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01. Mai 2007

Kenne dich – und kenne den Feind!

Komplexer als im Spionageroman: Die Bedeutung der Nachrichtendienste nimmt zu

Seit dem Ende des Kalten Krieges haben sich Rolle, Funktion und Aufgaben der Nachrichtendienste fundamental verändert. Aber noch immer werden sie entweder verteufelt oder verklärt, umgibt sie der schillernde Nimbus alter Spionageromane. Ein nüchterner Blick tut deshalb not: Was können, was sollen die deutschen Dienste heute leisten – und was nicht?

Das Zeitalter des Kalten Krieges war in vieler Hinsicht eine Ausnahmeepoche: Die ganze Welt schien mit dem einfachen Schema der Bipolarität erklärbar zu sein. Es gab die Erste Welt, deren Zentrum in Washington lag, die sich als Wahrer von Freiheit, Menschenrechten und Demokratie verstand. Der andere Pol war Moskau, das sich als Geburtshelfer historischer Notwendigkeit sah, im Sozialismus ein Modell entwickelt zu haben glaubte, das sich im Wesentlichen als Gegenentwurf zum Kapitalismus begriff, ansonsten aber aus den gleichen Quellen der Aufklärung, des Freiheitswillens und des Fortschrittsglaubens des 18. und 19. westeuropäischen Jahrhunderts schöpfte. Neben diesen zwei Polen gab es noch eine Dritte Welt, die jedoch machtpolitisch, wirtschaftlich und technologisch keine Rolle spielte: Sie fiel vor allem immer dann auf, wenn sie für Stellvertreterkriege instrumentalisiert, als Rohstofflieferant benötigt oder als Adressat für Entwicklungshilfe begutachtet wurde. Im Kalten Krieg gab es jeweils nur einen Gegner: Für die NATO-Staaten war dies der Warschauer Pakt, für den Warschauer Pakt die NATO. Zwar fehlte es nicht an regionalen Konflikten – Vietnam, Afghanistan, Indien/Pakistan, die Nahost-Kriege, die zahllosen Kämpfe in Afrika – sie alle blieben jedoch Nebenschauplätze im Vergleich zu dem großen Hauptantagonismus. Dementsprechend waren die Streitkräfte beider Seiten organisiert und disloziert. Die Aufklärungsschwerpunkte reflektierten diese Grundkonstellation.

Heute stellt sich der Aufklärungsauftrag ganz anders dar: Potenziell ist die gesamte Welt Einsatzraum für deutsche Krisenkräfte geworden. Deshalb müssen Erkenntnisse über praktisch sämtliche Regionen gesammelt werden, mit denen wir nicht alliiert oder in der EU verbunden sind. Insbesondere sind dies: der Nachbarschaftsgürtel, der sich östlich und südlich von EU und NATO hinzieht, Nahost und Kaukasus-Region, Südasien und Ostasien, Afrika, in mancher Hinsicht sogar Teile der eigenen Gesellschaft, wenn es um die rechtzeitige Aufdeckung von Terrorplanungen innerhalb unserer eigenen Länder geht. „Wissen ist Macht.“ Dieser knappe Satz Francis Bacons zu Beginn der natur-wissenschaftlichen Entdeckungen des 17. Jahrhunderts gilt vor allem in der Sicherheitspolitik. Von Friedrich dem Großen ist der Ausspruch überliefert, er brauche im Felde nur einen Koch, aber Hunderte von Spähern und Spionen. Sun Zi, der altchinesische Meister der Strategie, wird nicht müde, die Bedeutung von vorausschauendem Wissen zu betonen: Wer siegen will, muss in der Lage sein, aus einem möglichst vollkommenen Wissen über die Gegenwart die Zukunft zu antizipieren und sich entsprechend aufzustellen: „Wenn du dich selbst und den Gegner kennst, ist der Sieg nicht in Gefahr.“ Einen Konflikt erfolgreich zu bewältigen, setzt drei Kerngebiete von Wissen voraus:

  • die eigenen Stärken, aber auch Schwächen und Verwundbarkeiten kennen;
  • die Fähigkeiten des Gegners richtig einschätzen;
  • gegenseitige Perzeptionen und Interessenlagen so gut analysieren, dass ein Weg zur Konfliktlösung auch ohne Gewalt eröffnet wird bzw. der Einsatz von Gewalt auf die unbedingt notwendigen Ziele beschränkt bleibt. Sun Zi betont, dass der Beste gewinnt, ohne zu kämpfen.

Aufklärung des Gegners – und hier ist es ganz wichtig hinzuzufügen: auch eine hinreichend realistische Einschätzung der eigenen Fähigkeiten – ist deshalb eine Grundvoraussetzung für jede Konfliktbewältigung. Aufklärung des Gegners beinhaltet dabei nicht nur sein materielles Dispositiv, Struktur, Auftrag und Taktik seiner Streitkräfte, sondern immer auch politische Absichten, Ziele, Werteprioritäten, also ideelle Aspekte. Der Kalte Krieg war weniger durch das Wettrüsten als durch den ideologischen Kampf geprägt, und er wurde entschieden nicht durch die Waffensysteme, sondern vor allem dadurch, dass die Glaubwürdigkeit der kommunistisch-sozialistischen Ideologie unter Breschnew langsam zu verlöschen begann.

Wer strategisch denkt, versucht Informationsüberlegenheit zu gewinnen. Wer über das genauere Bild der Gegenwart verfügt, wird in der Regel auch ein besseres Gespür für das Kommende entwickeln. Und wer die Zukunft richtig zu antizipieren versteht, der kann seine Kräfte optimal nutzen, der kann sich Trends und dynamische Entwicklungen, die sich auch ganz ohne sein eigenes Zutun vollziehen, zu Erfüllungsgehilfen der eigenen Strategie machen. Oder er kann rechtzeitig – das wäre der andere extreme Fall – gefährliche Gewichtsverschiebungen erkennen und sich rechtzeitig so darauf einstellen, dass er nicht die Kontrolle über derartige widrige Entwicklungen verliert und zumindest den Schaden für die eigene Sache minimieren kann. Das gilt übrigens nicht nur für den staatlichen, sondern heute viel stärker auch für den wirtschaftlichen Bereich. Wer im Zeitalter der Globalisierung überleben und dominieren will, benötigt weltweite Aufklärung, und zwar wesentlich mehr als das, was öffentlich zugängliche Medien vermitteln. Das erklärt einerseits das Aufblühen von exklusiven Sonderinformationsdiensten, die meist Insider-Informationen verbreiten; das erklärt aber vor allem, dass nach gängigen Schätzungen deutlich mehr als 50 Prozent aller weltweiten Spionageaktivitäten in den Wirtschaftssektor fallen. Aufklärung setzt voraus, dass man auch in Informationsbereiche vordringt, die der andere abschirmen möchte. Aufklärung erfordert deshalb einerseits technische Ansätze (Aufklärungsmittel wie optische oder Radarsatelliten, vor allem aber Überwachung elektronischer Informationsströme: SIGINT/Signal Intelligence), um im Zeitalter globaler Datenströme aus diesen Datenmengen die Daten herauszufiltern, die für das eigene Lagebild entscheidend sind. Andererseits gibt es das nach wie vor weite Feld der klassischen Spionage (HUMINT/ Human Intelligence), das zweitälteste Gewerbe der Welt.

Jeder Staat – und heute wohl jeder globale Akteur, also auch globale Wirtschafts- und Finanzinstitutionen – braucht gezielte Aufklärung über das immer unübersichtlicher werdende Umfeld. Dabei zeigt sich immer wieder, dass die Beschaffung von Information nicht das Hauptproblem ist; viel wichtiger ist die gezielte und rechtzeitige Beschaffung relevanter Information und deren richtige Interpretation und Analyse. Immer wieder stellen sich Lagebilder der Aufklärung als falsch dar. Die Fehleinschätzung der Programme zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen des Irak unter Saddam Hussein sind nur ein eklatanter Fall. Hier wurden richtige Hinweise und Wissensfragmente falsch zusammengesetzt zu einer Bedrohungslage, die in dieser brisanten Form nicht vorhanden war. Leider stützten sich auf diese Fehlanalyse weitreichende politisch-militärische Entscheidungen, die wiederum von weitreichenden Fehlurteilen über soziale, kulturelle und religiöse Faktoren im Irak begleitet waren.

Aufklärung ist ihrem Wesen nach niemals vollständig. Aufklärung liefert Einzeldaten und Bruchstücke, die der Analytiker zu einem Gesamtbild zusammenfügen bzw. ergänzen und deuten muss. Dies ist ein stets hochsubjektiver und deshalb riskanter Vorgang. Er lässt sich nur durch eine rigorose Methodik, kritische Überprüfung und kontroverse Diskussionen objektivieren.

Regel Nr. eins: Distanz zum politischen Tagesgeschäft

Besonders gefährlich wird es, wenn vorgegebene Vorurteile nur reflektiert werden, wenn Nachrichtendienste sich dazu hergeben, Hofberichterstattung zu betreiben und mit einer Tendenz zu berichten, die ihnen als genehm suggeriert worden ist. Der erste und wichtigste Grundsatz eines erfolgreichen und zuverlässigen Nachrichtendienstes lautet deshalb: Ein Nachrichtendienst muss Distanz zum politischen Tagesgeschäft wahren, er darf nicht parteipolitisch instrumentalisiert sein. Er sollte nicht Teil der Regierung sein. Er muss möglichst unabhängig sein, er sollte sogar ermutigt werden, Annahmen der Regierungspolitik in Zweifel zu ziehen – so wie es Sache jeder Regierung ist, Lageberichte eines Nachrichtendienstes immer wieder auf Wahrheitsgehalt, Belastbarkeit und innere Logik abzuklopfen. Die Erarbeitung eines Lagebilds ist immer zuvörderst ein Akt intellektueller Redlichkeit und eines kritischen Dialogs.

Aufklärung setzt Distanz zum Geschehen voraus. Ich kann kein Bild beschreiben, von dem ich selbst ein Teil bin. Ich kann nicht dort objektiv urteilen, wo ich subjetiv mit  eigenen Interessen involviert bin. Natürlich lässt sich die Verknüpfung von Erkenntnis und Interesse niemals ganz aufheben. Aber es sollten keine eigenen operationellen Interessen betroffen sein. Es ist prekär, wenn Nachrichtendienste, die Aufklärung liefern sollen, gleichzeitig auch geheime Kommandounternehmen durchführen. Hier liegt in meinen Augen eine der größten Gefahren. Wer selbst handelt, zudem noch unter hohem Risiko und ohne hinreichende politische Legitimation, wird immer versucht sein, das eigene Handeln durch die mitgelieferten Erklärungen zu rechtfertigen. Das Lagebild passt sich dann dem Akteur an – eine gefährliche Umkehrung der Prioritäten.

Deshalb lautet der zweite Grundsatz nachrichtendienstlicher Tätigkeit: Operatives Geschäft und Nachrichtenbeschaffung sollten so weit wie möglich getrennt bleiben. Dafür spricht unter dem Aspekt der Gewaltenkontrolle auch, dass alles operative Geschäft politisch zu verantworten ist. Wenn ein Nachrichtendienst also möglichst regierungsfern sein soll, folgt daraus, dass er nichts im operativen Geschäft zu suchen hat. Dafür sollten polizeiliche oder militärische Einheiten bereitstehen, die unter der unmittelbaren Verantwortung ihrer jeweils zuständigen Minister operieren.

Nachrichtendienste operieren geheim. Sie tun das nicht, weil sie Unerlaubtes tun. Sie tun es einfach, weil sie sonst ihren Auftrag nicht erfüllen könnten. In einer Welt, in der die erstaunlichsten Dinge aus öffentlich zugänglichen Quellen ergoogelt werden können, schrumpft der Raum dessen, was nachrichtendienstlicher Aufklärung bedarf. Nachrichtendienste dürfen nicht das, was Journalisten oder Diplomaten ohnehin erfahren können, noch einmal mit ihren aufwendigeren Methoden zusätzlich beschaffen. Sie sollen ja gerade dorthin vordringen, wo sorgfältig geschützte Informationsräume unautorisiertes Eindringen verhindern sollen. Nachrichtendienste benötigen deshalb Tarnung und Geheimhaltung. Dabei ist keineswegs alles geheimhaltungsbedürftig. So sind Ergebnisse, Einschätzungen und Beurteilungen in der Regel nicht schutzbedürftig, wohl aber deren Quellen und die zur Gewinnung verwendeten Methoden. Geheimzuhalten sind auch Strukturen, Identitäten, Aufklärungsschwerpunkte und technische Fähigkeiten. Nachrichtendienste bedürfen daher einerseits eines geschützten Raumes, in dem sie operieren können. Andererseits sind sie als Teil einer rechtsstaatlichen Ordnung an Recht und Gesetz gebunden und müssen sich verantworten und rechtfertigen. Das setzt eine stringente, kompetente und mit modernen Kontrollmethoden vertraute interne Führungsstruktur voraus. Das erfordert auch, dass Fehlleistungen analysiert, aufgeklärt und daraus notwendige Schlussfolgerungen gezogen werden. Dies sollte jedoch in aller Regel nicht so geschehen, dass die für ein erfolgreiches Operieren notwendigen Geheimhaltungsrichtlinien außer Kraft gesetzt werden. Es ist fraglich, ob ein formaler, rein strafprozessualer Ansatz dem empfindlichen Gefüge eines solchen Dienstes gerecht werden kann. Es sollte auch dafür Sorge getragen werden, dass an derartigen Untersuchungen, wenn sie erforderlich werden, Fachleute beteiligt sind, die mit Zwängen, Problemen und Schwachstellen des nachrichtendienstlichen Geschäfts vertraut sind. In jedem Fall können externe Kontrollen niemals besser sein als interne. Wo diese versagen, wird keine Verschärfung äußerer Kontrollen eine Besserung bringen können.

Jüngst sind Forderungen laut geworden, Befugnisse des parlamentarischen Kontrollgremiums zu stärken. Es ist fraglich, ob dies der richtige Weg ist:

  • Jedes parlamentarische Gremium arbeitet parteilich; Rücksichtnahmen auf Parteiinteressen sind naheliegend und unvermeidbar. Hier steht häufig das objektive Aufklärungsinteresse hinter parteitaktischen Gesichtspunkten zurück.
  • Auch wenn ein Untersuchungsausschuss hinter verschlossenen Türen tagt, ist bei der hohen Anzahl der Beteiligten die Wahrscheinlichkeit von Lecks immer inakzeptabel hoch.
  • Ein Untersuchungsausschuss ermittelt nach strafprozessualen Verfahrensweisen; ist dieser Ansatz tatsächlich angemessen angesichts der Komplexität und Sensibilität der zu ermittelnden Sachverhalte? Andere Aspekte, die für eine rechtlich-politische Würdigung der Vorgänge entscheidend sind, bleiben dann ausgeblendet bzw. unterbelichtet.

Es darf auch umgekehrt nicht dazu kommen, dass ein Nachrichtendienst von außen politisiert wird. Es ist nicht gut, wenn Mitarbeiter von außen protegiert werden, wenn neben den offiziellen Informationskanälen inoffizielle auf persönlicher Basis oder einer Parteischiene laufen, die dann dazu führen, dass sich Seilschaften bilden, Informationen abfließen, die Führungsfähigkeit des Dienstes insgesamt geschwächt wird.

Nachrichtendienste, die im Geheimen operieren und mit Sondervollmachten ausgestattet sind, haben schon immer die Phantasie der Außenstehenden beflügelt. Auffällig ist, dass ihnen ebenso häufig übernatürliche Fähigkeiten (Omnipräsenz, Allmacht und Allwissen) zugeschrieben werden wie vernichtende Kritik entgegengebracht wird: Unfähigkeit, Anfälligkeit gegen Pech, Pleiten und Pannen, Dummheit, Borniertheit. Weder das eine noch das andere Bild entspricht der Wirklichkeit. Natürlich haben auch Nachrichtendienste ihre Personalprobleme. Fehlleistungen sind deshalb gravierender, weil ihre Folgen verhängnisvoller sein können: Im schlimmsten Fall können Menschenleben davon abhängen oder es kann ein Krieg ausgelöst werden.

Beschränkende Faktoren der Erkenntnisgewinnung

Angesichts der heutigen globalen Kommunikationsdichte bleiben selbst die technisch anspruchsvollsten Aufklärungsansätze weit hinter dem zurück, was häufig als Orwell’sche Schreckensvision umhergeistert. Der wichtigste beschränkende Faktor ist weniger die Technik an sich als die Auswertung: Um eine Telekommunikation sinnvoll auswerten zu können, sind detaillierte Kenntnisse über Hintergrund der Anschlüsse bzw. der Gesprächspartner erforderlich. Häufig ergeben sich Sprachbarrieren, weil keineswegs überwiegend europäische Sprachen gesprochen werden. Und selbst dann: Wie viele Dolmetscher gibt es für Litauisch, Albanisch oder Baskisch? Nichts ist für gezielte Aufklärungsarbeit verhängnisvoller, als in einer unstrukturierten Flut von Primärdaten zu ertrinken. Sinnvolle Aufklärung ist immer sehr personalintensiv. Und dieses Personal muss hochqualifiziert sein. Hier liegt der eigentliche Begrenzungsfaktor für das, was so häufig abfällig als „Schnüffelei“ gebrandmarkt wird. Kein Nachrichtendienst wird blind drauflos „schnüffeln“. Meist müssen viele belastende Hinweise zusammenkommen, bevor Nachrichten gesammelt oder beschafft werden. Und dann bedarf es immer eines ganzen Teams, um aus diesen Daten echte Aufklärung zu gewinnen.

Jedes Land hat seine eigenen Traditionen mit Nachrichtendiensten. Die älteste dürfte in Großbritannien zu finden sein, wo die Dienste demnächst 100-jähriges Jubiläum feiern. Am bekanntesten sind CIA und KGB, wobei letzterer, obwohl offiziell schon bald nach 1990 aufgelöst, nach wie vor eine politisch einflussreiche Rolle spielt: Illusionslose Analysen des KGB waren in den achtziger Jahren mitentscheidend für den Reformkurs, den Gorbatschow einleitete. Heute scheint sich in Russland eine neue Elite in Staat und Wirtschaft mit KGB-Hintergrund zu formieren.

Deutschland lebt bis heute unter dem Schatten der Auswüchse des Geheimdienstwesen während des Naziregimes (Gestapo und RSHA) und in der DDR (Stasi). Deshalb ist in der Bundsrepublik schon früh die strikte Trennung zwischen Auslands- und Inlandsnachrichtendienst und zwischen Diensten und Polizei („Trennungsgebot“) festgelegt worden. Diese Trennungen haben sich bewährt; inzwischen hat eine pragmatische Zusammenarbeit über gut definierte Schnittstellen hinweg die alten bürokratischen Barrieren zwischen den Behörden weitgehend abgebaut. Trotzdem bleibt die scharfe Trennung der Befugnisse ein sinnvolles Kontroll- und Steuerungselement. Andere Länder kennen derartige Trennungen nicht. Viele ermächtigen ihre Dienste nach wie vor, auch geheime Operationen zu unternehmen. In etlichen nichtwestlichen Ländern sind Nachrichtendienste zudem vor allem Instrumente zur Herrschaftssicherung; sie unterstehen kaum wirksamen Kontrollen.

Mit dem Ende des Kalten Krieges haben sich die Ziele, die aufgeklärt werden müssen, grundlegend verändert. Zehn Jahre lang träumten manche sogar davon, man könne dank der „Friedensdividende“ auch die Nachrichtendienste gleich ganz abschaffen. Spätestens seit dem 11. September 2001 sind derlei Spekulationen obsolet. Wir brauchen nach wie vor Aufklärung, ebenso wie wir nach wie vor Streitkräfte benötigen – nur beides heute für völlig andere Zwecke.

Deutschland ist in einer Reihe von Auslandseinsätzen seiner Streitkräfte gebunden: Afghanistan, Libanon, Horn von Afrika, Kosovo, Bosnien-Herzegowina, für sechs Monate 2006 im Kongo. Wer Militär entsendet, benötigt ein besonders detailliertes Lagebild. Es muss vor allem gegenüber asymmetrischen Bedrohungen weit in den nichtmilitärischen Bereich hineinreichen, es muss Tiefenschärfe und Detailfülle aufweisen. Nur so kann das Leben unserer Soldaten wirksam geschützt werden: Wir benötigen Informationen über Attentäter und ihre Planungen, bevor es zum Anschlag kommt. Wir müssen die Bewegungen von Aufständischen oder Terrorgruppen kennen, bevor sie losschlagen. Nur so können die Soldaten mit optimaler Wirkung eingesetzt werden. Es war beispielsweise im Kongo wiederholt von entscheidender Bedeutung, dass in einem Gebiet, in dem sich Unruhen anzukündigen schienen, im Handumdrehen Soldaten auftauchten und sehr nachdrücklich ihre Fähigkeiten wie ihre Entschlossenheit, davon auch Gebrauch zu machen, demonstrierten. In Afghanistan gibt es ebenfalls Hinweise auf den Erfolg eines solchen Ansatzes: Abschreckung auf unterster Ebene, kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen. Und selbst wenn ein Kampfeinsatz unvermeidlich werden sollte, ist Aufklärung absoluter Trumpf: Nur mit hochakkurater Aufklärung lassen sich Kollateralschäden minimieren, lässt sich der Gegner tatsächlich nachhaltig in seinen Fähigkeiten schwächen. Nur hinreichende Aufklärung kann logistische Transporte, Patrouillen oder kritische Infrastruktur hinreichend schützen. Aufklärung ist dabei neutral. Sie ist weder offensiv, dient also nicht unmittelbar der Bekämpfung eines Zieles, noch ist sie defensiv, dient also nur dem eigenen Schutz. Aufklärungsergebnisse können sowohl einen Krieg vermeiden helfen (wäre UNSCOM im Irak geblieben und hätte bessere Arbeitsbedingungen gehabt, wäre es sehr viel schwerer gewesen, den Angriff vom März 2003 zu begründen) als auch im Krieg dazu beitragen, Ziele genauer und nachhaltiger zu bekämpfen.

Eigene Aufklärungskapazitäten für NATO und EU!

Deutschland hat sich dazu bekannt, niemals allein einen Kriseneinsatz durchzuführen. Das Handeln im Verbund, sei es NATO, sei es EU, ist zu einem Grundpfeiler des deutschen sicherheitspolitischen Engagements im Ausland geworden. Dies bedeutet aber auch, dass wir nicht nur mit verbündeten Partnern die gleichen Risiken teilen, sondern dass wir auch selbst überfordert wären, wollten wir alles das, was für einen erfolgreichen Auslandskriseneinsatz erforderlich ist, aus eigenen Kräften darstellen. Wir können mit unseren eigenen Mitteln nicht weltweit mit der Detailtiefe und Trennschärfe aufklären, die für Kriseneinsätze erforderlich sind. Wir sind also auf engste Zusammenarbeit mit Partnerdiensten angewiesen. Dabei haben wir auf deren innere Strukturen keinen Einfluss. Wir werden deshalb immer wieder auch mit Diensten kooperieren müssen, die anders aufgestellt sind und anders operieren als die eigenen. Wir werden hier immer vor dem Problem pragmatischer Effizienz und prinzipieller Distanz stehen. Jedem Diplomaten ist dieser Spagat vertraut.

Das bedeutet auch, dass wir den Institutionen, die zunehmend die Hauptlast des Krisenmanagements tragen, nämlich NATO und EU, verstärkt eigene Aufklärungskapazitäten zuwachsen lassen müssen. Das heißt nicht, dass diese Institutionen eigene Nachrichtendienste aufbauen sollen. Aber es erfordert, dass wir gemeinsame Analyse- und Lagezentren schaffen, die dann von den Mitgliedern nach bestem Wissen beliefert werden und so gemeinsame Lagebilder für gemeinsame politische Beschlüsse fertigen können. Die politischen Divergenzen sind ohnehin erheblich genug. Werden sie noch dadurch verstärkt, dass es keine Einigkeit über die Fakten und deren Bewertung gibt, ist geschlossenes Auftreten und gemeinsames Handeln doppelt schwer.

Will Deutschland eine globale Rolle spielen – und die globale Verflechtung seiner Wirtschaft wird dies zwingend erfordern – muss es eigene globale Aufklärung betreiben. Dies wird es aber nicht mit der erforderlichen Detailgenauigkeit tun können, die für operative Kriseneinsätze notwendig ist. Wir sind deshalb in solchen Lagen immer auf den Aufklärungsverbund mit Partnern angewiesen. Das bedeutet nicht den kompletten Verzicht auf autarke Fähigkeiten: Nur wer geben kann, wird auch beliefert. Und Erkenntnisse aus eigener Quelle sind unerlässlich, um die Authentizität von Aussagen der Verbündeten auch nachprüfen zu können. Deshalb braucht Deutschland nicht nur taktische Aufklärungsfähigkeiten (Drohnen), sondern Aufklärungssysteme mit potenziell globaler Reichweite (SAR LUPE und global Hawk).

Umgekehrt erwarten die Partner zu Recht, dass Deutschland eigene gewonnene Erkenntnisse mit ihnen teilt. Und ebenso wie wir zu Recht erwarten, dass wir unterrichtet werden, wenn unseren Soldaten Gefahren drohen, so können wir uns doch nicht ernsthaft verweigern, wenn wir über Erkenntnisse verfügen, die für die Kampfsituation unserer Verbündeten von vitaler Bedeutung sind! Was wäre, wenn einer unserer Partner schwere Verluste erleidet, und hinterher stellt sich heraus, Deutschland hätte Erkenntnisse gehabt, die das Leben dieser Verbündeten hätten retten können? Umgekehrt gilt doch auch: Niemand will kämpfen. Aber wenn gekämpft werden muss, dann möglichst wirkungsvoll. Wenn also deutsche Aufklärungserkenntnisse dazu beitragen, die für die Konfliktfähigkeit entscheidenden Ziele des Gegners zu treffen, dann ist dies ein sinnvoller Informationsaustausch, solange wir den gleichen Gegner haben. Denn der Sinn des Kampfes ist ja nicht der Kampf, sondern das Erreichen eines politisch definierten Zieles. Insofern geht die Debatte um die Rolle von deutschen Aufklärungsergebnissen an der Realität von Kriseneinsätzen vorbei. Denn wir können unseren Verbündeten nicht verweigern, worauf wir im Ernstfall selbst nicht verzichten wollen.

Die Bedrohung durch den internationalen islamistischen Terrorismus hat ein völlig neues Aufklärungsziel geschaffen. Der Dschihadismus ist eine nahezu universale Gefahr geworden. Zu seinem Milieu ist schwer Zugang zu finden, er kann sich eines großen Umfelds von Sympathisanten und Unterstützern sicher sein. Er kommt generell aus islamistischen Kreisen, hat seine Wurzeln aber durchaus nicht nur in islamisch geprägten Ländern, sondern mindestens ebenso virulent in der Diaspora und unter muslimischen Minderheiten in Europa, Amerika und Asien. Dem internationalen Netzwerk des Terrors ist nur durch einen ebenso engen weltweiten Verbund von Aufklärung und Verfolgung entgegenzuwirken. Zumal von Europa aus ist es unumgänglich, mit Partnern in islamischen Ländern zusammenzuarbeiten, die in vielen Bereichen nicht nur unsere Grundwerte nicht teilen, sondern teilweise sogar auf anderen Ebenen gegen uns arbeiten. Die Abwägung hier wird immer schwierig sein. Aber es wäre vermutlich tödlich, Erkenntnisse zu ignorieren, nur weil sie von Institutionen stammen, mit deren Methoden und Zielen wir nicht übereinstimmen. Im Kampf gegen die Taliban kann z.B. der Iran wichtige Erkenntnisse liefern. Wenn er dazu bereit ist, soll dann der Konflikt, den wir mit Teheran auf anderen Ebenen haben, uns daran hindern, hier den gemeinsamen Gegner zu schwächen?

Der weltweite Kampf gegen den Terrorismus erzwingt neue Formen der Kooperation. Gerade aber in Bezug auf den islamistisch inspirierten Terrorismus gilt, dass man den Gegner kennen und verstehen muss, bevor man ihn besiegen kann. Gegenwärtig setzt die westliche Welt stark auf Repression, polizeiliche und militärische Mittel. Das war als erste Reaktion auf den 11. September verständlich und wohl unumgänglich. Langfristig aber können wir uns nicht darauf beschränken, einzelnen Terroristen das Handwerk zu legen. Wir müssen das Phänomen als ganzes zurückdrängen, wir müssen die Quellen trocken legen, aus denen sich der Sumpf nährt. Und da stehen wir noch ganz am Anfang: Wer verbreitet die Botschaft des Dschihad? Wie und wo werden neue Terroristen rekrutiert? Was macht junge Leute anfällig für diese Ideologie? Weshalb sind Selbstmordattentate plötzlich so attraktiv? Welche Rolle spielen Familien, Nachbarschaften, Schulen, Moscheen bei der Entwicklung zum Terroristen? Auf alle diese Fragen wissen wir kaum belastbare Antworten. Die brauchen wir aber, wenn wir nicht nur punktuell reagieren, sondern generell präventiv agieren wollen.

Wir müssen dem Terror den Nachschub abschneiden. Wir müssen die junge Generation immunisieren gegen die Botschaften von Osama Bin Laden und denjenigen, die seine Bewegung weiterführen. Nur so wird die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus langfristig verschwinden. Dies kann nur geschehen, wenn hierzu weltweit die notwendigen Erkenntnisse zu einem globalen Aufklärungsverbund zusammengeführt werden.

Dr. RUDOLF ADAM, geb. 1948, war von 2001 bis 2004 Vizepräsident des Bundesnachrichtendienstes (BND). Seither leitet er als Präsident die Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2007, S. 43 - 51.

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