Kernkraft statt Kohle
Abschied von „King Coal“, dafür Atomenergie, mehr Gaskraftwerke und Fracking. Und weniger Subventionen für Ökostrom: Die Regierung verordnet Großbritannien einen ebenso ehrgeizigen wie eigenwilligen Umbau der Energieversorgung. Von fairem Wettbewerb zwischen den verschiedenen Technologien kann keine Rede sein. Eher von Planwirtschaft.
Es sind Dinosaurier der Wirtschaftsgeschichte: Direkt am Eingang des berühmten Science Museum in London stehen Dampfmaschinen in Reih und Glied. Diese Ungetüme trieben die industrielle Revolution an – und den Aufstieg des Vereinigten Königreichs zur Weltmacht. Befeuert wurden sie mit Kohle. Doch ausgerechnet Großbritannien, das Mutterland der industriellen Revolution, verabschiedet sich jetzt von der Kohle: Als erstes Industrieland hat sich das Königreich ein festes Datum gesetzt, wann das letzte Kohlekraftwerk vom Netz gehen soll: im Jahr 2025.
Das verkündete Energieministerin Amber Rudd im November bei einer lange erwarteten Rede zur künftigen Energiepolitik der konservativen Regierung. Es sei unbefriedigend, wenn eine moderne Volkswirtschaft wie die britische auf schmutzige, 50 Jahre alte Kohlekraftwerke angewiesen sei, sagte sie. Der Ausstieg solle „ein Beispiel setzen für den Rest der Welt“. In diesem Vortrag bei der Institution of Civil Engineers in London, einer Ingenieursvereinigung, versprach Rudd zudem gleich eine ganze „Flotte“ neuer Atommeiler sowie den Bau weiterer Gaskraftwerke, um das Aus für die klimaschädliche Kohle abzufedern. Damit das Land das Gas für die neuen Meiler nicht importieren müsse, solle demnächst Gas auf dem britischen Festland durch Fracking gefördert werden, sagte die Politikerin – eine von Naturschützern kritisierte Technik, um den Energieträger aus Schiefergestein zu gewinnen. Ökostrom hingegen spielte keine große Rolle in ihren Ausführungen.
Weg mit dem Klimakiller Kohle, dafür mehr Atommeiler und Fracking: Die Energiewende made in Britain hat mit der deutschen Vorstellung einer Energiewende nicht viel gemein. Höchstens den Ehrgeiz bei den Zielen. Denn auf Kohle zu verzichten, wird nicht einfach. Im vergangenen Jahr stammte fast jede vierte Kilowattstunde Strom aus Kohlemeilern, wie aus dem „Electricity Market Summary“ der Beratungsgesellschaft EnAppSys hervorgeht.
Der Ökostrom stirbt einen „Tod durch tausend Schnitte“
Klimaschützer loben das britische Good-bye für die Kohle. Kohlekraftwerke blasen besonders viel Kohlendioxid in die Luft und tragen somit stark zum Treibhauseffekt bei. Gaskraftwerke stoßen als Ersatz für Kohlemeiler nur halb so viel Kohlendioxid aus. Atomkraftwerke verursachen im Betrieb keine und über ihren Lebenszyklus betrachtet, also vom Bau bis zum Abriss, nur vergleichsweise geringe Emissionen. Die Regierung in London will Kohlemeilern lediglich dann den Betrieb nach 2025 gestatten, wenn diese das Kohlendioxid abscheiden und klimaschonend einlagern. Doch diese Technik ist bislang nicht zur Marktreife gelangt, sodass der Kohle de facto das Aus bevorsteht. Die britische Regierung scheint jedenfalls der Abscheidung wenig Chancen einzuräumen: Gerade mal eine Woche nach Rudds wichtiger Rede strich London ein Förderprogramm über eine Milliarde Pfund zur Entwicklung dieses Ansatzes.
Es war nicht der erste schwere Schlag für Ökoprojekte: Seit Ministerin Rudd ihren Vorgänger von den Liberaldemokraten, Ed Davey, nach dem Wahlsieg der Konservativen im Mai ablöste, kappte sie reihenweise Subventionen für grüne Energien. Das brachte ihr scharfe Kritik Daveys ein – und die der Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young. Die veröffentlichen viermal im Jahr einen „Renewable Energy Country Attractiveness Index“, eine Rangliste, wie attraktiv Staaten für Investments in Ökostrom sind. In der jüngsten Erhebung fiel Großbritannien erstmals aus den Top 10 heraus und landete auf Platz elf. Die Autoren schreiben, die Regierung habe die Branche zu einem „Tod durch tausend Schnitte“ verurteilt. Die Ökostromanbieter sind verunsichert, Investitionen werden abgesagt.
In ihrem Vortrag im November pries Rudd lediglich eine Form erneuerbarer Energien als möglichen Ersatz für Kohlemeiler: Offshore-Wind, also Windparks auf See. In Großbritanniens Gewässern drehen sich mit Abstand die meisten Windräder; diese erzeugen mehr Strom als sämtliche übrigen Offshore-Windparks der Welt zusammen. Viel Küste, viel Wind, geringe Wassertiefen – die Insel ist dafür wie gemacht.
Die bisherigen Subventionskürzungen der Konservativen treffen vor allem Solaranlagen und Windturbinen an Land. Die viel teureren Windräder auf See dagegen genießen noch die Unterstützung der Regierung, die sich davon eine neue zukunftsträchtige Industrie und viele Jobs verspricht. Rudd machte in ihrer Rede aber deutlich, dass „weitere Unterstützung streng daran geknüpft sein wird, dass die Kosten (…) schneller sinken“. Es gebe „keine Blankoschecks mehr“. Schaffe es die Offshore-Branche nicht, zu wettbewerbsfähigen Kosten zu produzieren, würden keine Subventionen mehr gezahlt. Rudd betont gerne, die konservative Regierung sei in der Energiepolitik „tough on subsidies“, sprich: Sie zeige bei Subventionen Härte. Mit dieser wohlklingenden Formel will die Ministerin die eigene Politik gegenüber der ihres liberaldemokratischen Vorgängers abgrenzen. Die Liberaldemokraten waren seit 2010 der kleine Koalitionspartner der Tories, also der Konservativen, bis diese bei den Wahlen im vergangenen Mai überraschend die absolute Mehrheit der Mandate im Parlament gewannen.
Die Subventionen für Ökoenergie finanzieren wie in Deutschland Haushalte und Unternehmen über Abgaben in ihrer Strom- und Gasrechnung. Die britische Industrie klagt, hohe Stromkosten seien ein Nachteil im internationalen Wettbewerb; zugleich sind steigende Energiepreise für die Bürger ein Ärgernis, das immer wieder Schlagzeilen macht. Daher begründet die Regierung ihre Kürzungen bei grüner Energie mit der Belastung der Stromkunden. Das Königreich hält aber am Ziel fest, bis 2020 etwa 15 Prozent des gesamten Energieverbrauchs – also nicht nur von Strom – aus erneuerbaren Quellen zu beziehen. Diese Marke schreibt die EU den Briten vor. Allerdings gelangte im November ein Brief Rudds an Kabinettskollegen an die Öffentlichkeit, in dem sie warnt, dass das Land dieses Ziel nach bisherigem Stand verfehlen werde.
Bei aller bekundeten Härte gegenüber Subventionen bewies die Regierung einen Monat vor Rudds großer Rede, dass sie für bestimmte Projekte weiterhin bereitwillig Fördergelder genehmigt. Im Oktober besuchte der chinesische Präsident Xi Jinping das Vereinigte Königreich, und zu diesem Anlass unterzeichneten der französische Stromversorger EDF und der chinesische Atomkonzern China General Nuclear Power Corporation ein so genanntes strategisches Investitionsabkommen. Der Vertrag besagt, dass die beiden Unternehmen anstreben, in der Grafschaft Somerset im Südwesten Englands ein Atomkraftwerk zu bauen: Hinkley Point C. Es soll im Jahr 2025 ans Netz gehen, pünktlich zum Abschied von der Kohle und 30 Jahre, nachdem zum bislang letzten Mal ein Reaktor auf der Insel in Dienst gestellt wurde. Die Baukosten liegen den Konzernen zufolge bei happigen 18 Milliarden Pfund (ca. 25 Milliarden Euro). Das nehmen die Firmen nur auf sich, weil die britische Regierung ihnen für 35 Jahre einen sehr hohen Abnahmepreis des Stroms garantiert – eine Milliardensubvention, welche die Verbraucher tragen müssen.
Traditionell sind die Tories Verfechter des freien Spiels der Marktkräfte, des Wettbewerbs. Aber auf dem Strommarkt gibt es keinen fairen Wettbewerb mehr zwischen verschiedenen Technologien und Ansätzen. Stattdessen entscheidet die Regierung, was eine Zukunft hat. Dorthin fließt Geld, woanders wird eben gekürzt. Atomkraft findet das Wohlgefallen Londons, Gas auch, Kohle nicht, Windkraft an Land nicht und Windkraft auf See vielleicht – Planwirtschaft an der Themse.
Die Europäische Kommission genehmigte die Beihilfen für Hinkley Point C bereits 2014, wogegen jedoch Österreich im vergangenen Sommer Klage beim Gericht der Europäischen Union einreichte. Dies könnte den Baubeginn verzögern. Der Stromkonzern EDF und sein chinesischer Partner wollen ihrem Abkommen zufolge nach Hinkley Point C zwei weitere Meiler auf der Insel errichten, beim zweiten sollen die Chinesen ihr eigenes Reaktordesign einbringen dürfen. Es wäre das erste Mal, dass ein chinesischer Reaktor in Westeuropa ans Netz geht.
Neben diesen Vorhaben von EDF und den Chinesen ist der Bau einer Reihe weiterer Atomkraftwerke in Großbritannien vorgesehen. Diese Projekte sind aber weniger weit gediehen als Hinkley Point C. In ihrer Rede zur Zukunft der Energieversorgung sagte Ministerin Rudd, bloß einen Meiler zu bauen, wäre ein „Fehler“. Wie Gaskraftwerke seien die „sicheren und verlässlichen“ Atommeiler „von zentraler Bedeutung“ für die Zeit nach der Kohle. Im vergangenen Jahr steuerten die britischen Atomkraftwerke gut ein Fünftel zur Stromversorgung bei, genauso viel wie alle erneuerbaren Energien zusammen. Doch werden die meisten der 15 Reaktoren Großbritanniens in den kommenden zehn Jahren das Ende ihrer Laufzeit erreichen – das erklärt, warum so eifrig neue Meiler geplant werden.
Anders als in Deutschland unterstützt in Großbritannien die Mehrheit der Bürger die Kernkraft; die Katastrophe im japanischen Fukushima vor fünf Jahren hat daran nichts geändert. Gegen einen Ausstieg aus der Kernenergie wie in Deutschland spräche zudem, dass das Vereinigte Königreich Atommacht ist, also zur Abschreckung über Atomsprengköpfe verfügt. Reaktoren und die Überlebensfähigkeit der Atomindustrie werden da zu Fragen nationaler Sicherheit. Es ist jedoch ungewiss, ob Hinkley Point C – und die Nachfolgeprojekte – rechtzeitig fertig werden. Der französische Stromkonzern EDF und sein chinesischer Partner planen, dort einen so genannten Europäischen Druckwasserreaktor zu bauen. In Flamanville in Nordfrankreich und Olkiluoto in Finnland wird der gleiche Typ errichtet, und beide Vorhaben sind mehrere Jahre in Verzug.
Eine heikle Lage: Kohlekraftwerke gehen bis 2025 vom Netz, viele Kernkraftwerke ebenfalls, und ob die neuen Atommeiler in den Jahren darauf betriebsbereit sind oder immer noch Baustellen, ist unklar. Daher braucht Großbritannien dringend zusätzliche Gaskraftwerke, denn erneuerbare Energien werden die Lücke nicht schließen können. Die in Großbritannien billigste Form von Ökostrom – Windkraft an Land – will die Regierung nicht ausbauen, auch weil Anwohner die Turbinen oft als Verschandelung der Landschaft ansehen. Neue Windparks auf See würden die Konservativen unterstützen, wenn denn die hohen Kosten sinken. Trotzdem wären selbst in dem Fall viele neue große Gaskraftwerke nötig. Doch zuletzt wurde nur eins gebaut, in Carrington bei Manchester. Ähnlich wie in Deutschland rechnen sich neue Gaskraftwerke nicht wegen der niedrigen Großhandelspreise für Strom. Die niedrigen Preise wiederum sind – ebenfalls wie in Deutschland – Folge des Ausbaus erneuerbarer Energien. In Großbritannien hat sich deren Anteil an der Stromversorgung in den vergangenen fünf Jahren mehr als verdreifacht.
An der Unlust der Versorger, in Gaskraftwerke zu investieren, änderte auch die Einführung des so genannten Kapazitätsmarkts im Jahr 2014 nichts. Bei diesem System erhalten Kraftwerke Subventionen, wenn sie sich verpflichten, Kapazität zur Stromerzeugung flexibel bereitzuhalten, um kurzfristige Schwankungen bei Angebot und Nachfrage auszugleichen. Liefern Windräder und Solaranlagen gerade viel Energie, fahren diese Kraftwerke ihre Produktion herunter. Und wird besonders viel Strom benötigt, füllen sie schnell die Lücke. Gaskraftwerke lassen sich gut hoch- und runterfahren, sollten also besonders profitieren von dieser Subvention, für die die Verbraucher aufkommen. Aber bislang haben sich die Hoffnungen der Regierung auf neue Gasmeiler nicht erfüllt.
Energieministerin Rudd muss der Branche bessere Anreize bieten. Der Abschied von der Kohle wird teuer. Und kompliziert.
Björn Finke ist Wirtschaftskorrespondent der Süddeutschen Zeitung in London.
IP Länderporträt 1, März - Juni 2016, S. 55-59