzahl dabei: die Höhe des investierten Wagniskapitals. 2014 hat Berlin erstmals mehr Investorengeld angezogen als London.
Nach einer Analyse des Branchendiensts DowJones Venture Source haben Berliner Gründer in jenem Jahr 1,97 Milliarden Euro eingesammelt, Londoner Gründer nur 1,35 Milliarden. Im ersten Halbjahr 2015 konnte Berlin diesen Vorsprung noch ausbauen. Ein Großteil des Geldes kommt dabei von Investoren aus den USA und – Großbritannien.
In Berlin feiert man diesen Erfolg ausgiebig. Die klamme deutsche Hauptstadt kann neue Unternehmen gut gebrauchen. Auch deshalb gibt sich der Regierende Bürgermeister Michael Müller größte Mühe, Präsenz zu zeigen. Er besucht besonders erfolgreiche Gründer in ihren Büros und lässt sich bei Branchen-Frühstücken blicken. Sein Londoner Amtskollege Boris Johnson ging dagegen 2013 mit einer „Million Pound Startup Competition“ baden: Es fand sich kein preiswürdiger Kandidat, die effekthascherische Initiative wurde auf Eis gelegt.
Noch hat London insgesamt betrachtet die Nase vorn. Das zeigt das Global Startup Ecosystem Ranking des amerikanischen Datendienstleisters Compass, das neben der Finanzierung unter anderem die Erfolgsquote und die Reichweite von Start-ups auswertet. Dort liegt London als beste europäische Stadt auf Platz sechs und punktet vor allem mit seiner ruhmreichen Historie.
Ob das in Zukunft reichen wird, um Investoren an die Themse zu locken, ist allerdings fraglich. Berlin folgt auch in diesem Ranking bereits auf Platz neun. Und wächst stärker als jede andere Start-up-Metropole weltweit.
Katja Scherer
Trains, Planes, Automobiles
Was Berlin sein BER, ist London seine Landebahn: Seit Jahren streitet man über den Ausbau des Flughafens Heathrow. Auch auf Schiene und Straße gibt es infrastrukturell noch einiges im Königreich zu tun – angesichts akuter Sparzwänge ein Drahtseilakt.
Für George Osborne, den Schatzkanzler und zweitwichtigsten Mann in der britischen Regierung, ist die Sache klar: Seine Bürger müssen sich deshalb mit so langen Pendelstrecken, hohen Energiekosten und geringen Chancen auf ein Eigenheim herumschlagen, weil vorhergehende Regierungen zu wenig Geld in Infrastruktur investiert haben. Das soll sich unter seiner Ägide ändern.
Stolz rief Osborne auf dem Parteitag seiner Tories im vergangenen Oktober deshalb aus: „Wir sind die Baumeister.“ Wenig später hob er die Nationale Infrastrukturkommission aus der Taufe, die das Problem des chronischen Unterinvestments lösen soll.
Unter der Führung des früheren Transportministers und Labour-Politikers Andrew Adonis soll die Kommission „leidenschaftslos und unabhängig“ darüber nachdenken, wo und wie Großbritannien unter anderem neue Schienen, Landebahnen und ein besseres Energieversorgungsnetz bauen soll. Infrastrukturinvestitionen sind seit Osbornes Amtsübernahme im Jahr 2010 um mehr als 5 Prozent gesunken. Die Kommission soll deshalb 130 Milliarden Euro (100 Milliarden Pfund) bis zum Jahr 2020 zur Verfügung haben, um bisher Versäumtes aufzuholen.
Eines der wichtigsten Projekte ist der Ausbau des Flughafens Heathrow in London. Schon lange wird dort über den Bau einer dritten Landebahn gestritten. Befürworter beklagten, Heathrow operiere als einer der betriebsamsten Airports der Welt stets nahe an der Überlastung. Kritiker halten die drohende Kapazitätsgrenze britischer Flughäfen dagegen für einen Mythos und befürchten einen starken Anstieg der Luftverschmutzung.
Zuletzt sollte eine dafür berufene Kommission unter Sir Howard Davies, mittlerweile Aufsichtsratsvorsitzender der teilverstaatlichten Royal Bank of Scotland, für Klärung sorgen. Drei Jahre lang wog sie die Argumente ab, im Juli 2015 kam das Ergebnis: Eine neue 3,5 Kilometer lange Landebahn soll nordwestlich der beiden bestehenden in Heathrow gebaut werden – unter Beachtung von strengen Lärm- und Umweltstandards. Kostenpunkt: geschätzte 24 Milliarden Euro (18,6 Milliarden Pfund). Eine endgültige Entscheidung hat Premierminister David Cameron aber bis nach den Londoner Bürgermeisterwahlen in diesem Jahr aufgeschoben.
Für die Wirtschaftslobby sind das schlechte Nachrichten. Denn: „In Sachen Flughafenkapazitäten gilt: Zeit ist Geld“, so Katja Hall, Deputy Director-General der größten Lobbyorganisation Confederation of British Industry (CBI). Hall hofft, dass die neue Landebahn bis 2030 fertiggestellt ist. Doch bis dahin würden der britischen Industrie bereits 40 Milliarden Euro (31 Milliarden Pfund) an Handelsvolumen mit aufstrebenden Staaten wie Brasilien, Indien und China verloren gehen.
Wenn Osborne seinem Anspruch als Baumeister in Sachen Flughafen nicht gerecht werden kann, dann vielleicht in einem anderen Bereich. Ein Teil der Arbeit der Infrastrukturkommission soll sich auf den Ausbau des Schienennetzes konzentrieren. Dazu zählt die so genannte Crossrail, eine Bahnstrecke, die Pendler aus dem Londoner Umland schneller zu ihren Büros in die Londoner City bringen soll.
1,5 Millionen Menschen sollen dadurch erstmals die Möglichkeit bekommen, in maximal 45 Minuten in der Hauptstadt zu sein. Über mehr als 100 Kilometer erstrecken sich die Schienen zwischen Reading westlich und Shenfield östlich der Hauptstadt. Dazu gehört auch ein riesiges Tunnelnetz, das Crossrail zu einem der größten Bauvorhaben in Europa werden lässt. Eine erste Teilstrecke soll ab 2017 befahren werden, alle Stationen werden nach heutigen Plänen aber erst Ende 2019 bedient. Das Baukonsortium schätzt, dass Crossrail rund 55 Milliarden Euro (42 Milliarden Pfund) zur britischen Wirtschaftsleistung beisteuern wird.
Auch im Norden Englands sollen neue Schienen die Wirtschaft ankurbeln. „Highspeed 2 (HS2)“ heißt die Strecke, die zukünftig London mit Birmingham, Leeds und Manchester verbinden soll. Die genaue Route steht noch nicht fest, der genaue Zeitplan auch nicht. Dafür gibt es aber bereits seit Jahren heftige Diskussionen um Sinn und Unsinn von HS2.
Während die Befürworter neue wirtschaftliche Stärke für den Norden Englands versprechen, verweisen die Gegner auf die weitaus größere Gefahr, dass sich die Zentralisierung in Richtung London weiter verstärkt. Dazu kommen unklare Kostenschätzungen, die von offiziell erwarteten rund 52 Milliarden Euro (40 Milliarden Pfund) bis zu mehr als 100 Milliarden Euro (80 Milliarden Pfund) reichen, die das Institute for Economic Affairs veranschlagt. Die Unterstützung in der Bevölkerung bröckelt: 2012 lagen die Befürworter in einer YouGov-Umfrage noch vorne, im Oktober 2014 hatte sich das Gewicht in Richtung HS2-Gegner verschoben.
Die Infrastruktur auszubauen ist vor allem eins: teuer. Osborne und Cameron haben sich aber nicht nur auf die Fahnen geschrieben, die Baumeister der Nation zu werden, sondern auch, das Defizit in der Staatskasse zu verringern. Beide Versprechen zu halten, wird für die Regierung ein Drahtseilakt.
Jan Guldner
Upstairs, Downstairs
Dass soziale Klassen in Großbritannien eine große Rolle spielen, daran hat man sich gewöhnt. Dass es mittlerweile statt dreien sieben von ihnen gibt, ist zu verkraften. Doch dass heute 15 Prozent der Bevölkerung dem Prekariat angehören – das ist ein Schock.
Lange Zeit waren die gesellschaftlichen Fronten in Großbritannien so klar wie ein frisch gezapftes Ale: Die Oberschicht lebte in vornehmen Stadtvillen, trug teure Tweedkostüme auf schicken Dinnerpartys und zelebrierte, wann immer möglich, die klassische Tea-Time. Die Mittelschicht setzte auf Aufstieg durch Bildung, studierte hart und gründete Unternehmen. Die Unterschicht lebte in den Randbezirken und malochte in Fabriken. Großbritannien galt im Vergleich zu anderen europäischen Ländern lange als traditionsbewusste Klassengesellschaft, in der sich die sozialen Schichten stärker unterschieden als anderswo.
Nun aber müssen die Briten ihren gesellschaftlichen Status neu definieren. Das zeigt eine Umfrage unter mehr als 160 000 Staatsbürgern, die der öffentlich-rechtliche Rundfunksender BBC Anfang 2013 durchführte. Demnach passen nur noch knapp 40 Prozent der Studienteilnehmer in die Kategorien „bodenständige Mittelschicht“ und „traditionelle Arbeiterklasse“. Stattdessen unterteilt sich die britische Gesellschaft nunmehr in sieben neue Klassen. Und der Weg von unten nach oben ist weit: Während die Armen gesellschaftlich deutlich stärker isoliert sind als bislang gedacht, schwelgt eine kleine Elite im Überfluss. Ein Ergebnis, das das britische Selbstverständnis erschüttert hat.
Ausgewertet wurde die Studie von Mike Savage von der London School of Economics und Fiona Devine von der University of Manchester. Die beiden Soziologen schauten sich nicht nur Herkunft, Vermögen und Beruf an – also jene Faktoren, die bisher den gesellschaftlichen Status bestimmten. Sie berücksichtigten auch das kulturelle und soziale Kapital: Welche Bücher liest der Befragte? Wie oft wird beim Abendessen über Politik diskutiert? Ist man gut vernetzt mit den Größen aus Politik und Wirtschaft? Schließlich definierten sie folgende sieben Gruppen:
1. Die Elite
Diese Gruppe siegt auf allen Feldern: Sie ist nicht nur finanziell am besten aufgestellt, sondern verfügt auch kulturell und sozial über das meiste Kapital. Die britische Elite kann Shakespeare zitieren, hat durchschnittlich 140 000 Pfund gespart und gute Chancen, Prinz William auf der nächsten Dinnerparty zu treffen.
2. Die etablierte Mittelklasse
Mit einem Anteil von 25 Prozent ist sie laut der BBC-Umfrage die größte soziale Gruppe. Die etablierte Mittelklasse kann sich weder Luxuswohnungen noch einen Lamborghini leisten, ist finanziell aber immer noch deutlich besser aufgestellt als der Rest der Bevölkerung. Beim sozialen und kulturellen Kapital schneidet sie ebenfalls gut ab: Ein bisschen Shakespeare zitieren und netzwerken ist auch hier noch drin.
3. Die technische Mittelklasse
Eine relativ kleine Spezies. Man verdient gut, für Kultur interessiert man sich aber so gar nicht. Und auch für sozialen Austausch auf Dinnerpartys hat man wenig übrig. Soziale Isolation und kulturelle Apathie nennen das die Autoren der Studie.
4. Die traditionelle Arbeiterklasse
Die Häuslebauer unter den Briten. Die Angehörigen dieser Schicht besitzen in aller Regel wenig Geldvermögen, dafür aber ein Eigenheim. Viele von ihnen sind schon relativ alt – im Durchschnitt 66 Jahre. Auch sozial und kulturell ist die Arbeiterklasse benachteiligt: Statt im Theater verbringen sie ihre Abende lieber im Lehnstuhl vor dem Fernseher.
5. Die neuen wohlhabenden Arbeiter
Anders als ihre älteren Klassenkollegen sind die neuen wohlhabenden Arbeiter sozial und kulturell sehr aktiv. Dort geht man nach der Schicht auch mal ins Konzert oder trifft sich in der Bar zum After-Business-Drink. Die Einkommen liegen im mittleren Bereich.
6. Aufsteigende Dienstleistungs-
arbeiter
Die Steigerung des neuen wohlhabenden Arbeiters. Eine junge urbane Schicht, die relativ arm ist, aber über viel soziales und kulturelles Kapital verfügt.
7. Das Prekariat oder Arbeiter in prekären Bedingungen
Zu arm zum Leben, zu reich zum Sterben – so könnte man die Lebensumstände dieser Gruppe beschreiben. Sie schuften in schlecht bezahlten Jobs, haben niedrige oder keine Bildungsabschlüsse und kaum Zugang zu sozialem oder kulturellem Kapital.
In Großbritannien führte diese Aufteilung der Gesellschaft zu heftigen Diskussionen. Dass es eine Elite gab, das war bekannt. Und dass die Mittelschicht viel stärker fragmentiert war als gedacht, das war zu verkraften. Aber dass ein Teil der Gesellschaft so stark abgehängt ist? Damit hatten die Briten nicht gerechnet. Ganze 15 Prozent der Bevölkerung gehören laut den Forschern dem Prekariat an – und damit mehr als doppelt so viele Menschen wie der Elite. Diese macht nur 6 Prozent der Bevölkerung aus.
Zu einem politischen Wandel hat der Schock jedoch nicht geführt. Schon seit 2010 kürzt die konservativ-liberale Regierung immer mehr Sozialleistungen – auch das Wohngeld. Und das trotz der steigenden Immobilienpreise. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sich die Hauspreise im ganzen Land verdreifacht, in London sind sie sogar um das Sechsfache gestiegen.
Auch die Mieten steigen rasant. Zwar sinkt die Arbeitslosigkeit, aber zwei Drittel derer, die arbeitslos waren, verdienen in ihrem neuen Job nicht genug, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Die Folgen sind spürbar: 2010/11 waren rund 61 000 Briten auf Suppenküchen angewiesen. Inzwischen sind es mehr als 900 000 Menschen.
Katja Scherer
Zentralismus
Geld, Menschen, Kultur: London zieht alles an sich. Mag die britische Hauptstadt auch nicht mehr das Zentrum der Welt sein, im Königreich führt kein Weg an ihr vorbei. Schlecht für den Rest des Landes – und auch für die Metropole selbst nicht immer gut.
Wir schreiben das Jahr 1965, die Swinging Sixties sind in voller Blüte und eine Stadt wird zum Zentrum der Welt: London. Die britische Hauptstadt ist „the place to be“. Der Daily Telegraph erklärt sie zur „aufregendsten Stadt der Welt“. Ein Jahr später räumt das US-Magazin Time seine Titelseite für eine große Geschichte über die „Swinging City“ frei. Wer etwas auf sich hält, kommt nach London.
Zwar sind diese Zeiten inzwischen vorbei, doch auch wenn London nicht mehr das Zentrum der Welt sein mag wie in den sechziger Jahren: die Metropole mit ihren 8,5 Millionen Einwohnern ist mehr denn je das Zentrum des Vereinigten Königreichs. London zieht alles an sich: Geld, Menschen, Kultur. Der Rest des Landes droht immer mehr im Schatten der großen Hauptstadt vergessen zu werden.
Großbritannien war schon immer ein zentralistisches Land. Die politische, ökonomische und gesellschaftliche Macht kam stets aus dem Süden: London war Königssitz, Handelszentrum, Tür zum europäischen Festland. Erst mit dem Aufstieg der großen Industriestädte im Nordosten wie Manchester, Liverpool und Sheffield bekam London Konkurrenz. Die Städte wuchsen mit ihren Fabriken, es entwickelte sich eine Gegenkultur, die wirtschaftlich erfolgreichen Arbeiter aus dem Norden traten selbstbewusster gegenüber dem Süden auf.
Ein echtes Gegengewicht konnten die Industriestädte aber nie bilden. Wirtschaftlich waren sie zwar für kurze Zeit ebenbürtig, doch den Aufstieg der Hauptstadt konnten auch die neuen regionalen Zentren nicht bremsen. Anfang des 20. Jahrhunderts, auf dem Höhepunkt des Industriezeitalters, lebten in Liverpool, damals immerhin die zweitgrößte britische Stadt, rund 700 000 Einwohner. Manchester folgte mit rund 500 000. London brachte es jedoch zu dieser Zeit bereits auf über sechs Millionen Einwohner – und jedes Jahr kamen mehr hinzu. Schon 1921 beherbergte die Stadt über sieben Millionen Einwohner.
Politisch und kulturell spielte die Musik ohnehin stets in London. Die Beatles kamen zwar aus Liverpool; um Erfolg zu haben, mussten sie aber nach London. Und als die Industrie im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer stärker an Bedeutung verlor, eroberte sich London auch die ökonomische Vormachtstellung zurück. Inzwischen ist die Hauptstadt längst wieder das wirtschaftliche Zentrum des Landes. London erwirtschaftet rund 20 Prozent des britischen Bruttoinlandsprodukts. Allein der Finanzdistrikt City of London beherbergt 15 000 Unternehmen, die zusammen 3 Prozent der britischen Wirtschaftsleistung ausmachen. Die Londoner Wirtschaft ist in den vergangenen Jahren stets schneller gewachsen als die im Rest des Landes.
Dieser Trend hat eine sich selbst verstärkende Dynamik in Gang gesetzt, die dazu führt, dass immer mehr Ressourcen nach London fließen. Eine Studie des Institute for Public Policy Research zeigt, dass in London pro Einwohner rund 7200 Euro (5500 Pfund) für Infrastrukturinvestitionen ausgegeben werden. Im Nordosten Großbritanniens sind es lediglich rund 294 Euro (223 Pfund). „London wird zu einem riesigen Sauger, der dem Rest des Landes lebenswichtige Ressourcen wegnimmt“, warnte bereits 2013 Vince Cable, Minister für Unternehmen, Innovation und Qualifikationen.
Auch London selbst tut die immer stärkere Zentralisierung des Landes nicht unbedingt gut. Die Immobilienpreise haben inzwischen groteske Formen angenommen. Ein Beispiel: Im Stadtteil Oval im Süden Londons sind die Häuserpreise in den vergangenen 20 Jahren um 938 Prozent gestiegen, wie eine Untersuchung des Immobilienunternehmens Savills zeigt. Selbst Banker müssen da an den Stadtrand ziehen. Die hohen Preise schaden inzwischen auch der Londoner Wirtschaft: Viele, insbesondere junge Unternehmen können sich Büros in der Hauptstadt nicht mehr leisten.
Und schließlich wirkt sich die Dominanz Londons auch auf die politische Landschaft aus: Der Aufstieg der EU-kritischen und nationalistischen UK Independence Party (UKIP), die bei den Unterhauswahlen im Mai vergangenen Jahres über 12 Prozent der Stimmen erhielt (aber nur einen Parlamentssitz eroberte), und die Unabhängigkeitsbewegung in Schottland haben auch etwas mit der Frustration vieler Briten über die Londoner Elite zu tun, die sich immer weiter von der Lebenswirklichkeit im Rest des Landes entfernt.
Malte Buhse
IP Länderporträt 1, März - Juni 2016, S. 26-47