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01. Apr. 2005

Kartographie des Religiösen.

Buchkritik

Drei Bücher, ein Dom-Besuch und die Wiederkehr des Heiligen. Pippa Norris und Ronald Inglehart analysieren Religion und Politik im globalen Vergleich. Friedrich Wilhelm Graf betrachtet die Wiederkehr der Götter aus Binnenperspektiven. Und Mary Anne Perkins erzählt identi­tätsbildend von Europa als Christenheit.

Still ist es im Dom. Und weit. Und meistens düster, als hingen immer noch ein paar Weihrauchschwaden in den Gewölben. Doch etwas lichte Wärme bleibt, vom roten Mainsandstein draußen. Mitgenommen zwischen die Säulen aus grauem Muschelkalk, durch das kleine Portal neben den großen Bronzetüren des Erzbischofs Willigis. Die hatte der mächtige Kanzler der Ottonen sich in Aachen bei Karl dem Großen abgeschaut. Aber das ist eine andere Ge-schichte, ein kleines Zwischenkapitel aus dem verschlungenen Narrativ europäischer Identitäten, von dem man – davon wird noch zu sprechen sein – bei der Religionsphilosophin Mary Anne Perkins so viel lernen kann.

Neulich sah es kalt aus im Dom. Beim „Damenprogramm“ des Präsidentenbesuchs in Mainz war das Hauptschiff grell ausgeleuchtet, als Laura Bush und Doris Schröder-Köpf mit Kardinal und Domdekan der Orgel lauschten. Rheinberger, Bach und die amerikanische National-hymne – deutsche Romantik, barocke Weltmusik, amerikanische Nationalsymbolik. Drei schwarze Mäntel und eine weiße Albe in einer großen, menschenleeren Kathedrale.

Worüber wohl zuvor gesprochen wurde, beim minutenlangen Begutachten historischer Dommodelle, das die ausgesperrte Öffentlichkeit über Phoenix live miterleben konnte? Vielleicht von Bischof Willigis, dem geschickten geistlichen Machtpolitiker, der Heiliges und Profanes, die Spannungsbögen geistlicher und weltlicher Macht, in der Doppelchoranlage seines Kaiserdoms zum steinernen Manifest werden ließ? Das aber passt vielleicht nicht ins Protokoll, wenn ein nüchterner Repräsentant des deutschen Katholizismus, eine leidenschaftliche amerikanische Methodistin und eine bislang nicht durch religiösen Bekenntniseifer aufgefallene Kanzlergattin nachmittägliche Konversation betreiben.

Im Gutenberg-Museum wünschte Laura Bush in der berühmten Bibel den 91. Psalm zu sehen. In Johannes Gensfleischs gleichmäßigen Lettern beginnt der erste Satz nach einem weit ausgezogenen Initial: „Qui habitat in adiutorio Altissimi ...“ Frau Bush wird für ihren Lieblingspsalm keinen Übersetzer gebraucht haben, und ihre weltlichen deutschen Gastgeber konnten in allen Medien vom festen Vertrauen dessen lesen, der im Schutz des Höchsten seine Zuflucht nimmt.

Beim Weiterlesen in der Gutenberg-Bibel hätte man ein paar Verse später eine Passage entdeckt, die manchem das manichäische Weltbild der Wa-shingtoner Regierenden nur einmal mehr bestätigt hätte: „Fallen auch tausend zu deiner Seite, dir zur Rechten zehnmal tausend, so wird es doch dich nicht treffen. Ja, du wirst es sehen mit eigenen Augen, wirst zuschauen, wie den Frevlern vergolten wird.“ Das ist auch für manchen europäischen Gläubigen schon nahe an jenen „Fluchpsalmen“, deren allzumenschlichen Zumutungen sich in unseren Breiten als Beter gemeinhin nur noch Mönche und Nonnen kontemplativer Klöster aussetzen, fest eingebunden ins Netz biblischer Intertextualität. Ob Laura Bush ihren Gastgebern erzählt hat, dass Psalm 91 bei vielen ihrer evangelikalen Landsleute auch als „The Soldier’s Prayer“ bekannt ist, Gegenstand ungezählter Soldatenlegenden vom Ersten Weltkrieg bis zum Irak-Krieg?

Manchmal ist sie uns fremd, die Religion. Aber sie ist zurück. Die Verdunstung des Heiligen beim Vordringen der modernen Industriegesellschaft schien den Sozialtheoretikern des 19. Jahrhunderts unausweichlich, im 20. Jahrhundert wurde sie ein sozialwissenschaftlicher Gemeinplatz. Religion würde im Prozess fortschreitender Säkularisierung und Rationalisierung immer mehr an Einfluss verlieren und schließlich verschwinden.

Doch spätestens das vergangene Jahrzehnt hat die Vertreter der Säkularisierungsthese in Bedrängnis gebracht. Weltweit sind vielfältige Renaissancen des Religiösen zu beobachten, von zunehmend einflussreichen Fundamentalismen verschiedener Couleur über vielerorts aufbrechende ethnisch-religiöse Konflikte bis hin zur Ausdifferenzierung immer neuer spiritueller Versuchsfelder in den westlichen Gesellschaften. Haben sich Comte, Durkheim, Weber und Marx also geirrt?

Nicht ganz, meinen Pippa Norris und Ronald Inglehart, die in ihrem wichtigen Buch „Sacred and Secular: Religion and Politics Worldwide“ der überkommenen These von der fortschreitenden Säkularisierung ein gründliches Update verpassen. Im Grundsatz geben die beiden Politikwissenschaftler, die an der John F. Kennedy School of Government der Harvard University und am Institut für Sozialforschung der University of Michigan lehren, Max Weber Recht: In den saturierten Schichten wohlhabender postindustrieller Gesellschaften hätten sich Säkularisierungsprozesse am deutlichsten in einer systematischen Erosion religiöser Vollzüge, Werte und Glaubensüberzeugungen bemerkbar gemacht. Doch nicht kognitive Faktoren seien dafür entscheidend, argumentieren sie, sondern das Maß „existenzieller Sicherheit“ in einer Gesellschaft oder einem sozialen Segment. Wer täglich lebensgefährdenden Risiken wie Unterernährung, Wassermangel, Aids oder Malaria ausgesetzt ist, ohne Zugang zu Bildung und Gesundheitsvorsorge, oft in Situationen politischer Instabilität, ethnischer Konflikte und gravierender Menschenrechtsverletzungen, der orientiert sich leicht ins Transzendente. Das Gefühl der Verletzlichkeit angesichts physischer, sozialer und persönlicher Gefährdungen öffne den Einzelnen für das Religiöse.

Not lehrt Beten, hieß das früher mal ganz schnörkellos. Doch Norris und Inglehart stützen ihre These auf umfangreiches empirisches Material. Neben der World Values Survey ziehen sie auch die European Values Survey1 heran; kombiniert erlauben diese Studien die Untersuchung einer großen Bandbreite religiöser Haltungen und Verhaltensweisen in ganz unterschiedlichen Gesellschaften, Regionen und Glaubensgemeinschaften. Während der Forschungsansatz vielfältige Möglichkeiten zu transnationalen Vergleichen bietet, fehlt es aber noch an Beobachtungen längerer Zeitläufte, die mittel- und langfristige Trends erkennen lassen; oft liegen zum Vergleich nur Daten aus den vergangenen beiden Jahrzehnten vor.

Für ihre Untersuchung der Entwicklung individueller Teilhabe an kollektiven religiösen Vollzügen, religiöser Werte und Glaubensüberzeugungen haben Norris und Inglehart die Vogelperspektive gewählt. Es geht nicht um Momentaufnahmen evangelikaler Gemeinden im „bible belt“ des amerikanischen Südens, nicht um ideologische Spaltungen in der anglikanischen Synode, die Leitungsämter der Römisch-Katholischen Kirche in Italien oder den Einfluss radikaler Islamisten im Nahen Osten. Vielmehr steht die Identifikation weit gespannter Entwicklungslinien individueller Religiosität im Mittelpunkt.

Nur auf den ersten Blick paradox ist die These vom Voranschreiten der Säkularisierung bei gleichzeitigem Bedeutungsgewinn des Religiösen. „Aufgrund der demographischen Trends in ärmeren Gesellschaften leben auf der Welt heute mehr Menschen mit traditionellen religiösen Anschauungen als je zuvor – sie bilden einen wachsenden Anteil der Weltbevölkerung.“ Reiche Gesellschaften durchlaufen einen Prozess der Säkularisierung, doch sie stellen aufgrund ihrer niedrigen Geburtenraten einen immer geringeren Anteil.

Wie aber passen die Vereinigten Staaten in dieses Bild postindustrieller Säkularisierung? Gar nicht, geben Norris und Inglehart offen zu. Die amerikanische Bevölkerung ist, bezogen auf ihren ökonomischen und sozialen Entwicklungsstand, außergewöhnlich religiös. Das könnte man einerseits zu erklären versuchen durch die große Zahl von Einwanderern mit stark religiös gefärbtem Herkommen, vor allem aber durch eine breite soziale Ausdifferenzierung innerhalb der amerikanischen Gesellschaft. Durch ein hohes Maß ökonomischer Unsicherheit, dem der Einzelne unter den Vorzeichen von Eigenverantwortung und individueller Leistungsfähigkeit ausgesetzt ist. Auch im Mittelstand sind viele Familien mit ständigen existenziellen Ängsten konfrontiert: vor Arbeitsplatzverlust, unzureichendem Krankenversicherungsschutz, hohen Pflegekosten im Alter, kriminellen Bedrohungen.

Im Vergleich muten die Staaten der Europäischen Union fast wie egalitäre Schutzräume an. Wie sich dort allerdings die Erosion des Sozialstaats auswirken wird, bleibt abzuwarten. Mit einer religiösen Renaissance würden wohl auch Pippa Norris und Ronald Inglehart nicht rechnen, die schon bei der Anwendung ihrer Thesen auf die USA sehr zurückhaltend bleiben und Amerika lieber zum „Außenseiter“ ihres Modells erklären.

Das von Peter L. Berger entwickelte Marktmodell eines religiösen Pluralismus, in dem ein vielfältiges Angebot die Nachfrage stimuliert, lehnen sie als Erklärung ab. Gerade dort, wo es vorwiegend „Einheitskost“ gibt wie in Irland oder Polen, seien Glaubens-praxis und religiöse Werte am weitesten verbreitet. Umso mehr, wenn der Staat noch regulierend eingreife.

Kaum überraschend ist die Vorhersage der Autoren, dass die wachsende Kluft zwischen religiösen und säkularen Gesellschaften wesentliche weltpolitische Folgen haben und die Rolle des Religiösen neu auf die internationale Agenda setzen werde. Aus dem „religious gap“ müssten nicht notwendig Gewalt und ethnisch-religiöse Konflikte hervorgehen, beschwichtigen sie unter Verweis auf weltweite Demokratisierungstendenzen. Gleichwohl sind sich Norris und Inglehart darüber im Klaren, dass die Verfestigung konservativ-fundamentalistischer Wertmuster innerhalb sich ständig verändernder liberaler Staats- und Gesellschaftsstrukturen erhebliche soziale und politische Sprengkraft entfalten kann. „Die sich vertiefende Kluft zwischen den Grundwerten stärker religiös und stärker säkular geprägter Gesellschaften wird wohl die Dringlichkeit und Bedeutung kultureller Fragen in der internationalen Politik erhöhen“, schreiben sie. „Ob und wie wir es schaffen, diese kulturellen Unterschiede miteinander zu vereinbaren und zu tolerieren, oder ob wir daran scheitern – das wird eine der zentralen Fragen des 21. Jahrhunderts sein.“

Dies gilt in nationalen und europäischen Zusammenhängen nicht minder. Die immer neuen Kapitel des Kopftuchstreits illustrieren die Schwierigkeiten im Verhältnis verschiedener religiöser und säkularer Weltanschauungen. Die gerade ergangene Entscheidung des britischen Court of Appeal, der unter Bezugnahme auf die Europäische Menschenrechtskonvention den Unterrichtsausschluss einer muslimischen Schülerin wegen Tragens des Hedschab für unrechtmäßig erklärte,2 ist ein Beispiel für die Einbindung dieses Konfliktfelds in den europäischen Menschenrechtsdiskurs.

Kann man sich dabei, wie die offenkundig „religiös unmusikalischen“ Politologen Norris und Inglehart, auf die Außenperspektive beschränken? „Die theoretisch anspruchsvolle Aufgabe, Religion zu deuten, setzt ... mehr als nur elementare Religionsbildung und religionsanalytische Unterscheidungsfähigkeit voraus“, schreibt der Münchener Theologe und Historiker Friedrich Wilhelm Graf in seiner tiefenscharfen Analyse der Religionsgeschichten der Moderne. „Gefordert ist auch die Kompetenz, soweit theoretisch überhaupt möglich, Binnenperspektiven religiösen Bewusstseins nachzuvollziehen.“ Dazu müsse man bereit sein, sich auch auf die Nachtseiten der Vernunft zu begeben und die eigene Deutungskraft von Mythen, Symbolen und Riten zu erschließen zu versuchen.

Von wegen Säkularisierung3 – „solche kulturkritischen Klagen über den Niedergang des Christentums werden in Deutschland schon seit mindestens zweihundert Jahren angestimmt“. Die Religion ist zurück auf der Agenda der Wissenschaft. Der Theologie kommt unter den Bedingungen des modernen Pluralismus eine Schlüsselrolle zu, sie ist nötig, „um in den Arenen von Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Kirche und Politik der heilsamen Unterscheidung von Gott und Mensch Geltung zu verschaffen“.

Grafs vielschichtige Auseinandersetzung mit dem religious turn nimmt ihren Ausgang bei Max Weber, aus dessen berühmtem Vortrag über „Wissenschaft als Beruf“ vom November 1917 er zitiert: „Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.“ Den Konfliktpotenzialen moderner Religionsgeschichten stellt Graf unbestechliche intellektuelle Präzision entgegen. Unter den drei religionsdiagnostischen Deutungsangeboten, die er vorstellt, scheinen es gerade die von Norris und Inglehart rundweg abgelehnten „religious economics“ der Chicago School zu sein, die mit der verstärkten Pluralisierung der europäischen Religionskulturen Schritt halten können: „Denn sie haben den großen methodischen Vorzug, den homo religiosus als freien Akteur ernst zu nehmen, der über den Gott, den er sich wählt, unbeschadet der Einbindung in ein dichtes Geflecht von Traditionen und Konventionen autonom entscheidet.“

Weit ins Dickicht der Traditionen hat sich die Religionsphilosophin Mary Anne Perkins in ihrer Untersuchung zum klassischen Narrativ von „Europa als Christenheit“ vorgewagt – und eine Kartographie in kleinem Maßstab vorgelegt, die ein bislang nur abschnittsweise zugängliches Feld im großen Zusammenhang erschließt.4 Perkins, die am Birkbeck College der University of London religiöse Ideengeschichte und Religionssoziologie unterrichtet, zeichnet die vielfältigen Einflusslinien der Rede von der abendländischen „Christenheit“ auf politische Theorie, Historiographie und nationale wie europäische Identitätsbildungen nach. Nicht um das Christentum als religiöses Phänomen geht es dabei, sondern um die imaginierte Gemeinschaft der Christenheit.

Entlang facettenreicher interdiszi-plinärer Rundgänge verfolgt Perkins die Wechselbezüge von Politik und Religion, den Einfluss der Idee einer „europäischen Christenheit“ auf Konzepte staatlicher Souveränität und die Wirkungen säkularisierter theologischer Begriffe im Kontext des Politischen. Rekonstruiert wird außerdem der Einfluss des „christlichen Erbes“ auf das historische Bewusstsein.

Vor allem aber untersucht Perkins den Gebrauch der „großen Erzählung“ bei der Herausbildung nationaler und europäischer Identitäten. Die Idee eines „europäischen Geistes“ erlaubt Inklusion - aber auch Exklusion, die Abgrenzung vom „Anderen“, sei es Russland, die Welt des Islams oder das Judentum. Am Ende bündeln sich alle dargestellten Denkwege bei der Frage nach dem – inzwischen abgelehnten – Gottesbezug im europäischen Verfassungsvertrag. Nachdem der Leser immer wieder ein Stück Wegs mit Karl dem Großen gegangen ist, mit Schuman, Adenauer, Montesquieu und Denis de Rougemont, Jacques Maritain, Victor Hugo und Sam Huntington – da trifft er am Ende auf Tony Judt und den Papst, Hans-Gert Pöttering und Tariq Ramadan. Viele Details bleiben unausgeleuchtet, aber das ist bei dieser aufschlussreichen Vorstellungsrunde durch die europäische Ideengeschichte beileibe kein Makel.

Selbst wenn, wie Ramadan argumentiert, das Christenheits-Narrativ seit langem jede Verbindung zum Religiösen verloren hätte, so beeinflusst es doch weiterhin Denken, Kultur, Politik und Identität der Europäer. Dringend müsse die Frage gelöst werden, drängt Mary Anne Perkins, ob Europa offen sein könne für jene, deren Identitätsgeschichten andere Ursprünge hätten. „Ist es beispielsweise möglich, inklusiver zu werden, ohne dabei jeden historischen Sinn für Identität und Gemeinsamkeit aufzugeben?“

Dieser Frage ist unlängst der an der New York University lehrende Verfassungstheoretiker Joseph Weiler nachgegangen.5 Er geht davon aus, dass wirkliche Inklusivität immer das Be-kenntnis zur eigenen Identität voraussetzt. „So ist die kompromisslose Bekräftigung der Wahrheit, jener Wahrheit, die anstößig erscheinen könnte, notwendig gerade für die Einzigkeit meiner Identität. Aber zugleich ist sie eine Bekräftigung der Andersheit des Anderen. ... In diesem Sinne respektiert sie ihn tief, ist sie genau das, was ihn ihn und mich mich sein lässt.“ Nur wenn ein tolerantes Europa aufrichtig mit seiner christlich geprägten Identität sei, könnten auch Juden und Muslime, Glaubende und Nichtgläubige, dort Beheimatung finden.

Die bei Perkins viel beschworene Einheit, das „Gemeinsame“ ist, wie Nico Krisch gerade in Bielefeld darlegte,6 kaum mehr als eine nostalgische Reminiszenz an ein zentrales politisches Projekt der Moderne. In der Vielheit des europäischen Verfassungsraums bilden Polyzentrizität und Pluralismus eine kulturelle und politische Diversität ab, die normativ anerkennungswürdig ist. Und die handhabbar wird durch das von Joseph- Weiler entwickelte Prinzip konstitutioneller Toleranz.

Auch die Brüche und Fragmente des religiösen Pluralismus lassen sich nur mittels einer Toleranz überwinden, die sich nicht in Indifferenz erschöpft. Es werde „entscheidend da-rauf ankommen, dass die gegenwärtige europäische Rechtskultur die Kraft hat, die Humanisierung und Individualisierung der Religiosität, die die Neuzeit allmählich entwickelt hat, auch im Angesicht realer Bedrohungen zu behaupten“, schreibt der Berliner Rechtsphilosoph Matthias Mahlmann.7 Dafür gelte es zum einen, die konkrete Praxis einer Theorie der toleranten Humanität zu bewahren, die Religiosität grundsätzlich achtet. Ebenso wichtig sei es aber, der Bequemlichkeit des kulturrelativistischen Quietismus zu entkommen und gegenüber Strömungen in verschiedenen Religionen, die gewalttätigen Glaubenszwang praktizieren, ohne Paternalismus und vergessliche Selbstgerechtigkeit, aber mit universalistischer Courage für diese Perspektive der Humanität zu kämpfen.8

In Mainz ließ der mächtige Bischof Willigis noch eine zweite große Kirche bauen. Die Stiftskirche St. Stephan, gestiftet als „Friedenskirche des Reiches“, erhebt sich auf einem Hügel über der Altstadt, etwas zu abseitig vielleicht für ein präsidiales Damenprogramm. Im Bombenkrieg zerstört, gewann nach dem Wiederaufbau ein beharrlicher Pfarrer Marc Chagall zur Gestaltung der neuen Glasfenster. Neun wunderbare blaue Fenster schuf Chagall für den Ostchor von St. Stephan, das letzte kurz vor seinem Tod. Jüdische und christliche Tradition gehen hier im Zusammenspiel des tiefen Blau mit kräftigen Gelb-, Rot- und Grüntönen ineinander auf. Aus Abraham, Isaak und Jakob, Mose und Elija spricht das andere Mainz, im Mittelalter mit Worms und Speyer europäisches Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit. In den übrigen Fenstern, von Chagalls Werkstattmeister Charles Marq zurückhaltender gestaltet, beweist sein unverwechselbares Blau in vielerlei Transformationen erstaunliche Beständigkeit. Sieht man genauer hin, erkennt man darin vielleicht die Vielfalt religiöser Glaubensformen und Sprachmuster. Eine dynamische Pluralität, die sich, immer gleich, doch nie in vorgegebenen Deutungen erschöpft.

Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. C.H. Beck, München 2004. 329 Seiten, 24,90 Euro. 

Pippa Norris und Ronald Inglehart: Sacred and Secular. Religion and Politics Worldwide. Cambridge University Press, Cambridge and New York 2004. 329 Seiten, 70 Dollar. 

Mary Anne Perkins: Christendom and European Identity. The Legacy of a Grand Narrative since 1789. Walter de Gruyter, Berlin und New York 2004. 385 Seiten, 88 Euro.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2005, S. 128 - 133.

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