Unterm Radar

01. Sep 2020

Keine Verbesserung in Sicht

Vorerst hat Präsident Maduro den Machtkampf in Venezuela gewonnen. Aber die Lage bleibt katastrophal, sie spiegelt strukturelle Probleme ganz Lateinamerikas.

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Bild: Junge Mädchen in Venezuela
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Für eine kurze Zeit Anfang 2019 stand Venezuela im Brennpunkt des internationalen Interesses. Der politische Machtkampf im einst reichsten Staat Lateinamerikas fand vor den Augen der Welt statt, als der junge Oppositionsführer Juan Guaidó – eben zum Parlamentspräsidenten gewählt – Regierungschef Nicolás Maduro den Kampf ansagte und sich bei einer öffentlichen Veranstaltung zum Interimspräsidenten erklärte. In nur wenigen Minuten erkannten die USA diesen Anspruch an, zahlreiche konservative Regierungen Südamerikas und mit etwas Abstand auch die meisten europäischen Regierungen folgten. Der Machtwechsel schien eine Frage von Tagen.

Anderthalb Jahre später sitzt Regierungschef Maduro nach wie vor im Miraflores-Palast, und die Chancen auf Wandel werden als gering eingeschätzt. Warum sollte uns die Situation in Venezuela interessieren, auch wenn sie nur von den Venezolanerinnen und Venezolanern aufgelöst werden kann? Drei Gründe sind wichtig: Erstens, die Krisen in Venezuela sind bei allen landesspezifischen Entwicklungen auch ein Spiegel der strukturellen Krise der gesamten Region. Zweitens, die humanitäre Lage im Land ist eine menschengemachte Katastrophe. Drittens, Venezuela droht zum destabilisierenden Faktor in einer Region zu werden, die gerne als natürlicher Verbündeter deutscher und europäischer Außenpolitik bezeichnet wird.



Armut trotz Erdölreichtum

Venezuela verfügt über die größten Erdölvorkommen der Welt. Doch dieser Reichtum kam immer nur einem kleinen Teil der Bevölkerung zugute. Diese Ungleichheit führte zu politischen Unruhen: 1989 zogen Bewohner der Armutsviertel von Caracas plündernd und randalierend durch die Straßen. 1992 versuchte ein bis dahin unbekannter Oberstleutnant namens Hugo Chávez, sich an die Macht zu putschen. Er landete für zwei Jahre im Gefängnis, wurde aber landesweit bekannt. 1998 trat er dann bei den Präsidentschaftswahlen an und gewann mit großer Mehrheit (56 Prozent).



Chávez’ Politik spaltete nicht nur das Land, sondern weit darüber hinaus. Seine Politik, den Erdölreichtum zu verteilen, und sein Charisma sicherten ihm in Venezuela breite Mehrheiten und die Unterstützung vieler sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien der Region. Die Verstaatlichung der Erdölindustrie, Veränderungen der demokratischen Spielregeln und die Einschränkung der Pressefreiheit stießen aber auch auf erbitterten Widerstand. Chávez nutzte die Proteste (mit Generalstreik, mit Putschversuch), um seine Macht weiter auszubauen. Kurz bevor er 2013 an Krebs starb, machte er den heutigen Regierungschef zu seinem Nachfolger.



Maduro gewann zwar die noch einigermaßen freien Präsidentschaftswahlen 2013, schränkte die Rechte der Opposition aber zunehmend ein und setzte immer mehr auf Repression durch die Streitkräfte, die Polizei, den Geheimdienst und die Parteimilizen. Als die Opposition 2015 überraschend die Mehrheit im Parlament erhielt, erkannte die Regierung zunächst einigen Abgeordneten das Mandat ab, sodass die Opposition nicht mehr über die Zweidrittelmehrheit verfügte. Zwei Jahre später ließ die Regierung eine mit vielen Kompetenzen ausgestattete Verfassunggebende Versammlung wählen. 2020 besetzte das Regime Führungspositionen in Oppositionsparteien mit loyalen Politikern.



Auch wenn diese Entwicklung sehr spezifisch und in ihrer Zuspitzung extrem ist, weist sie doch viele Elemente anderer Krisen in der Region auf. Lateinamerikanische Präsidenten ändern die politischen Spielregeln zu ihren Gunsten, egal welcher politischen Couleur sie sind. Honduras und Bolivien sind hierfür Beispiele. Überall finanzierte Ressourcenreichtum bis zum Ende des Booms 2014 die eigene Klientel, statt die Grundlage für ein nachhaltiges und inklusives Entwicklungsmodell zu bilden.



In diesem Kontext von Ungleichheit und nicht funktionierendem Rechtsstaat verbreiteten sich Korruption und kriminelle Netzwerke, wobei in Venezuela, wie anderswo auch, der Staat, das Militär und Unternehmer mit von der Partie sind. Die Bodenschätze des sogenannten Arco Minero im Orinoco-Gebiet (Gold, Bauxit, Coltan) gelten als strategische Entwicklungszone, deren Gewinne aber vor allem ausländischen und kriminellen Gruppen zugute kommen. Darüber hinaus spielt Venezuela mittlerweile eine wichtige Rolle beim Drogenhandel, Menschenschmuggel und in weiteren Bereichen der regional vernetzten kriminellen Ökonomie.



Millionen verlassen das Land

Die venezolanische Bevölkerung sah sich schon vor der Covid-19-Pandemie einer humanitären Krise ausgesetzt, die politische Ursachen hat. Im Jahr 2017 haben zwei Drittel der Bevölkerung durchschnittlich elf Kilo Gewicht verloren; der Volksmund nennt das bitter scherzend „Maduro-Diät“. 2019 ist die venezolanische Wirtschaft um ein Viertel geschrumpft. Die Berichte der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, belegen gravierende Verstöße gegen alle Grundrechte. Weite Teile der Bevölkerung haben kaum noch Zugang zu Strom oder sauberem Wasser. Die Kinder- und Müttersterblichkeit ist in den vergangenen Jahren dramatisch gestiegen. Im Zusammenspiel von politischer Blockade, wirtschaftlicher Not und humanitärer Krise haben mittlerweile über fünf Millionen Menschen das Land verlassen.



Die politische Blockade und die staatliche Misswirtschaft erschweren oder verhindern externe humanitäre Hilfe. Sowohl Regierung als auch Opposition funktionalisieren Hilfe an die Bevölkerung. Der Versuch der Opposition, Hilfsgüter gegen den Willen der Regierung ins Land zu bringen, ist im Februar 2019 unter den Augen der Weltöffentlichkeit gescheitert. Die Regierung verwendet die Verteilung von Grundnahrungsmitteln in den Armenvierteln seit Jahren zur sozialen Kontrolle und als Kompensation für politische Unterstützung. Aus ihrer Sicht sind allein die Sanktionen der USA und der EU an der Katastrophe schuld.



Wenngleich es stimmt, dass die US-Sanktionen die Lage verschärft haben, ist der Großteil der Probleme doch hausgemacht. Anfang Juli 2020 gab es einen kleinen Hoffnungsschimmer, als Regierung und Opposition mit der panamerikanischen Gesundheitsorganisation ein Abkommen unterzeichneten, das den Zugang zu Covid-19-Testkits und anderen dringend benötigten Gütern zur Eindämmung der Pandemie erleichtern soll. Die Tinte war kaum trocken, als die Regierung gegen die Oppositionsparteien vorging.



Der Konflikt in und um Venezuela hat auch die regionale Zusammenarbeit in Lateinamerika blockiert. Die Organisation Amerikanischer Staaten hat zwar früh die autoritären Tendenzen in Venezuela erkannt, war und ist aber politisch handlungsunfähig; die 2008 gegründete UNASUR ist an diesem Konflikt zerbrochen.



Von Feinden und Freunden

Zudem ist Venezuela in das Fadenkreuz geopolitischer Konflikte zwischen den USA einerseits sowie Russland, dem Iran und China andererseits geraten; es hat sich die Feinde seines Feindes zu Freunden gemacht. Während sich die Regierung Obama kaum um die internen Probleme Venezuelas gekümmert hatte, ist mit der Trump-Administration der in der Karibik nie wirklich beendete Kalte Krieg zurückgekehrt. Die USA drohten nach der Anerkennung Guaidós, mit „allen verfügbaren Mitteln“ den Regierungswechsel zu beschleunigen. Damit boten sie der Regierung Maduro eine Steilvorlage für ihre nationalistische Anti-US-Rhetorik.

Russland und China lassen sich ihre militärischen Güter und Kredite mit Erdöl bezahlen; im UN-Sicherheitsrat haben sie bisher jede Resolution zu Venezuela verhindert. Die Polarisierung verhindert außerdem, dass Südamerika ein verlässlicher Partner Deutschlands und Europas in multilateralen Foren ist.



Auch wenn die Krise in Venezuela letztlich nur im Land selbst beigelegt werden kann, können die deutsche und europäische Außenpolitik einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie die Zivilgesellschaft im Land bei der Suche nach Auswegen aus der Krise unterstützen. Deutschland und die meisten Länder der EU haben den Führungsanspruch Guaidós anerkannt, weil er als Parlamentspräsident der oberste Repräsentant der einzig demokratisch legitimierten Institution im Land ist.

Dies wird sich mit den für den 6. Dezember angesetzten Wahlen ändern. Diese werden weder frei noch allgemein oder fair sein. Die Regierung hat mit der Besetzung des Wahlrats und der Veränderung des Wahlrechts schon jetzt dafür gesorgt, dass es keine unliebsamen Überraschungen wie 2015 geben wird. In ungewohnter Einigkeit haben 27 Oppositionsparteien beschlossen, sich an der Wahl nicht zu beteiligen. Zivilgesellschaft, Opposition und reformbereite Chávez-Anhänger müssen aber darüber hinaus beim Identifizieren gemeinsamer Interessen unterstützt werden.

 

Prof. Dr. Sabine Kurtenbach arbeitet als Lead Research Fellow am GIGA Institut für Lateinamerika-Studien in Hamburg.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2020; S. 10-12

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