Neuer Bedarf an außenpolitischem Konsens
Der Kalte Krieg ist zu Ende und die außenpolitischen Ziele müssen neu gefaßt werden. Der internationale
demokratische Konsens des Westens vor dem Fall der Sowjetunion weicht neuen
Strukturen kollektiver Sicherheit. Postimperiale Konflikte wie der ethnisch bedingte Krieg in
Bosnien bedürfen dringend eines strategischen Lösungskonzepts. Eine Basis für humanitäre –
wenn nötig gewaltsame – Interventionen im Namen demokratischer Werte muß jetzt gefunden
werden.
Eine der größten Zwangslagen demokratischer Staaten bei der Formulierung einer glaubwürdigen Außenpolitik in der Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges ergibt sich, so paradox das auch klingen mag, nicht im außenpolitischen Bereich, sondern ist tief in der Innenpolitik verwurzelt. Sie zeigt sich in der Schwierigkeit und dem Zögern der Regierenden in demokratischen Staaten, die Unterstützung der Öffentlichkeit für einen etwaigen Einsatz der Streitkräfte zu mobilisieren, wenn die Wählerschaft sich nicht direkt bedroht fühlt.
Nicht, daß die öffentliche Meinung im Westen nicht entsetzt und schokkiert wäre von den nahezu täglichen Bildern einer beinahe schutzlosen europäischen Stadt, die von serbischen Aggressoren brutal belagert und zerbombt wird. Die Schande von Sarajewo liegt darin, daß die westlichen Politiker und Regierungen sich so schwer tun, ihre Wähler zu überzeugen, daß es moralische und strategische Gründe gibt, Leben für etwas zu riskieren, das „in einem fernen Land geschieht, von dem wir kaum etwas wissen“. Sterben für Sarajewo? Immanuel Kants Ausspruch in „Zum Ewigen Frieden“, republikanische Regierungen führten nur selten Krieg, weil sie die Zustimmung der Regierten benötigten, und die werde nur zögernd gewährt, hat auch eine Schattenseite – die mangelnde Bereitschaft, die eigenen Soldaten einzusetzen, wenn man nicht direkt bedroht oder angegriffen wird, und dann danebenzustehen und nichts zu tun, wenn es „nur“ andere sind, die unter brutaler Aggression leiden.
Dies ist ein Problem, das allmählich auch von den Experten für Außenpolitik angesprochen wird. In jüngster Zeit diskutierten vor allem Wissenschaftler in den Vereinigten Staaten über einige triftige Formulierungen verschiedener Aspekte dieses Dilemmas.1 Ein Großteil der Debatte konzentriert sich jedoch auf die zentrale Notwendigkeit, neue außenpolitische Ziele für die Ära nach dem Kalten Krieg zu artikulieren,2 und sowohl effektive als auch auf einem neuen Konzept der internationalen Weltordnung basierende Strukturen kollektiver Sicherheit zu schaffen. Sehr viel weniger Aufmerksamkeit wird der Notwendigkeit gewidmet, in der Innenpolitik eine institutionelle und motivierende Infrastruktur zu schaffen, damit solche politischen Ziele auch tatsächlich in die Praxis umgesetzt werden können und nicht nur Wunschdenken bleiben oder vielleicht unter jener Art UN-Bürokratie begraben werden, die die Probleme bestehen und die strategischen und moralischen Fragen verschwimmen läßt. Im Falle der Aufhebung des Waffenembargos gegen Bosnien überlagern die mutmaßlichen Risiken für die sogenannten Friedenserhalter der UNPROFOR im ehemaligen Jugoslawien völlig die Leiden der muslimischen Bevölkerung, um die es doch letztlich ging.
Konsens über die Rechtfertigung von Gewalt
Wie anders war es doch in den guten alten schlechten Zeiten des Kalten Krieges! Neben dem hohen Maß an militärischer Bereitschaft und den damit verbundenen hohen Haushaltsausgaben war die wichtigste Errungenschaft des demokratischen Westens in dieser Ära die Unterstützung der NATO-Strukturen und verwandter Bereiche durch ein breites Netzwerk nationalen Konsenses und innenpolitischer Legitimität. Die Sprache und der institutionelle Rahmen mögen in den USA und Westeuropa unterschiedlich gewesen sein, und sicherlich wichen französische und deutsche Äußerungen zu diesem Konsens manchmal stark voneinander ab. Seine Basis war eine Kombination aus strategischem Denken und politischem Konsens, der die Androhung und eventuelle Anwendung von Gewalt aus strategischen wie auch moralischen Gründen rechtfertigte. Die Verteidigung des demokratischen Westens, seiner Institutionen und seines Lebensstils wurde nicht nur als strategisches Ziel begriffen, sondern als weitverbreitete Überzeugung von einer moralischen Verpflichtung auf eine Reihe von Werten, die man durch die Sowjetunion und deren Verbündete bedroht sah: Selbst wenn man nicht mit dem rhetorischen Gebrauch von Ausdrücken wie „das Reich des Bösen“ übereinstimmte, waren Politiker und Wähler weitgehend darüber einig, daß Werte und Ideen – und nicht nur strategische Interessen – auf dem Spiel standen. Die normativen und strategischen Interessen wurden daher zusammengefaßt, wenn nicht gar verschmolzen. Die Berliner Luftbrücke oder die Kuba-Krise sind nur zwei Beispiele, in denen der Westen bereit war, bis an den Abgrund zu gehen, und bei denen die westlichen Politiker erfolgreich die öffentliche Meinung für etwas einsetzten, was nicht nur eine bloße Instrumentalisierung demokratischer Werte darstellte, sondern ein weitverbreiteter Glaube war, daß diese verteidigt werden sollten, wenn nötig mit Gewalt. Der Korea-Krieg war ein weiteres Beispiel.
Eine solche Politik hatte natürlich ihre Grenzen und führte bei unverantwortlicher Anwendung zu katastrophalen Fehlern. Vietnam ist der tragischste Fall, wo die USA sich benahmen, als müsse eine schwerwiegende globale Bedrohung vom Westen abgewendet werden, die kaum existierte. Sie verloren in der Folge die Unterstützung vieler westlicher Verbündeter und am Ende auch die innere Berechtigung und Legitimation für den Krieg. Auf einer anderen Ebene erforderte diese westliche Strategie auch Zusammenarbeit mit übelbeleumdeten tyrannischen Regimen – vom Schah bis Pinochet – mit zuweilen schwerwiegenden Folgen für das Ansehen westlicher Ideen. Im Falle Irans führte dies zur Entstehung einer besonders aggressiven Form des islamischen Fundamentalismus. Dies war die Reaktion auf eine amerikanische Politik, die sich mit einem Regime verbündete, dessen Staatsführung vielfach die örtlichen Traditionen und Empfindungen nicht respektierte. In anderen Fällen provozierte die amerikanische Politik eine, gemessen an den lokalen Entwicklungen, völlig unnötige Überreaktion. So verwandelte etwa die Politik der Regierung Ronald Reagan gegenüber den Sandinisten diese in eine erhebliche Bedrohung der gesamten westlichen Hemisphäre. Dies war sie offensichtlich nicht, auch wenn diese Politik von der Reagan-Regierung erfolgreich für innenpolitische Ziele genutzt wurde.
Trotz ihrer Fehler und Auswüchse – den genannten Beispielen könnten noch weitere hinzugefügt werden – schuf diese Politik jedoch im großen und ganzen jahrzehntelang jene Art von demokratischem Konsens, der weder vor Ausgaben zurückscheute, noch vor dem äußersten Risiko und der Konfrontation, die – mit gewissen feinen Unterschieden – als Politik der Eindämmung und Abschreckung bezeichnet werden könnte. Während der Jahre des Kalten Krieges konnte diese Politik trotz des sogenannten Vietnam-Traumas jene Art internationaler Zusammenarbeit hervorbringen, die das von der Sowjetunion unterstützte Regime in Afghanistan zu Fall brachte und – indirekt – auch zum Fall der Sowjetunion selbst beitrug. Das geschah zugegebenermaßen auf Kosten der Errichtung eines zweiten islamisch-fundamentalistischen Regimes nach Iran. Außerdem wurden auf Kosten des amerikanischen Steuerzahlers viele Guerillas und Terroristen ausgebildet, die heute damit beschäftigt sind, westlich orientierte Regime in Ländern wie Ägypten und Algerien zu unterminieren. Dies sind die unergründlichen Wege der List der Vernunft.
Neue Antworten nach dem Ende des Kalten Krieges
Das Ende des Kalten Krieges beendete diesen internationalen demokratischen Konsens des Westens. Das zersplitterte Erscheinungsbild der postsowjetischen Zeit ließ jedoch andere Spannungen aufkommen, einige davon waren die dialektische Folge des Endes der Pax Sovietica in Mittel- und Osteuropa, Zentralasien und dem Kaukasus. Hier entsteht ein neues Problem. Es ist nicht so, daß der Westen keine Antworten hätte, er hat: Im Falle Bosniens würde eine glaubwürdige, massive Androhung von Luftangriffen gegen die Serben Radovan Karadzic dazu bringen, sich so vernünftig zu verhalten wie Nikita Chruschtschow in Kuba. Auch die umgehende amerikanische Antwort auf den Versuch Saddam Husseins, Truppen an der kuwaitischen Grenze zusammenzuziehen, hat erneut gezeigt: Wo eine bewußt wahrgenommene Bedrohung westlicher Interessen besteht, auch wenn sie von einem regionalen Aggressor ausgeht, da besteht auch die öffentliche Bereitschaft, Gewalt anzuwenden oder anzudrohen. Das gleiche gilt für Haiti. Dort war trotz aller Schwankungen in der Politik des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton am Ende klar, daß das Problem möglicher haitianischer Bootsflüchtlinge einen – wenn auch zögerlichen – Konsens schuf, daß es nötig sein könnte, Gewalt anzuwenden, um Raoul Cédras zu stürzen. Die bosnischen Muslime haben jedoch leider kein Öl und drohen auch nicht, die Küsten von Florida zu überschwemmen. Clinton scheint seit den Tagen seines Wahlkampfs zu wissen, was zu tun wäre – nämlich das Waffenembargo gegen Bosnien aufzuheben und härter mit den Serben umzugehen. Ihm fehlt jedoch der demokratische Konsens für eine solche Politik.
Einerseits hat das Ende der Polarisierung der Supermächte dazu beigetragen, die Voraussetzungen für die Lösung zumindest zweier größerer Konflikte zu schaffen, in denen nationale Auseinandersetzungen oder Rassenpolitik im Mittelpunkt standen. Durch das Ende der Sowjetunion verloren im Mittleren Osten radikale arabische Staaten und Bewegungen, wie Syrien und die PLO, ihren strategischen Schutz und mußten auf politische Mittel ausweichen. Zugleich fühlte sich Israel aus demselben Grund zunehmend weniger bedroht und sicherer in dem Bewußtsein, daß es höchstens regionalen Bedrohungen begegnen muß, die nicht mehr von einer Weltmacht unterstützt werden. Der von der Hamas beeinflußte islamische Terrorismus ist eine große persönliche Gefahr für jeden Israeli und behindert den Friedensprozeß sehr, aber er ist keine strategische oder existentielle Bedrohung für Israel.
In ähnlicher Weise verlor der Afrikanische Nationalkongreß (ANC) in Südafrika seinen mächtigen Verbündeten Sowjetunion, und das weiße Apartheid-Regime erkannte, daß sein Problem letztlich innenpolitischer Art war. Es ging um eine Einigung mit der schwarzen Mehrheit im eigenen Land und nicht darum, eine kommunistisch-radikale schwarze Flut von globalen Ausmaßen zurückzudrängen. Bezeichnenderweise spielten die USA als die einzige verbleibende Supermacht keine direkte Rolle in den Verhandlungen um die Verträge und Übergangsvereinbarungen, trotz dreier besonders fotogener Zeremonien im Zusammenhang mit dem Mittleren Osten, die so farbenprächtig übertragen wurden – zwei vom Rasen vor dem Weißen Haus und eine aus Wadi Arava an der israelisch-jordanischen Grenze. Es waren jedoch die Führer vor Ort, Yitzhak Rabin, Shimon Peres, Yasser Arafat, König Hussein, Nelson Mandela, Frederik Willem de Klerk, die erkannten, wie sehr die Situation sich verändert hatte und ihre Wählerschaft dazu bringen konnten, ihnen zu folgen. Selbst wenn dies in keinem Fall ohne innere Kämpfe und Meinungsverschiedenheiten abging, früher oder später wird sich das gleiche auch im Fall Israel-Syrien ergeben, obwohl die Rolle der USA hier aus kosmetischen Gründen größer sein könnte, da Präsident Hafez al-Assad sein Gesicht wahren muß.
Postimperiale Konflikte
Diese Konflikte waren nie eindeutig Konflikte des Kalten Krieges, obwohl Untertöne und Verzweigungen sie mit dem Kalten Krieg verbanden. Mit nur wenig substantieller Hilfe seitens der internationalen Gemeinschaft stehen sie kurz vor der Lösung, auch wenn das nicht immer elegant und leicht sein wird. Die internationale Gemeinschaft hat es jedoch versäumt, jene Konflikte zu lösen, die in ihrer heutigen Form durch das Ende des Kalten Krieges verursacht wurden, und die neue Formen des Krieges und Beinahe-Völkermorde provozieren, weil sie ethnische Grenzen ziehen wollen und sich deswegen ausdrücklich gegen die Zivilbevölkerung richten. Es sind diese postimperialen Konflikte, in denen Nationen und ethnische Gruppen, die unter der Pax Sovietica zusammengefaßt und von ihr unterdrückt worden waren, jetzt versuchen, ihre Identität zu definieren und historische Fehden und Konflikte wiederzubeleben, die sich anscheinend westlichen Lösungsversuchen entziehen.
Es besteht ein internationaler Konsens darüber, daß in einigen der extremeren Fälle – Bosnien (und in anderer Weise auch Somalia und Ruanda) – „etwas“ getan werden muß. Im Zeitalter des Fernsehens rührt dieses Gefühl bei breiten Bevölkerungsschichten von einem Schock über die Gewalt darstellenden Bilder her, im Falle Bosniens hauptsächlich Aggression von Serben aber auch Kroaten gegen Muslime: ethnische Säuberungen, Vergewaltigungen, die Zerbombung und Belagerung von Städten wie Sarajewo, Dubrovnik und Bihac, Hungersnot, Flüchtlinge, Beinahe-Völkermord. Diese Erschütterungen schaffen einen humanitären Konsens – aber humanitäre Hilfe als solche bringt immer nur Linderung, sie behandelt nicht die dortigen politischen Probleme. Das war der konzeptionelle Fehler bei der amerikanischen Intervention in Somalia, als Präsident George Bush bei seiner Entscheidung, die Operation „Restore Hope“ ins Leben zu rufen, die politischen Faktoren außer acht ließ. Man könnte allerdings auch behaupten, Bush habe in den letzten Wochen seiner Präsidentschaft, gedemütigt durch seine Niederlage gegen Clinton, kein Interesse daran gehabt, strategisch zu denken: Er wollte nur eine gute Figur machen in Mogadischu, wenn schon nicht in Sarajewo, wo sein eigenes Militär jegliche wirksame Intervention abblockte.
In anderen Fällen führt die humanitäre Hilfe dazu, daß die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen zu Geiseln in den Händen zynischer Aggressoren werden – genau das geschah in Bosnien. Der Westen hatte kein strategisches Konzept für Bosnien, und sein Verhalten war von kurzfristigen Reaktionen der Politiker geprägt, die wiederum auf menschliche Reaktionen auf den im Fernsehen gezeigten Terror reagierten. Sie entschieden sich für zivile Hilfsaktionen mit geringem Risiko, zu keinem Zeitpunkt verfügten sie über ausreichende Rückendeckung der Öffentlichkeit, um das Leben westlicher Soldaten aufs Spiel zu setzen. Der Wunsch „bloß“ zu helfen, machte aus den Muslimen Opfer. Dies sind die Gründe, weshalb der gegenwärtige Morast, in dem sogar eine taktische Kehrtwendung von Präsident Slobodan Milosevic als großer Schritt in Richtung Frieden erscheint (weil sie den Druck zu sofortigem Handeln vom Westen nimmt), so hoffnungslos und trübe aussieht.
Das Dilemma, in dem sich die westlichen Regierungen befinden, ist grausame Wirklichkeit, aber das war auch das Problem Neville Chamberlains in München. Demokratien scheuen vor der Anwendung von Gewalt zurück – wie es sich gehört. Aber in Fällen wirklicher und akuter Gefahr für ihre eigenen Gesellschaften können Demokratien die wirtschaftlichen und politischen Ressourcen ebenso aufbringen wie die politische Legitimität, die sie am Ende zu gewaltigen Kriegsmaschinen werden läßt, die ihren tyrannischen Gegnern weit überlegen sind. Winston Churchill, Franklin D. Roosevelt und David Ben Gurion haben das alles unter verschiedenen Umständen bewiesen, ebenso wie Harry Truman, Konrad Adenauer und John F. Kennedy im Kalten Krieg. Wenn aber keine solche unmittelbare Bedrohung von außen existiert, wenn die strategische Gefahr, obgleich vorhanden, dennoch weit entfernt scheint, und das Problem darin liegt, den Schwachen dieser Welt aus moralischen Erwägungen und nicht aus reiner Staatsräson zu helfen – wie können dann Demokratien die Anwendung oder Androhung von Gewalt rechtfertigen, so begrenzt sie auch sein mag?
Die Vereinten Nationen haben es mit ihrer Struktur und ihrer sich selbst erhaltenden Bürokratie versäumt, diese Probleme anzugehen. Die NATO kann nicht über die Innenpolitik ihrer Mitgliedstaaten hinausgehen, wenn es sich um solche Fragen handelt. Die Europäische Union hat gezeigt, daß sie weit davon entfernt ist, eine eigene Außenpolitik zu entwikkeln. Belege dafür sind die Anerkennung Kroatiens und Sloweniens durch Deutschland und die Blockadetaktik der Griechen im Hinblick auf Mazedonien. Trotz ihres attraktiven Konzepts ist die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) eine wenig effektive Organisation, und genau aus diesem Grund würde die russische Außenpolitik sie gerne zu einem Mittel der Konfliktlösung machen – auch für die erneute Geltendmachung der eigenen Rolle in jenen Bereichen, die Rußland sein „nahes Ausland“ nennt.
Das Problem liegt jedoch nicht in der internationalen Struktur, es handelt sich um ein Problem der inneren demokratischen Führung: Auch wenn es vereinfachend und oberflächlich wäre, einfache Lösungen anzubieten, kann man doch die Koordinaten der gewünschten Strategie benennen. Vor 50 Jahren waren die Führer des demokratischen Westens in der Lage, eine Politik der Konfliktvermeidung zu formulieren, die auf einer massiven Gewaltandrohung beruhte. Im Zuge der Entwicklung dieser Politik wurden alte Feinde wie Deutschland und Frankreich zu engen Verbündeten. Die alliierte Besatzungsmacht in Westdeutschland wurde zum effektiven Beschützer einer deutschen Nation, die sich langsam von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit erholte. Die widerstrebenden USA wurden zum ersten Mal in ihrer Geschichte in eine dauerhafte Führungsrolle in der Weltpolitik gedrängt. Darüber hinaus akzeptierten die Wähler für Friedenszeiten beispiellos hohe Ausgaben als gerechtfertigt und nützlich. Nichts von alledem war einfach, und alles hätte schiefgehen können. Außerdem war alles neu und wurde Stück für Stück aufgebaut, in kleinen Schritten und anfangs ohne übergreifendes Konzept; der ideologische Überbau folgte erst später.
Heute sind sehr viel begrenztere Bemühungen notwendig, und das Ausmaß der Gewalt, die erforderlich sein könnte, ist nur ein Bruchteil dessen, was während des Kalten Krieges zur Diskussion stand. Eine nukleare Bedrohung ist derzeit ebenfalls nicht verbunden mit den politischen Maßnahmen, die angegangen werden müßten. Die Politiker müssen dagegen einen Konsens hinsichtlich der Legitimierung einer begrenzten Anwendung von Gewalt im Namen demokratischer Werte finden, damit schutzlose Minderheiten nicht zu Opfern werden, damit kleine und verwundbare, von der internationalen Gemeinschaft anerkannte Staaten wie Bosnien und vielleicht auch Mazedonien nicht zerstückelt werden, damit umstrittene Grenzen nicht mit Hilfe militärischer Aggression oder ethnischer Säuberung „korrigiert“ werden, damit die Vergewaltigung von Frauen nicht zum Teil politischer Strategien wird, damit Städte nicht von Armeen zerbombt werden, die durch ihre überlegene militärische Ausrüstung geschützt sind. Dies sind heute die Aufgaben von Regierenden in demokratischen Gesellschaften, und damit sind Risiken und Gefahren für ihre nächsten Wahlen verbunden.
Führungspersönlichkeiten fehlen
Das Risiko umfaßt auch einen möglichen Verlust an Menschenleben bei denjenigen, die „humanitäre Interventionen“ durchführen, aber dieser ist gering verglichen mit den Risiken des Kalten Krieges. Die Hilflosigkeit des Westens angesichts der Tragödie von Sarajewo und jetzt auch Bihac ist eine Aufforderung zu schlimmerer und weiterreichender Aggression. (Es ist vorstellbar, daß die mißglückte Unternehmung Saddam Husseins im Herbst 1994 von einer Perzeption der Schwäche und Verwirrung des Westens in Bosnien geleitet war.)
Die Aufgabe demokratischer Regierungen im Westen ist es in den nächsten Jahren, einen solchen demokratischen innenpolitischen Konsens hinsichtlich humanitärer Interventionen herbeizuführen, wenn nötig unter Einsatz von Gewalt. Es sind gewöhnlich die schweren Krisen, die große politische Führungspersönlichkeiten hervorbringen. Die gegenwärtige internationale Situation ist glücklicherweise generell weniger gefährlich als in der Vergangenheit, daher fehlen diese Persönlichkeiten. Aber auch in einer weniger gefährlichen Welt könnten Politiker der Lage gewachsen sein, und der Westen, der den Krieg gegen den Nationalsozialismus gewonnen hat und aus dem Kalten Krieg erfolgreich hervorgegangen ist, könnte noch das Auftauchen einer Persönlichkeit erleben, die – vielleicht wie Kennedy damals in Berlin – den Mut und den politischen Willen hat, zu sagen „auch ich bin eine bosnische muslimische Frau“ – und entsprechend handelt. Eine solche Zivilcourage und Politik könnte sogar einen politischen Ertrag zeitigen.
Anmerkungen
1 Vgl. beispielsweise Gareth Evans, Cooperative Security and Intra-State Conflict, in: Foreign Policy, Herbst 1994, S. 1-20; Richard Haas, Military Force: A User’s Guide, ebenda, S. 21-37; David C. Hendrickson, The Recovery of Internationalism, in: Foreign Affairs, September/Oktober 1994, S. 26-42.
2 Eine sehr dichte Argumentation bei Ashton B. Carter, William Perry und John Steinbruner, A New Concept of Cooperative Security, Brookings Occasional Paper, Washington D.C. 1992.