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01. Nov. 2002

Keine KSZE für den Nahen Osten

Neue Verhandlungen erst in einigen Jahren

Der frühere deutsche Außenminister Klaus Kinkel hat unlängst in dieser Zeitschrift angeregt, eine „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten“ ins Leben zu rufen. Der an der Hebräischen Universität Jerusalem lehrende Politikwissenschaftler Shlomo Avineri unterzieht diesen Vorschlag einer kritischen Prüfung.

Der frühere deutsche Außenminister Klaus Kinkel hat unlängst den Gedanken einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten (KSZNO) ins Spiel gebracht (vgl. Klaus Kinkel, Eine KSZE für den Nahen Osten, in: Internationale Politik (IP), 5/2002, S. 35–38), die sich an den positiven Erfahrungen von KSZE bzw. OSZE orientieren sollte.

Es ist eine reizvolle Idee, und Kinkels Plädoyer ist überzeugend und leidenschaftlich formuliert, mit Sympathie für beide Seiten. Wie viele andere europäische Schritte in jüngster Zeit, nicht zuletzt die unermüdlichen Anstrengungen des EU-Chefdiplomaten Javier Solana, ist sie durchdrungen von einem Gefühl brennender Sorge angesichts der sich ständig verschlechternden Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern.

Doch wenn Kinkel schreibt: „Fast tragisch ist, dass alle Beteiligten eigentlich wissen, was zu tun ist, und was wohl am Ende sein wird“, so ist dies zweifellos richtig im Sinne von etwas Erwünschtem – als Wegweiser bleibt es indes weit hinter seinen Erwartungen zurück.

Denn die gegenwärtige Krise in den israelisch-palästinensischen Beziehungen hat ihren Ursprung im Scheitern der Verhandlungen in Camp David im Juni 2000 und dann in Taba im Januar 2001. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es den Anschein, als ob nach den in Oslo erzielten Vereinbarungen der israelisch-palästinensische Konflikt kurz vor der Hinwendung zu einem historischen Kompromiss stünde und dass, um Kinkels bedeutungsschwere Formulierung zu benutzen, beide Seiten „eigentlich wissen, was zu tun ist“.

In Camp David und Taba hatte sich all dies geändert, wie ich in einem früheren Beitrag (vgl. Shlomo Avineri, Ein Kompromiss liegt in weiter Ferne. Israel unter Sharon nach Camp David, in:IP, 8/2001, S. 7–13) versucht habe darzulegen. Yasser Arafats Weigerung, die Clinton-Barak-Vorschläge zu akzeptieren und sein Beharren auf dem Recht auf Rückkehr nach Israel für die Flüchtlinge von 1948 hat die meisten Israelis, die Linke eingeschlossen, davon überzeugt, dass die palästinensische Führung nicht nur bemüht ist, die Ergebnisse des Krieges von 1967 ungeschehen zu machen, sondern dass ihre eigentliche Absicht darin besteht, die Folgen des Jahres 1948 rückgängig zu machen – das heißt nichts anderes als die Existenz Israels als jüdischer Staat.

Seitdem haben die meisten Israelis nicht das Gefühl, dass sie auf palästinensischer Seite einen Partner haben. Viele mögen außerordentlich unglücklich sein mit einigen der harscheren Aspekte der Politik der gegenwärtigen Regierung von Ministerpräsident Ariel Sharon und Außenminister Shimon Peres. Doch sie kämen in größte Verlegenheit, wenn man sie nach einer Alternative fragte. Wenn Selbstmörderbomben zum legitimen Mittel einer Clausewitzschen Strategie der Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mitteln werden und wenn alle Einrichtungen der Palästinensischen Autonomiebehörde, von ihrem Sicherheitsdienst bis zu ihren Schulen, mit Terrorismus infiziert sind, dann kommt selbst die amerikanische Regierung zu der Überzeugung, dass sich auf palästinensischer Seite ein grundlegender Wandel vollziehen muss, bevor sinnvolle Verhandlungen wieder aufgenommen werden können.

Wahrscheinlich in bester Absicht wäre eine internationale Friedensstreitmacht, wie Kinkel sie vorschlägt, ein ziemlich hoffnungsloses Unternehmen: Wäre eine solche Streitmacht in der Lage, Selbstmordattentäter daran zu hindern, von den palästinensischen Gebieten nach Israel hinüberzuwechseln? Wie kann man erwarten, dass internationale Friedensstreitkräfte, die in erster Linie – und vollkommen zu Recht – um ihre eigene Sicherheit besorgt sind, ihr Leben einsetzen gegen eine so schattenhafte Bedrohung, wie sie Selbstmordattentäter darstellen? Seit Srebrenica sollte man Bescheid wissen über die begrenzten Möglichkeiten einer solchen Streitmacht in Fällen, wo zumindest eine Seite keine Bedenken hat, absichtlich Zivilisten anzugreifen – und darin sogar ihre Hauptwaffe sieht.

Nach dem gescheiterten Friedensprozess

Das Problem besteht gegenwärtig nicht darin, einen bereits existierenden Friedensprozess erneut zu beleben – sondern darin, wie man mit einer völlig neuen Situation fertig werden kann: Was ist zu tun, wenn ein Friedensprozess gescheitert ist, wenn seine Voraussetzungen sich als trügerisch erwiesen haben und wenn demzufolge vollständig neue Realitäten entstanden sind? Und was ist zu tun, wenn sich unter den politischen Opfern des gescheiterten Friedensprozesses diejenigen befinden, die ihn angeführt haben, auf israelischer Seite zumindest Staatsmänner wie Shimon Peres und die gesamte von der Arbeitspartei gestützte Politik?

Ein gescheiterter Friedensprozess verlangt nicht nur neue Strategien, sondern einen Paradigmenwechsel. Wenn vor Camp David und Taba die Aufgabe darin bestand, die richtigen Strategien zu finden, um das umzusetzen, von dem (um Kinkels Formulierung nochmals zu benutzen) „alle Beteiligten wissen, dass es getan werden muss“, stellt nunmehr die Rückkehr zu den politisch diskreditierten Parametern von Oslo ein vergebliches Unterfangen dar – denn man steigt, wie schon Heraklit wusste, nicht zwei Mal in den selben Fluss.

Theoretisch bedeutet dies den Schritt von der Konfliktlösung hin zum Konfliktmanagement. Im vergangenen Jahrzehnt hat die internationale Gemeinschaft vor allem in Jugoslawien, aber ebenso auch in anderen Regionen gelernt, dass Situationen vorkommen können, für die es keine Lösungen gibt, zu der die Alternative jedoch nicht zwangsläufig Krieg bedeuten muss. Eindämmung, Stabilisierung und Perioden der Abkühlung sind Strategien, die trotz ihrer Beschränkungen relativ gut funktioniert haben, in Bosnien, in Kosovo, auch in Mazedonien. Auf Zypern hat eine solche Stabilisierung dazu beigetragen, seit 1974 Feindseligkeiten zu verhindern – und dies ohne eine „Lösung“ des Zypern-Problems. Paradoxerweise könnte der Versuch, das Zypern-Problem im Hinblick auf Zyperns EU-Beitritt zu „lösen“, den Konflikt vertiefen und ihn sogar ausweiten und damit die (unvollkommene) Stabilität unterminieren, die durch die unbefriedigende De-facto-Teilung der Insel erreicht worden ist.

Vergleich mit Helsinki hinkt

Gute Absichten allein sind nicht ausreichend. Dies bringt mich zu Kinkels Vorschlag zur Schaffung einer OSZE für den Nahen Osten. Als reifer und erfahrener europäischer Staatsmann weiß der frühere Außenminister sehr wohl um einige der wichtigsten Unterschiede zwischen der europäischen Situation, die in den siebziger Jahren in Helsinki vorherrschte, und dem gegenwärtigen Klima im Nahen Osten. Er trifft den Punkt, wenn er schreibt, dass die Schaffung des OSZE-Regimes durch „ein überwältigendes Interesse beider Seiten an einem Erhalt des Status quo gekennzeichnet gewesen sei, während es im Nahen Osten den Konfliktparteien gerade um eine Änderung der Ausgangslage gehe“. Das mag ein wenig zu vereinfacht sein, es ist aber grundsätzlich richtig und benennt einen der Hauptunterschiede zwischen den beiden geopolitischen und strategischen Situationen.

Es gibt in diesem Zusammenhang aber noch einen anderen und tiefer greifenden Unterschied: Helsinki fand 30 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs statt. Über einen Zeitraum von 30 Jahren hinweg war entlang des Eisernen Vorhangs bewusst kein Schuss abgefeuert worden; einige der bitteren Zerwürfnisse des Zweiten Weltkriegs waren überwunden worden, etwa in den deutsch-französischen Beziehungen. In Europa blieb der Kalte Krieg, wie sein Name besagte – ein kalter Krieg, kein Schießkrieg. Hätte man sich 1946 eine OSZE vorstellen können, oder vielleicht 1956 oder 1968, nach dem sowjetischen Einmarsch in Ungarn bzw. der Tschechoslowakei?

Im Nahen Osten schießen die Menschen immer noch aufeinander, und Kinkel ist sich dessen bewusst, wenn er darauf hinweist, dass der Gedanke einer KSZNO möglicherweise eher Ausdruck einer langfristigen Vision sei als von unmittelbarer Bedeutung. Was wir brauchen, sind viel mehr konkrete, vertrauensbildende Mechanismen. Der Versuch, diese zu schaffen, ist bisher gescheitert, trotz des amerikanischen Druckes auf die Palästinenser – und, in geringerem Maße, auch auf Israel. Wie aber soll man vertrauensbildende Mechanismen schaffen, wenn man sich auf der anderen Seite einem Führer gegenüber sieht, der angesichts von Selbstmordattentätern, die in Jerusalem oder Tel Aviv unschuldige Zivilisten töten, erklärt, dass auch er gern ein „Märtyrer“ wäre?

Neue Verhandlungen in einigen Jahren

Amerikanische Versuche einer überhasteten Regelung (Demokratisierung bei den Palästinensern innerhalb nur weniger Monate – bis Januar 2003) erscheinen ebenso utopisch wie andere Hirngespinste, wie sie beispielsweise dem ehemaligen amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson vorschwebten. Doch eine langsame Entwicklung auf palästinensischer Seite hin zu einer verantwortungsvolleren politischen Struktur, frei von Terrorismus, ist eine Conditio sine qua non für eine gewisse Stabilisierung. Die zögernd getroffene  israelische Entscheidung, eine wirkliche Grenze zwischen Israel und dem Westjordanland zu ziehen, ist der erste Schritt in Richtung auf einen einseitigen israelischen Rückzug aus den besetzten Gebieten, der auch die Auflösung einer bedeutenden Zahl von Siedlungen beinhaltet.

Notwendig sind Stabilisierung und Eindämmung von Gewalt – „Nichtlösungen“, praktisch, pragmatisch und in ihrem Ausmaß begrenzt. Danach, vielleicht schon nach Ablauf von wenigen Jahren, könnten Verhandlungen in einem anderen und weniger von Bitternis geprägten  Klima aufgenommen werden. Dann, und nur dann, wird eine KSZNO ein mögliches Mittel für weitere Stabilisierung sein.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11, November 2002, S. 57 - 60.

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