Demographie und Sicherheit
Acht Thesen zur künftigen Beziehung von Bevölkerungsentwicklung und Sicherheitspolitik
Wer in die Zukunft schauen will, ist gut beraten, mit
Bevölkerungsentwicklungen zu beginnen. Denn demographische Prognosen gehören zu
den wenigen relativ gut gesicherten Annahmen. Und wer strategisch denkt, muss
versuchen, sich rechtzeitig auf absehbare Entwicklungen einzustellen – vor
allem auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik.
Demographie ist kein Tabuthema mehr. Über Jahre hat die öffentliche Debatte in Deutschland darunter gelitten, dass Bevölkerungstrends und ihre Beeinflussung durch die Politik sofort unter das Stigma von nationalsozialistisch vorgeprägten Begrifflichkeiten gerieten. Inzwischen gehören Bevölkerungspyramiden und Überalterungsszenarien zum Gemeingut. Demographischer Wandel wird in Deutschland dennoch primär als innenpolitisches Problem gesehen. Er gehört demnach ins Umfeld von Alterssicherung und Altervorsorge, Renovierung des Gesundheitssystems und Arbeitsmarktpolitik.
Viel zu wenig beachtet wird, dass der demographische Wandel in Deutschland eingebettet ist in ein internationales Umfeld, in dem die absehbaren Verschiebungen in traditionellen Bevölkerungsstrukturen noch viel radikaler und uneinheitlicher sind. Bevölkerungsentwicklungen gehören zu den wenigen relativ gut gesicherten Annahmen, die wir unseren Zukunftsprojektionen zugrunde legen können. Denn diejenigen, die in 20 bis 25 Jahren Eltern werden können, müssen schon geboren sein. Lebenserwartungen ändern sich nur langsam. Wer also in die Zukunft schauen will, ist gut beraten, mit Bevölkerungsdaten zu beginnen. Und wer strategisch denken will, muss versuchen, künftige Entwicklungen zu antizipieren, um sich rechtzeitig darauf einzustellen.
Dabei liegt eine Hauptgefahr in der Makrobetrachtung bzw. in statistischen Durchschnittsgrößen: Tatsache ist, dass die Weltbevölkerung weiter anwächst, vermutlich auf mindestens 9,5 Milliarden bis 2050. Dahinter verbergen sich aber höchst divergierende Trends: In manchen Ländern wird sich die Bevölkerung verdreifachen, in anderen um 15 Prozent zurückgehen. Wachstumsintensive Länder haben jugendliche Bevölkerungen, Bevölkerungsrückgang bedeutet für viele Länder Alterungsprozesse. Es ist richtig, dass global gesehen der erstaunliche Aufschwung der Weltbevölkerung bislang einherging mit einem ebenso präzedenzlosen Aufschwung von Wohlstand und Lebenserwartung. Aber auch dahinter verbergen sich höchst konträre Geschichten: Einige Länder haben einen weit über das durchschnittliche Niveau herausragenden Standard, andere bewegen sich nach wie vor an der Subsistenzgrenze und haben Lebenserwartungen, die nicht höher liegen als die im europäischen Mittelalter.
Um Missverständnissen gleich vorzubeugen: Bevölkerung spielt nicht mehr die Rolle als Machtfaktor, die sie von den Napoleonischen Kriegen bis 1945 gespielt hat, wo Massenarmeen durch schiere Unerschöpflichkeit an „Menschenmaterial“ den Sieg suchten. Bevölkerung ist also sicherlich nicht mehr das Substrat für Massenkriege. Sie stellt auch längst nicht mehr die unerschöpfliche Reserve proletarischer billiger Arbeitskräfte dar.
Die Entwicklung der eigenen Bevölkerung war zu allen Zeiten das Substrat der Machtentfaltung eines Staates. Früher galt eine große, wachsende Bevölkerung als unerlässliche Voraussetzung für militärische und wirtschaftliche Macht. Dieser Zusammenhang ist heute weniger deutlich: Moderne Produktionsprozesse und moderne Konfliktformen haben das Zeitalter der Massenarmeen und der Arbeitermassen weit hinter sich gelassen. Qualifikationen, technische Überlegenheit, Informationsdominanz, gute strate-gische Analysen und solide Vernetzungen sind heute entscheidender als rein quantitative Faktoren. Dennoch spricht alles dafür, dass die gewaltigen Umschichtungen, die die Welt in den nächsten zwei Generationen erleben wird, nicht folgenlos für Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten der Akteure auf internationaler Ebene bleiben werden.
Dennoch wird eines der Probleme der Überalterung europäischer Gesellschaften sein, dass der Rekrutierungspool für Soldaten sinkt, dass die Konkurrenz um Fachkräfte sich verschärft und, da der Soldat der Zukunft immer stärker technische und soziale Kompetenzen benötigen wird, die Personalkosten für Streitkräfte deutlich steigen werden. Eine weitere Konsequenz des Aneinanderstoßens von Gebieten mit hohem Bevölkerungswachstum und solchen mit schwachem oder negativem Wachstum liegt in der unterschiedlichen Empfindlichkeit gegenüber Tod und Verwundung: Wo nur ein Kind pro Familie vorhanden ist, werden Todesfälle in Kampfsituationen schwerer zu verkraften sein als in Gesellschaften, wo die meisten Frauen mehrere Söhne haben und sogar stolz darauf sind, einige davon als Märtyrer im Kampf zu opfern. Israel erlebt dieses Dilemma im Konflikt mit Hamas und Hisbollah. Die Schwierigkeiten der USA in Irak rühren auch daher, dass mit weniger als zwei Prozent Todesfällen der dort stationierten Streitkräfte der Durchhaltewille bereits deut-liche Ermüdungserscheinungen zeigt, wohingegen die irakische Gesellschaft den unerhört hohen Blutzoll, den sie selbst zu entrichten hat, bisher ohne erkennbare Zeichen der Erschöpfung hinnimmt.
Dennoch, das zeigen Uganda, Somalia und Darfur, sind Genozid-ähnliche Massenmorde nicht weniger wahrscheinlich geworden. Ihre Gründe sorgsam zu analysieren ist eine der dringlichsten Aufgaben unserer Zeit. Wenn die Hypothese zutrifft – und sie scheint zumindest nicht unplausibel – dass wachsender Bevölkerungsdruck und knapper werdende agrarische Anbauflächen mitverantwortlich waren für die Massaker zwischen Hutus und Tutsis, dann müssten daraus operative Schlussfolgerungen im Sinne präventiver Krisenvorsorge gezogen werden.
Demographie ist kein rein quantitativer Machtfaktor. Ob ein Land viel oder wenig Bevölkerung hat, besagt nicht viel über seinen Wohlstand oder seine internationale Gestaltungsmacht. Überbevölkerung ist ein problematischer Begriff, und Malthus hat in seinem mechanistischen Determinismus sicherlich viele relevante Faktoren verkannt. Dennoch lassen sich einige grundsätzliche Hypothesen formulieren:
- Rasantes und nachhaltiges Wirtschaftswachstum fällt, vor allem zu Beginn einer Modernisierung und einer technologischen Revolution, meist zusammen mit einem nachhaltigen Bevölkerungswachstum: Der wachsende Nachschub an Arbeitskräften führt zu extensivem Wachstum.
- Entscheidend ist nicht allein die Zahl der Bevölkerung, sondern mindestens ebenso wichtig sind die altersmäßige Zusammensetzung und die beruflichen Qualifikationen dieser Bevölkerung.
Globalisierung trägt in atemberaubendem Tempo dazu bei, dass weltweit Kommunikationskosten fallen. Das bedeutet nicht nur, dass industrielle Produktion und Finanzdienstleistungen global mobil werden; mobil werden auch Bilder, Informationen und die Menschen selbst. Globalisierung führt dazu, dass es höchst dynamische Wachstumszentren gibt, dass aber auch weite Landstriche ohne wirklichen Zugang zu diesem Wachstum bleiben – nicht nur in der Dritten Welt, die es in ihrer traditionellen Form schon längst nicht mehr gibt. Funktionierende Sozialsysteme, die diese Dynamikunterschiede regional und sozial abfedern können, werden zu einem entscheidenden Stabilitätsfaktor.
Demographie kann sicherheitspolitische Auswirkungen auf dem Gebiet der Wettbewerbsfähigkeit und des Migrationsdrucks haben. Sie kann destabilisierend in Gesellschaften wirken, die an der Dynamik uneinheitlicher Wachstumsprozesse zu zerbrechen drohen. Und sie kann ein neues „Proletariat“ von jungen Menschen schaffen, die ohne wirkliche Perspektiven ins Leben gehen und auf alternative Sinngebungen verweisen werden, weil sie in den sich zum globalen Verbund zusammenschließenden Wachstumszentren keine Chancen finden.
Ein paar Zahlen (alle Angaben in Millionen) mögen für sich sprechen:
Am Ende des Zweiten Weltkriegs lauteten die Bevölkerungszahlen wie folgt:Europa: 350, USA: 180, Afrika: 100, Indien: 400, China: 400, Sowjetunion: 200. Die Welt insgesamt hatte etwa drei Milliarden Einwohner; davon entfielen auf Europa 12 Prozent, auf die USA 5 Prozent, auf Asien 35 Prozent und auf Afrika 3 Prozent.
Heute sehen die Zahlen so aus:
Europa: 500, USA: 300, Afrika: 900, Indien: 1100, China: 1300, Russland: 140. Die Welt insgesamt hat 6,5 Milliarden Einwohner; davon entfallen auf Europa 8 Prozent, auf die USA 4,5 Prozent, auf Asien 60 Prozent, auf Afrika 14 Prozent.
In der Mitte des 21. Jahrhunderts werden die Zahlen wie folgt aussehen:
Europa: 400, USA: 420, Afrika: 1900, Indien: 1600, China: 1500, Russland: 120. Die Welt wird dann circa neun Milliarden Menschen tragen, von denen 4,5 Prozent auf Europa entfallen, 4,7 Prozent auf die USA, 55 Prozent auf Asien und 22 Prozent auf Afrika.
Auf den ersten Blick wird klar: Die USA halten ihren Anteil an der Weltbevölkerung relativ konstant, Europa und Russland fallen zurück, Afrika und Indien preschen vor, China fällt ab 2030 deutlich zurück. Auffällig ist die Diskrepanz zwischen Europa und Afrika, zwei benachbarten Kontinenten: Hatte Europa 1945 viermal so viel Einwohner wie Afrika, so wird sich dieses Verhältnis 100 Jahr später genau umgekehrt haben. Nimmt man Südamerika und Mexiko hinzu, ergibt sich für die USA ein ähnliches, allerdings deutlich weniger dramatisches Bild: Das Verhältnis zwischen der Bevölkerung Anglo-Amerikas und der von Lateinamerika verschiebt sich im gleichen Zeitraum von 1:1 auf 1:2 (Lateinamerika 1950: 170, 2050: 780). Europa und Russland haben schrumpfende Bevölkerungen, in deren unmittelbarer Nachbarschaft sich Gesellschaften mit extrem hohen Wachstumsraten befinden. Nimmt man die arabische Welt hinzu, die teilweise die höchsten Fertilitätsraten der Welt aufweist, komplettiert sich dieses Bild.
Dabei erfolgen Bevölkerungsverschiebungen innerhalb der Kontinente wiederum höchst uneinheitlich: In Europa verlieren Spanien und Italien am stärksten, Frankreich am wenigsten. Südafrika, das bislang über 60 Prozent der gesamten Wertschöpfung des afrikanischen Kontinents ausmachte, wird bis 2050 ein Fünftel seiner Bevölkerung verlieren (AIDS; von 48 auf 40). Botswana wird kaum noch existieren (AIDS, von 1,6 auf 0,6, ein Verlust von 65 Prozent). Andererseits werden Länder, die ohnehin in Zonen marginaler Subsistenzwirtschaft liegen (Sahelzone) ihre Bevölkerung in den nächsten 50 Jahren verdreifachen: Mali wird seine knapp 12 Millionen auf 50 Millionen steigern; Kenia von 32 Millionen auf etwa 120 Millionen, der Kongo wird 2050 knapp 200 Millionen Einwohner haben im Vergleich zu 53 Millionen heute.
Noch dramatischer sind Zahlen aus der arabischen Welt: Jemen, ein Land, das überwiegend aus Gebirge und Wüste besteht und keinen Fluss hat, der zuverlässig das Jahr über Wasser führt, hatte 1950 2,5 Millionen Einwohner; heute sind es 20 Millionen, 2050 werden es 80 Millionen sein. Damit wird Jemen die deutsche Bevölkerung überflügeln. Heute schon liegt die Arbeitslosenquote im Jemen bei 35 Prozent; 45 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Das Wirtschaftswachstum liegt bei 2,4 Prozent, das Bevölkerungswachstum bei 3,6 Prozent. Für Saudi-Arabien gelten ähnliche Zahlen; auch das saudische Königreich wird 2050 etwa 80 Millionen Einwohner haben; bei der Staatengründung durch den Vater des heutigen Königs dürfte die Gesamtbevölkerung kaum mehr als eine Million betragen haben. Gewiss, Saudi-Arabien verfügt über die höchsten Öleinkünfte der Welt; trotzdem steigen die öffentlichen Schulden.
Zwischen Europa und seinen im Süden und Südosten angrenzenden Nachbargebieten zeichnet sich eine Entwicklung ab, wonach immer mehr Staaten mit alternder, schrumpfender Bevölkerung, aber hochentwickelten sozialen Sicherungssystemen immer mehr jugendlichen Gesellschaften mit rasant weiter wachsender Bevölkerung, aber hoffnungslos inadäquaten sozialen Sicherungssystemen gegenüberstehen. Europa wird auch weiterhin mit einem gemäßigten Wirtschaftswachstum rechnen können. In den meisten der angrenzenden Nachbarländer bleiben die Impulse von Wirtschaftswachstum, Innovation und Investitionen hinter dem Bevölkerungszuwachs zurück. Europa besteht überwiegend aus Energieimporteuren, in der südöstlichen Nachbarschaft befinden sich einige der potentesten Energielieferanten. Das schafft Abhängigkeiten, Gefälle, Lock- und Treibfaktoren (push and pull). Die beklemmenden Szenen um Ceuta und Melilla im letzten Herbst und die anhaltende Flut von Migranten, die übers Wasser Europa zu erreichen suchen, dürften das erste Wetterleuchten von sehr viel heftigeren Unwettern sein, die noch kommen. Allein in diesem Jahr sind auf den Kanaren bereits über 30 000 Migranten gelandet; über die Zahl derer, die auf der Passage in völlig unzureichenden Fischerkähnen den Tod gefunden haben, gibt es nur Spekulationen.
Sicherheitspolitisch relevante Schlussfolgerungen
1. Wenn neue Weltregionen zu bevölkerungspolitischen Schwergewichten werden und wir gleichzeitig wollen, dass internationale Institutionen repräsentativer werden, werden diese aufstrebenden Akteure mehr internationales Gestaltungsgewicht beanspruchen und auch erhalten. Können wir uns dann noch sicher sein, dass diese Institutionen, die im Wesentlichen eine Schöpfung aus europäisch-amerikanischer Tradition waren und in diesem Raum entwickelten Vorstellungen von Recht, Normen und Ordnungsmustern gefolgt sind, diesen Kurs fortsetzen werden? Werden die Vertreter anderer Rechtssysteme, anderer Vorstellungen von Gerechtigkeit, Vertragsfreiheit und Freiheitsrechten künftig stärker Einfluss gewinnen? Könnte es sein, dass Chinesen, Inder, Afrikaner und Araber andere Vorstellungen von Menschenrechten und von Verteilergerechtigkeit thematisieren werden als wir es bisher erlebt haben? Werden sie den institutionellen Rahmen, der sich seit 1945 entwickelt hat, übernehmen, ihn umbauen oder revolutionieren?
2. In alternden Gesellschaften dürften Risikobereitschaft und Innovationsfreude ab-, Sicherheitsdenken und Besitzstandswahrung dagegen zunehmen. Alternde Gesellschaften dürften eher Status quo orientiert, junge Gesellschaften flexibler und vielleicht sogar revolutionärer sein. Welche Konsequenzen wird das für die Soft Power alternder Gesellschaften haben? Werden sie noch als Vorbild, als Normensetzer, als Maßstab für Lebensformen gelten können?
3. Demographischer Wandel ist in sich wertneutral. Allerdings ist die Menschheit zum ersten Mal in ihrer Geschichte mit schrumpfenden, alternden Gesellschaften konfrontiert. Bisher sind Schrumpfungsprozesse in der Regel mit Katastrophen verbunden gewesen: Epidemien, Umweltkatastrophen, Verwüstungen, Krieg und Eroberungen. Insgesamt scheint die Forschung nahe zu legen, dass Bevölkerungswachstum an sich eine Herausforderung sein mag, keinesfalls aber eine Bedrohung oder Gefahr. Gefährlich wird es erst, wenn Bevölkerungswachstum und schwache bzw. erodierende Staatlichkeit zusammentreffen: Veränderungen in der Bevölkerung erfordern immer vorausschauendes und entschlossenes staatliches Handeln. Wo dieses fehlt, ist die Gefahr groß, dass die notwendigen Anpassungsprozesse sich chaotisch, gewalttätig und destruktiv vollziehen.
Weder lässt sich sagen, dass eine starke Bevölkerung etwas Gutes (oder Schlechtes), noch dass eine abnehmende Bevölkerung ein Verhängnis sei. Es kommt darauf an, ob es der Politik gelingt, diese sich abzeichnenden Veränderungen aufzufangen, sie nicht nur reaktiv nachzuvollziehen, sondern sie antizipierend und präventiv gestaltend zu kanalisieren. Voraussetzung dafür ist eine ehrliche, tabu- und ideologiefreie Wahrnehmung von Fakten. In Deutschland ist die tatsächlich einsetzende Immigration zu lange verdrängt worden durch die stereotype Behauptung, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Durch die lange Fokussierung der Zuwanderung auf Asylbewerber und Flüchtlinge – Faktoren, die außerhalb jeglicher politischer Gestaltungsmöglichkeit Deutschlands lagen – ist Zuwanderung viel zu lange als bedrohliche Flut, die es abzuwehren, einzudämmen, bestenfalls passiv zu erdulden gilt, wahrgenommen worden, nicht aber als etwas, das positive und aktive Gestaltungsräume bot. Die Konzentration auf Zahlen in Verbindung mit einer stark egalitären Ideologie hat verhindert, dass individuelle Zuwanderungskriterien aufgestellt werden konnten, wie sie in klassischen Einwanderungsländern wie etwa Kanada und Australien seit langem selbstverständlich sind.
4. Das Wesen von Migration wandelt sich: Der klassische Auswanderer des 19. Jahrhunderts ließ alles hinter sich und verschrieb sich vorbehaltlos einer neuen Zukunft im Unbekannten. Heute trifft der Migrant häufig in seinem Zielland eine vertraute Infrastruktur an – dies gilt nicht nur für die legendären Chinatowns, inzwischen gibt es türkische, arabische, indische, pakistanische, indonesische „Kieze“ in europäischen und amerikanischen Städten. Er bleibt in engem Kontakt mit seinem Herkunftsland. Die Migration selbst bleibt reversibel, Reisekosten sind erschwinglich, häufig werden die Wurzeln im alten Land nicht gekappt und es bilden sich Formen „zirkularer“ Migration. Dies bleibt nicht ohne Folgen für Integrationswillen und Anpassungsdruck im Gastland. Dies wirkt sich vor allem in der zweiten und dritten Generation aus (Entwurzelungs-effekte, Wanderer zwischen den Welten, Spannungen zwischen Traditionen des Herkunfts- und des Gastlands).
Entscheidend ist, Migration nicht primär als quantitatives, sondern als qualitatives Problem zu begreifen: Es handelt sich immer um Individuen, die von ihrer kulturellen Affinität, ihrer Motivation und ihren Qualifikationen her ganz unterschiedliche Integrationschancen bieten. Das aber heißt nichts anderes, als dass Migration ein höchst positiver Faktor sein kann, sofern sie sich gesteuert und nach klar definierten Kriterien vollzieht.
5. Demographische Verschiebungen haben weitreichende wirtschaftliche Auswirkungen: Fachkräfte können knapp werden; hiervon werden insbesondere Russland, die Ukraine und einige Staaten Europas betroffen sein; China wird ab 2030 ein gravierendes und abruptes Überalterungsproblem bekommen, das sich als deutlicher Bremsklotz für das gegenwärtige stürmische Wachstum auswirken wird – ganz abgesehen davon, dass China kaum über belastungs-fähige öffentliche soziale Sicherungssysteme verfügt. Umgekehrt wird Indien vermutlich noch lange von seinem enormen Potenzial gut gebildeter junger Leute profitieren können. In arabischen und afrikanischen Ländern, in denen das Bevölkerungs- das Wirtschaftswachstum deutlich und dauerhaft übersteigt, wird sich ein unruhiges Potenzial junger Menschen aufbauen, denen die legalen staatlichen Strukturen wenig Lebensperspektiven bieten können. Es liegt nahe zu vermuten, dass für diese Leute alternative Lebensentwürfe attraktiver werden: das Abdriften in Kriminalität, häufig organisiert, die Hinwendung zu metaphysischen Erlösungserwartungen bis hin zu radikalem Fundamentalismus und Terror – der die verlockende Perspektive bietet, dem sinnlosen Leben wenigstens durch den eigenhändigen Tod rückblickend einen Sinn zu geben –, und schließlich die Hinwendung zu revolutionärer Gewalt. Besonders brisant dürfte es dort werden, wo innerhalb dieser jugendlichen Alterskohorte der Männeranteil deutlich höher ist als der Frauenanteil, so dass hier vermutlich die Attraktivität einer männerbündlerischen Subkultur besonders akut wird. Bevölkerungswachstum wird in Gegenden mit ohnehin marginalen Subsistenzbedingungen zu Verteilerkämpfen um knappe Ressourcen führen: Wasser, Weidegründe, Rohstoffe. Es wird Binnenmigrationen vom Land in die Großstädte, vom Landesinneren an die Küsten, von den Küsten in ferne Kontinente auslösen.
Bevölkerungsdruck erhöht den Umweltstress: Einerseits zieht ein Bevölkerungswachstum mit entsprechendem Wirtschaftswachstum wachsende Emis-sionen, Erosion, Landverbrauch und Müll nach sich. Andererseits lässt ein kurzfristig wirksamer Bevölkerungsdruck immer weniger zu, auf langfristige Umweltveränderungen Rücksicht zu nehmen: Es kommt zu Überweidungen, Zerstörung wertvoller ökologischer Gebiete durch Austrocknung oder Abholzung, durch umweltschädigende Formen der Rohstoffgewinnung usw. Wenn China den gleichen fossilen Energieverbrauch pro Kopf wie die USA hätte, würde China allein täglich 120 Millionen Barrel pro Tag benötigen; die Weltproduktion beläuft sich heute auf 83 Millionen Barrel pro Tag. Mit anderen Worten: Ein solcher Verbrauch Chinas würde die Ressourcenreichweite bei Erdöl von gegenwärtig etwa 40 Jahren auf maximal zwölf Jahre verkürzen.
6. Demographische Verschiebungen können bei unterschiedlichen Geburtenraten zu ethnischen Spannungen führen: Einer der Gründe, weshalb Israel seine Vorstellungen eines Großisrael unter Einschluss der so genannten Gebiete von Samaria und Galiläa aufgeben musste, liegt in der Erkenntnis, dass dies Israel unweigerlich vor das Dilemma gestellt hätte, entweder ein zunehmend undemokratisches Apartheid-ähnliches Regierungssystem aufzubauen oder den Charakter Israels als jüdischer Staat zu gefährden. Daher rührt die Bereitschaft auch zu einseitigen Rückzügen. Im Kosovo war noch vor zwei Generationen das Verhältnis zwischen serbischer und albanischer Bevölkerung relativ ausgewogen. In Sri Lanka haben die unterschiedlichen Entwicklungen zwischen der singhalesischen und der tamilischen Bevölkerung die ethnischen Spannungen verschärft.
7. Das Anwachsen der Bevölkerung wird Megastädte überproportional anwachsen lassen. Damit tauchen neuartige Probleme auf: Die Steuerungsfähigkeit von Gesellschaften nimmt dramatisch ab, die Versorgung elementarer Grundbedürfnisse (Nahrung, Trinkwasser, Abfallbeseitigung, Bildung) wird praktisch unlösbar, ganze Bevölkerungsteile versinken in Elend und halbkriminellen Parallelgruppierungen. In manchen Megastädten der Welt herrscht heute schon eine explosive Mischung aus Chaos, Perspektivlosigkeit, Gewalt-potenzial und revolutionärem Elan.
8. Wollen wir vertiefte Antagonismen vermeiden, wird kein Weg dran vorbeiführen, dass sich die reichen, alternden und energiearmen Länder der Welt, also vor allem Europa, stärker in den armen, jugendlichen und energiereichen Ländern engagieren. Migration ist längst kein nationales und noch viel weniger ein rein innenpolitisches Phänomen. Präventives multinationales Krisenmanagement ist gefordert. Das bedeutet auch, dass reiche Länder ihre Märkte und ihre Technologie dem Arbeitskräftepotenzial und den Investitionsmöglichkeiten in den unterentwickelten Gebieten zur Verfügung stellen. Das könnte bedeuten, dass die Versorgung der alternden Gesellschaften sich immer stärker auf funktionierende internationale Anlageinvestitionen und entsprechende Finanzströme stützt. Das aber setzt voraus, dass diese Märkte funktionieren, dass sie stabilisiert und gegen Störfaktoren wie gezielte Terroranschläge, Auswirkungen von Krieg und Konflikten immunisiert werden. Ist es nicht Zeit, über eine Ausweitung der G-8 nachzudenken? Muss die EU nicht eine noch viel ambitioniertere und offenere Nachbarschaftspolitik entwickeln? Können Stimmrechte bei Weltbank und IMF so bleiben, wie sie bisher waren?
Schlussfolgerungen
Für strategische Zukunftsplanungen sind demographische Daten von grund-legender Bedeutung. Das Auf und Ab von Nationen war immer eng mit Bevölkerungsverschiebungen verbunden. Globalisierung bedeutet, dass wir immer mehr aus den national begrenzten „Völkern“ zu international gemischten und mobilen „Bevölkerungen“ kommen. Die Aufgabe, in diesen Gesellschaften Kohärenz, Normen und Ethik, Solidarität und kollektive, d.h. gemeinsame und verbindende – und damit verbindliche Regeln und Ziele aufzustellen, wird immer komplexer werden. Migration wird sich nicht aufhalten, wohl aber steuern lassen. Langfristiges internationales Engagement sollte verstärkt auf Stärken und Risiken achten, die sich aus demographischen Verschiebungen ergeben. Wir müssen damit rechnen, dass in dem Maße, wie Europas Bevölkerung relativ zur Weltbevölkerung zurückgeht, auch die Fähigkeit Europas zurückgehen wird, in der globalen Ordnung europäisch bestimmte Werte durchzusetzen. Europa wird deshalb stärker auf die USA als einer „Fortsetzung Europas mit anderen Mitteln“ zurückgreifen müssen, denn die Gestaltungsmacht Nordamerikas wird sich eher weiter steigern.
Internationale Politik 12, Dezember 2006, S.24‑32
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