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01. Nov. 2008

Jüngstes Gericht

Warum die Nahrungskrise den Niedergang unserer Kultur einläuten könnte

Schon viele Kulturen sind daran gescheitert, die Zeichen richtig zu deuten, die ihren eigenen Untergang ankündigten. Egal, ob auf persönlicher oder weltwirtschaftlicher Ebene: In der Regel planen wir die Zukunft, indem wir die Vergangenheit extrapolieren.

Meistens klappt das, doch zuweilen kommt es zu Brüchen, die wir nicht erwartet haben. Der Zusammenbruch der Zivilisation ist eine solche Diskontinuität. Hin und wieder blicke ich zurück und lese nach, warum es zu Niedergang und Zusammenbruch früherer Kulturen kam. In der Mehrzahl der Fälle waren schrumpfende Nahrungsvorräte der Grund ihres Untergangs. Bei den Sumerern etwa machte der steigende Salzgehalt des Bodens – der Pferdefuß ihres Bewässerungssystems – erst ihre Weizen- und Gerstenerträge zunichte und anschließend die Zivilisation selbst. Bei den Mayas war es offenbar eine durch längere Trockenheit beschleunigte Bodenerosion, welche die Nahrungsmittelerzeugung und die Zivilisation untergrub; eine Kausalkette, die beim Zusammenbruch vieler Zivilisationen die entscheidende Rolle spielte.

Droht unserer Zivilisation ein ähnliches Schicksal? Noch vor Kurzem erschien das unmöglich, widersprach auch ich der These, eine Nahrungsmittelverknappung könne unsere globale Zivilisation zu Fall bringen. Doch unsere fortdauernde Unfähigkeit, den Tendenzen entgegenzuwirken, welche die Welternährungswirtschaft schwächen – insbesondere sinkende Grundwasserspiegel, erodierende Böden und steigende Temperaturen – zwingen mich zu der Einsicht, dass ein solcher Kollaps möglich ist. Wir beobachten diese Tendenzen seit nunmehr 30 Jahren, ohne dass erkennbar würde, dass nennenswerte Anstrengungen zu ihrer Umkehrung unternommen werden.

In sechs der vergangenen acht Jahren ist die Weltgetreideerzeugung hinter dem Konsum zurückgeblieben, sodass es zu einem ständigen Abbau der Vorräte kam. Die weltweiten Getreideüberschüsse, also die Bestände, die noch vorhanden sind, wenn die neue Ernte beginnt, würden nur noch 60 Tage reichen, fast ein Rekordtief. Währenddessen kletterten die Getreideweltmarktpreise zwischenzeitlich auf den höchsten Stand, seit es entsprechende Aufzeichnungen gibt.Die Rekordinflation der Nahrungsmittelpreise dringt in jeden Winkel der Erde und fügt den Belastungen, die zu staatlicher Insolvenz führen, eine weitere hinzu. Schon vor dem jüngsten Anstieg der Getreidepreise hatte die Zahl zahlungsunfähiger Staaten zugenommen. Zu den bekannteren Namen der 20 Staaten an der Spitze dieser Liste gehören Somalia, Haiti, der Sudan, Afghanistan und die Demokratische Republik Kongo. In den vergangenen Jahren sind noch bevölkerungsreichere Länder wie Pakistan und Nigeria in der Liste aufgestiegen. Jetzt laufen selbst Regierungen vieler getreideeinführender Länder mit niedrigen und mittleren Einkommen angesichts des steilen Anstiegs der Nahrungsmittelpreise Gefahr, in Zahlungsschwierigkeiten zu geraten. Sind scheiternde Staaten ein frühes Anzeichen für den Untergang der globalen Zivilisation?

Kurzsichtiges Eigeninteresse

Im gleichen Maße, in dem die Ernährungssicherheit abnimmt, erleben wir die Anfänge einer gefährlichen Politik des kurzsichtigen Eigeninteresses. Das begann 2007, als führende weizenexportierende Länder wie Russland und Argentinien ihre Ausfuhren begrenzten oder aussetzten, um dem heimischen Lebensmittelpreisanstieg entgegenzuwirken. Vietnam, nach Thailand der wichtigste Reisexporteur der Welt, untersagte für mehrere Monate sämtliche Reisausfuhren. Während diese Maßnahmen die Menschen in den Exportländern beruhigten, riefen sie in den getreideimportierenden Ländern Panik hervor. Um die Getreideversorgung abzusichern, setzt man hier auf langfristige bilaterale Handelsabkommen. Die Philippinen etwa haben vor kurzem ein Drei-Jahres-Abkommen mit Vietnam getroffen, das ihnen jährlich 1,5 Millionen Tonnen Reis garantiert.

Die Sorge um die Nahrungsmittelsicherheit führt zu ganz neuen Strategien der Einfuhrländer: Sie versuchen, große Anbauflächen in Drittländern zu kaufen oder zu pachten. Libyen, das fast 90 Prozent seines Getreides importiert, hat rund 100 000 Hektar Land in der Ukraine gepachtet, um Weizen für den Eigenbedarf anzubauen; im Gegenzug hat es der Ukraine Zugang zu einem seiner Ölfelder gewährt. Ägypten bastelt an einer ähnlichen Konstruktion und bietet der Ukraine im Tausch Zugang zu seinen Erdgasvorkommen. Besonders konsequent betreibt China diesen „Auslandsanbau“: Anfang 2007 unterzeichnete es eine Absichtserklärung zur Bewirtschaftung von einer Million Hektar auf den Philippinen, einer Fläche, die ungefähr zehn Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche des Landes entspricht. Doch dieses Abkommen, das Regierungsvertreter in aller Stille geschlossen hatten, wurde später von Manila aufgekündigt, als die Reisvorräte knapp wurden und einheimische Bauern Bedenken anmeldeten. China bemüht sich jetzt in anderen Ländern wie Australien, Russland oder Brasilien um langfristige Pachtverträge für Anbauflächen.

In vielen Ländern beginnt infolge hoher Preise und des um sich greifenden Wettstreits um Nahrungsmittel die Gesellschaftsordnung zu bröckeln. Die ersten Todesopfer sind zu beklagen. In Ägypten etwa kamen mehrere Menschen ums Leben, als sie für staatlich subventioniertes Brot anstanden. Bei Hungerkrawallen im Jemen gab es mindestens ein Dutzend Tote. In Kamerun war die Zahl der Todesfälle bei derartigen Unruhen doppelt so hoch. All das schafft es in die Schlagzeilen, doch weit beklemmender ist eine Zahl, die das UN-Welternährungsprogramm liefert: Danach sterben täglich 18 000 Kinder an Hunger oder damit einhergehenden Krankheiten. Die Preisinflation auf dem Nahrungsmittelweltmarkt trifft zwar alle Länder, die armen aber mit besonderer Härte. In Industrieländern wie den USA liegen die Ausgaben für Nahrungsmittel in der Regel bei 10 bis 20 Prozent des Einkommens, während die Armen der Welt dafür häufig 50 bis 80 Prozent aufbringen müssen.

Der Anstieg der Weltgetreidepreise ist von Trends abhängig, von solchen, welche die Nachfrage verstärken, und von solchen, die eine Angebotsbeschränkung bewirken. Auf der Nachfrageseite schlägt zu Buche, dass die Weltbevölkerung jedes Jahr um 70 Millionen Menschen anwächst, dass eine immer größere Zahl von Menschen in der Nahrungskette aufsteigt und getreideintensiv erzeugte Fleischprodukte konsumieren möchte und dass ein erheblicher Teil der US-Getreideernte für Bioethanolbrennereien abgezweigt wird. In den vergangenen Jahren hat die Verwendung von Getreide zur Ethanolgewinnung in Amerika dazu geführt, dass der weltweite Getreideverbrauch pro Jahr fast ums Doppelte gewachsen ist – von 21 Millionen Tonnen auf mehr als 40 Millionen Tonnen.

Die durch steigenden Wohlstand bedingte erhöhte Getreidenachfrage weist von Land zu Land erhebliche Unterschiede auf. Menschen in Niedriglohnländern wie Indien, deren Kalorienbedarf zu 60 Prozent durch Getreide gedeckt wird, verbrauchen unmittelbar fast 200 Kilogramm Getreide pro Kopf und Jahr oder etwas über ein Pfund pro Tag. In Wohlstandsländern wie den USA oder Kanada liegt der jährliche Getreideverbrauch bei nahezu 800 Kilogramm, davon werden rund 90 Prozent gewissermaßen „indirekt“ konsumiert, in Form von Fleisch, Milch und Eiern. In Niedriglohnländern ist also damit zu rechnen, dass mit den Einkommen auch die Getreidenachfrage spürbar ansteigen wird. So könnte die heutige Weltgetreideernte – knapp über zwei Milliarden Tonnen – bei den heutigen Ernährungsgewohnheiten zehn Milliarden Inder ernähren, aber nur 2,5 Milliarden Amerikaner. Dieser potenzielle Anstieg der Getreidenachfrage ist gewaltig, verblasst aber neben der für die Produktion von Biotreibstoff. Wenn die Vermarktung des Getreides als Nahrungsmittel weniger einbringt als sein Verkauf als Treibstoffbasis, werden die Marktkräfte das Getreide in die Energiewirtschaft drängen. Steigt also der Ölpreis, dann folgt der Getreidepreis dieser Tendenz. In ihrem Wahn, die eigene Abhängigkeit von ausländischem Öl durch die Erzeugung von getreidebasierten Kraftstoffen zu beseitigen, haben die USA den Weltmarkt für Nahrungsmittel in nie dagewesenem Maße verunsichert. Ein weiteres Beispiel dafür, wie ein Land sein eng definiertes Eigeninteresse auf Kosten der Versorgungssicherheit im Rest der Welt verfolgt.

Während die Getreidenachfrage massiv zunimmt, wirken sich mehrere Tendenzen erschwerend auf alle Bemühungen aus, das Getreideangebot auf dem Weltmarkt rasch genug zu erhöhen, um mit der Nachfrage Schritt zu halten. Dazu gehören das Versiegen von Bewässerungsbrunnen durch Überpumpung der Grundwasserleiter, rückläufige Ernteerträge durch massive Bodenerosion, die Umwidmung von Ackerland, häufigere, erntevernichtende Hitzewellen und ein schwindendes Potenzial an nichtgenutzter landwirtschaftlicher Technik, mit der die Bauern die Bodenproduktivität erhöhen können.

Kernproblem Wassermangel

Von allen Umwelttrends, die das Nahrungsmittelangebot einschränken, wirkt sich die Ausweitung der Wasserknappheit am gravierendsten aus – zumal 70 Prozent des gesamten Wasserverbrauchs weltweit zur Bewässerung verwendet werden. Das Ausheben von Millionen Bewässerungsbrunnen hat dazu geführt, dass das Wasser rascher entnommen wird, als es durch Niederschlag regeneriert werden kann, sodass man auf das nichterneuerbare Grundwasser zugreift. Infolgedessen sinken die Grundwasserspiegel heute in einer Reihe von Ländern, die zusammen die Hälfte der Weltbevölkerung stellen, darunter die drei größten Getreideproduzenten – China, Indien und die USA. Die Erschöpfung der Grundwasserleiter ist eine besondere Bedrohung für China und Indien, wo rund 80 beziehungsweise 60 Prozent der Getreideernte auf künstlich bewässerten Anbauflächen erzeugt werden. In Amerika dagegen sind es nur 20 Prozent.

Die meisten Grundwasserleiter füllen sich wieder auf, fossile Grundwasserleiter aber nicht. In diesen Fällen – darunter der riesige Ogallala-Aquifer unter den Great Plains der USA, der Saudi-Aquifer und der Grundwasserleiter unter der Nordchinesischen Ebene – kann nach der Erschöpfung kein Wasser mehr gefördert werden. Bauern, denen das Wasser zur Berieselung ausgegangen ist, können, wenn die Niederschläge es erlauben, zum ertragsärmeren Trockenfeldbau zurückkehren, doch in trockneren Gebieten wie dem Südwesten der USA oder dem Mittleren Osten bedeutet es oft das Ende der Landwirtschaft.

Nirgends ist der Rückgang des Bewässerungsanbaus besorgniserregender als in Saudi-Arabien, einem Land, das an Wasser so arm wie an Öl reich ist. Nach dem arabischen Ölembargo der siebziger Jahre erkannten die Saudis, dass sie für ein Gegenembargo beim Weizen anfällig waren. Um hier autark zu werden, entwickelten sie eine hochsubventionierte Bewässerungswirtschaft, für die sie das Wasser aus einem mehr als 800 Meter tiefen fossilen Grundwasserleiter an die Oberfläche pumpten. Als dieser Grundwasserleiter Anfang 2008 weitgehend erschöpft war, verkündeten die Saudis, man werde die Weizenproduktion im Jahr 2016 nach mehr als 20 Jahren der Autarkie auslaufen lassen. Dann wird Saudi-Arabien rund 15 Millionen Tonnen Weizen, Reis, Mais und Gerste für seine 30-Millionen-Bevölkerung importieren. Damit gesteht Saudi-Arabien als erstes Land öffentlich ein, wie sehr seine Getreideerträge durch Erschöpfung der Grundwasserreserven zurückgehen werden.

Sinkende Grundwasserspiegel beeinträchtigen die Ernteerträge auch in vielen anderen Ländern. In China brachte ein Gutachten ans Licht, dass unter der Nordchinesischen Tiefebene – dem Anbaugebiet, das über die Hälfte des Weizen und ein Drittel des Maisbedarfs des Landes deckt – der Wasserspiegel rapide sinkt. Überpumpung hat die obere Grundwasser führende Schicht vollkommen ausgelaugt, sodass die Brunnenbohrer nun zum Tiefengrundwasserleiter durchstoßen müssen, wo das Wasser sich nicht mehr erneuert. Der Spiegel dieses Aquifers, der letzten Wasserreserve der Region, sinkt Jahr für Jahr um gut drei Meter. Ein in ungewohnt scharfem Ton gehaltener Bericht der Weltbank erwartet „katastrophale Folgen für künftige Generationen“, wenn nicht das Gleichgewicht von Wasserentnahme und -zufluss rasch wieder hergestellt wird. Da die Grundwasserspiegel sinken und die Bewässerungsbrunnen versiegen, schrumpfen die Erträge der chinesischen Weizenernte, der größten der Welt. Nach einem Maximum von 123 Millionen Tonnen im Jahr 1997 sanken die Erträge in diesem Jahr auf 114 Millionen Tonnen – ein Rückgang von sieben Prozent binnen eines Jahrzehnts. Im selben Zeitraum ging die Produktion von Reis um sechs Prozent von 140 auf 131 Millionen Tonnen zurück. China, das derzeit schon 70 Prozent seiner Sojabohnen einführen muss, dürfte in Kürze gezwungen sein, auch große Mengen Getreide zu importieren.

Anlass zu noch größerer Besorgnis besteht in Indien. Dort ist der Schritt vom Nahrungsmittelkonsum zum Hunger noch kleiner. Die Bauern des Landes haben 21 Millionen Bewässerungsbrunnen ausgehoben – mit dem Resultat, dass fast überall der Grundwasserspiegel sinkt. In einem Überblick zur Wassersituation in Indien schreibt Fred Pearce im New Scientist, dass „die Hälfte der herkömmlichen, von Hand gegrabenen Brunnen und Millionen der flacheren Röhrenbrunnen ausgetrocknet sind, was unter den Menschen, die auf diese Brunnen angewiesen sind, eine Selbstmordwelle ausgelöst hat. In Bundesstaaten, in denen die Hälfte der Elektrizität dazu benutzt wird, Wasser aus Tiefen bis zu einem Kilometer heraufzupumpen, kommen Stromausfälle von epidemischen Ausmaßen erschwerend hinzu.“ Tushaar Shah, Chef der Grundwasserforschungsstation des International Water Management Institute in Gujarat, erklärt zur Wassersituation in Indien: „Wenn die Blase platzt, wird im ländlichen Indien eine unbeschreibliche Anarchie ausbrechen.“ Der weltweit um sich greifende Raubbau der Aquifere erschwert eine weitere Steigerung der Nahrungsmittelerzeugung erheblich. Nachdem sich die bewässerten Anbauflächen von 1950 bis 2000 fast verdreifacht hatten, von etwa 93 Millionen auf rund 273 Millionen Hektar, kam diese Expansion unvermittelt zum Stillstand.

Autos statt Äcker

Zu den erosionsbedingten Verlusten an Ackerland kommen noch die Flächen hinzu, die ihrem landwirtschaftlichen Zweck entfremdet werden. Überall auf der Erde geht ein Teil des ergiebigsten Ackerlands als Bauland verloren. Der Wohnungsbau bemächtigt sich des kalifornischen Central Valley, im Jangtse-Becken werden Jahr für Jahr Tausende von Fabriken hochgezogen, an anderer Stelle sind ähnliche Verluste zu beklagen. Mittlerweile verlangt auch der Automobilbestand, der jährlich weltweit um 23 Millionen Fahrzeuge anwächst, dass immer mehr Ackerland in Überlandstraßen, Autobahnen und Parkplätze umgewandelt wird. Wenn etwa China eines Tages die japanische Kfz-Dichte – ein Auto je zwei Personen – erreichen sollte, würde die Zahl der Kraftfahrzeuge von gegenwärtig 35 Millionen auf 650 Millionen steigen. Da für je 50 neu hinzukommende Autos mindestens ein Hektar Land zu pflastern wäre, würde dies eine Versiegelung von etwa 13,25 Millionen Hektar bedeuten, was ungefähr der halben Fläche des chinesischen Reisanbaugebiets entspräche. Weltweit ging die Getreideanbaufläche pro Kopf von etwa 0,25 Hektar im Jahr 1950 auf weniger als 0,12 Hektar im Jahr 2007 zurück. Diese Fläche, kleiner als ein Baugrundstück in einem der wohlhabenden US-Vororte, wird bei anhaltendem Bevölkerungswachstum in Kürze auf weniger als 0,1 Hektar sinken.

Die wohl größte Gefährdung für die Versorgungssicherheit ist der Klimawandel. Grundlage der Landwirtschaft in ihrer gegenwärtigen Form war und ist ein Klimasystem, das ungeachtet gelegentlicher Extreme in den 11 000 Jahren der Bodenbewirtschaftung erstaunlich stabil geblieben ist. In einem Papier der US National Academy of Sciences bestätigt eine Gruppe von Forschern aus mehreren Ländern die von Landbauökologen entwickelte Faustregel: Steigt die Temperatur um ein Grad Celsius über den Normalwert an, sinken die Weizen-, Reis- und Maiserträge um zehn Prozent. Die Wissenschaftler kommen zu dem Schluss, dass es die globale Erwärmung „zunehmend erschwert, die wachsende Erdbevölkerung zu ernähren“.

Abgesehen von den unmittelbaren Auswirkungen höherer Temperaturen beeinflusst auch die Eisschmelze langfristig die Landwirtschaft. Ein vollständiges Abschmelzen der Eisdecke Grönlands würde den Meeresspiegel um gut sieben Meter steigen lassen. Wenn wir unser Verhalten nicht ändern, könnte der Meeresspiegel noch in diesem Jahrhundert ohne Weiteres um etwa anderthalb Meter steigen. Das würde sehr rasch zu Überflutungen der Reisanbauflächen in Mündungsdeltas führen – etwa in dem des Ganges in Bangladesch und des Mekong in Vietnam. Eine Karte der Weltbank zeigt, dass ein Anstieg des Meeresspiegels um einen Meter knapp die Hälfte der Anbauflächen in Bangladesch überschwemmen und die Reisversorgung des Landes entsprechend beeinträchtigen würde. Neben den vom Menschen verursachten Umwelttrends gefährdet die Ausbeutung der Ölreserven die Versorgung der Weltbevölkerung mit Nahrungsmitteln. Während der Ölverbrauch auf seinen Gipfelpunkt zusteuert, schießen die Ölpreise in die Höhe, sodass es nicht nur schwieriger wird, die Getreideernteerträge zu steigern, sondern auch kostenintensiver, sie an den Verbraucher zu bringen.

Während diese umwelt- und ressourcenbedingten Tendenzen die Sicherheit der Nahrungsmittelversorgung in Frage stellen, mangelt es auch zunehmend an innovativen Agrartechnologien, mit denen sich die Bodenproduktivität steigern ließe. Zwischen 1950 und 1990 erzielten die Bauern weltweit eine jährliche Steigerung der Hektarerträge um mehr als zwei Prozent und übertrafen damit den Bevölkerungszuwachs. Doch seither hat sich die Ertragssteigerung auf knapp über ein Prozent verringert, etwa die Hälfte der ursprünglichen Zuwachsrate. Einige Beobachter empfehlen unter diesen Umständen genetisch modifizierte Pflanzensorten. Doch leider hat noch keine gentechnisch veränderte Fruchtpflanze einen so spektakulären Ertragszuwachs gebracht wie die Sorten, die in den vergangenen Jahrzehnten eine Verdoppelung bzw. Verdreifachung der Weizen- und Reisernten erbracht haben. Das ist auch nicht zu erwarten. Wissenschaftler, die sich mit den herkömmlichen Methoden der Pflanzenzucht befassten, haben bereits das Potenzial zur Steigerung der Ernteerträge weitestgehend ausgeschöpft.

Entscheidend ist, dass neue Technologien zur Ertragssteigerung immer schwieriger zu entwickeln sind, da die Erträge der Pflanzen sich den naturgegebenen Grenzen der fotosynthetischen Effizienz bereits in hohem Maße angenähert haben. Damit wird auch die Höchstgrenze der biologischen Produktivität der Erde festgelegt, die letztlich bestimmt, wie viele Menschen auf der Erde leben können. Die Frage lautet – zumindest derzeit – nicht, ob sich die Getreideerträge auch weiterhin steigern lassen, sondern ob sich das rasch genug bewerkstelligen lässt, um mit der stark wachsenden Nachfrage Schritt zu halten. Das wird uns wahrscheinlich nicht gelingen, wenn wir fortfahren wie bisher; eine weitere Nahrungsmittelverknappung wäre die Folge. Dieser Nahrungsmittelmangel könnte sogar unsere Zivilisation gefährden. Anzeichen von Nahrungsmittelengpässen lassen sich überall finden. Nachdem die Zahl der chronisch hungernden und unterernährten Menschen in den Entwicklungsländern einige Jahrzehnte rückläufig war, erreichte sie 1996 mit 800 Millionen ihren Tiefststand; seither steigt sie wieder. 2006 übertraf sie die 850 Millionen, und 2007 kletterte sie sogar auf über 980 Millionen. Nach einer Schätzung des US-Landwirtschaftsministeriums wird die Zahl bis 2017 auf 1,2 Milliarden anwachsen. Selbst diese Schätzung könnte sich als zu vorsichtig erweisen. Zum ersten Mal seit mehreren Jahrzehnten bewegt sich dieser fundamentale gesellschaftliche Indikator in die falsche Richtung, und das mit Rekordtempo und beunruhigenden sozialen Folgen.

Kein Land ist gegen die Auswirkungen einer Versorgungskrise auf dem Lebensmittelsektor gefeit, nicht einmal die USA als Getreidekammer der Welt. Wenn China sich auf dem Weltmarkt erhebliche Getreidemengen beschaffen möchte, wie es das jüngst bei Sojabohnen tat, wird es sich zwangsläufig an die USA wenden. Für den US-Verbraucher ist die Aussicht, mit 1,3 Milliarden Chinesen und deren rasch wachsender Kaufkraft um die amerikanische Getreideernte konkurrieren zu müssen, ein Albtraum. Die USA könnten versucht sein, Ausfuhrbeschränkungen zu verhängen, wie man das etwa bei Getreide und Sojabohnen in den siebziger Jahren tat, als die Inlandspreise in die Höhe schnellten. China gegenüber dürfte das allerdings kaum eine Option sein, da China derzeit über eine Billion Dollar verfügt. Ob einem das gefällt oder nicht, China ist zur Hausbank der Vereinigten Staaten geworden; die amerikanischen Verbraucher werden ihr Getreide mit den chinesischen Konsumenten teilen müssen, ganz gleich, wie hoch die Nahrungsmittelpreise noch klettern.

Die Zivilisation bröckelt

Oben habe ich beschrieben, wie der politische Umgang mit der Nahrungsmittelknappheit zunehmend vom Eigeninteresse der Länder bestimmt wird. Es besteht die Gefahr, dass sich die Lage auf dem Nahrungsmittelsektor verschärft; staatliche Beschränkungen der Getreideausfuhren, gepaart mit bilateralen Abkommen, könnten das ausführbare Getreideangebot binden und den weniger wohlhabenden Ländern den Getreideimport erschweren. Viele Länder, die in hohem Maße von Importen abhängig sind, könnten davon ausgeschlossen sein. Das Ergebnis wären Hunderte Millionen verzweifelter Menschen. Verzweifelte Menschen neigen zu Verzweiflungstaten. Sie revoltieren. Sie kämpfen um Nahrungsmittel. Sie stürzen Regierungen. Und sie wandern massenweise in Länder mit größerer Versorgungssicherheit ab. Wenn unsere hochgradig urbanisierte Zivilisation infolge der Nahrungsmittelknappheit zu bröckeln beginnt, werden die Konsequenzen in den Städten außerordentlich unschön sein.

Die Verschlechterung der Nahrungsmittelversorgung findet nicht im luftleeren Raum statt: Sie fällt mit einem wachsenden Problemstau zusammen, der großenteils darauf zurückzuführen ist, dass es den Entwicklungsländern nicht gelungen ist, das Bevölkerungswachstum in den Griff zu bekommen. Fortdauerndes Bevölkerungswachstum auf einem Planeten, der von den Ansprüchen der Menschen ohnehin überfordert ist, muss viele Länder politisch schwächen. Bei solchen Belastungen entwickeln sich innenpolitische Konflikte zwischen religiös, kulturell und ethnisch unterschiedlichen Gruppen. Konflikte, die in Völkermorde ausarten können, wie in Ruanda oder im Sudan. Die geschätzten 2,4 Milliarden Menschen, um welche die Weltbevölkerung bis zur Jahrhundertmitte anwachsen wird, werden fast alle in Ländern zur Welt kommen, in denen die natürlichen Systeme der Landwirtschaft schon heute massiv bedroht sind. Wenn die Grundwasserspiegel sinken, die Böden erodieren und die Temperaturen steigen, wächst in Ländern wie Indien, Pakistan, Äthiopien oder Mexiko die Gefahr eines sozialen Zusammenbruchs.

Wir sind in eine neue Ära zwischenstaatlicher Beziehungen eingetreten. Waren es im letzten Jahrhundert die Supermächte, welche die Sicherheit bedrohten, so sind es heute die scheiternden Staaten. Nicht die Konzentration der Macht bedroht uns, sondern ihr Fehlen. Business as usual ist keine vernünftige Option mehr. Auf den sprunghaften Preisanstieg bei Weizen, Mais und Reis reagierten die internationalen Entwicklungshilfeeinrichtungen, vor allem die Weltbank, mit der Forderung, die Nahrungsmittelhilfe zu verstärken und den 20-jährigen Trend zu immer geringeren Investitionen auf dem Agrarsektor und in die dazugehörige Forschung umzukehren. Damit versuchte die Bank der Nahrungsmittelverknappung auf traditionelle Weise entgegenzuwirken, reagierte aber nicht auf die neuen Entwicklungen, welche die globale Ernährungswirtschaft gefährden. Es gibt weder einen Generalplan der Bank zur Reduzierung der CO2-Emissionen – tatsächlich finanziert sie weiterhin Kohlekraftwerke – noch einen zur Stabilisierung der Bevölkerungsentwicklung, zur Steigerung der Wasserproduktivität oder zur Bekämpfung der Bodenerosion.

Plan B: Unsere einzige Möglichkeit

Da die weltweite Nahrungsmittelverknappung von bestimmten Tendenzen befeuert wird, lässt sich die Situation nur entschärfen, indem wir diese Tendenzen verändern. Das lässt sich nur durch aufwändigste Maßnahmen erreichen – Klimastabilisierung, Einschränkung des Bevölkerungswachstums, Bekämpfung der Armut und Wiederherstellung der natürlichen Systeme in der Landwirtschaft, unter anderem der Böden und Grundwasserleiter.

Plan B ist ein monumentales Unterfangen. Dazu gehören vier Teilziele: umfassende Anstrengungen, die CO2-Emissionen bis 2020 um 80 Prozent zu reduzieren, die Stabilisierung der Weltbevölkerung bei acht Milliarden Menschen bis 2040, die Beseitigung der Armut und die Wiederherstellung von Wäldern, Böden und Grundwasserleitern.

Eine 80-prozentige Reduktion des CO2-Nettoausstoßes lässt sich durch systematische Erhöhung der Energieeffizienz weltweit erreichen, durch massive Investitionen in die Entwicklung erneuerbarer Energiequellen, durch ein weltweites Verbot der Abholzung, wie in manchen Ländern bereits geschehen, und durch die Anpflanzung von Milliarden Bäumen zur Kohlenstoffabsorption. Der Übergang von fossilen Brennstoffen zu erneuerbaren Energieträgern wird durch Umgestaltung des Steuersystems erreicht, wobei insbesondere die Kohlenstoffbesteuerung erhöht und zum Ausgleich die Einkommenssteuer gesenkt wird.

Stabilisierung der Bevölkerungszahl und Beseitigung der Armut gehen Hand in Hand. Das heißt, alle Kinder müssen zumindest eine elementare Schulbildung erhalten. Das heißt weiter, es muss auf dörflicher Ebene für eine minimale Gesundheitsfürsorge gesorgt sein, damit die Menschen sicher sein können, dass ihre Kinder das Erwachsenenalter erreichen. Frauen müssen überall Zugang zu fortpflanzungsmedizinischer Betreuung und zu Einrichtungen der Familienplanung haben. Die vierte Komponente, Wiederherstellung der natürlichen Systeme und Ressourcen der Erde, setzt ein weltweites Bemühen voraus, dem Absinken der Grundwasserspiegel durch Steigerung der Wasserproduktivität Einhalt zu gebieten – ähnlich der Initiative, die im Laufe von 50 Jahren die Hektarerträge bei Getreide beinahe verdreifacht hat. Steigerung der Wasserproduktivität bedeutet, zu effizienteren Bewässerungssystemen und zu weniger wasserintensiven Pflanzensorten überzugehen. In manchen Ländern müsste man dazu etwa mehr Weizen und weniger Reis anbauen. Industrien und Städte müssten in Angriff nehmen, was andere bereits tun, nämlich ein permanentes Wasserrecycling durchzuführen. Dazu gehören auch eine weltweite Anstrengung zur Bodenkonservierung und Maßnahmen wie Terrassierung, Anpflanzung von schützenden Baumgürteln und Anwendung schonender Bodenbearbeitungspraktiken.

Diese vier in Wechselbeziehung stehenden Zielsetzungen von Plan B sind eigentlich nichts Neues. Sie werden seit Jahren diskutiert. Es sind ganze Institutionen ins Leben gerufen worden, um sie einzeln zu verwirklichen, etwa die Weltbank zur Bekämpfung der Armut. Und wir haben in einigen Regionen der Erde zumindest bei einer dieser Zielsetzungen beträchtliche Fortschritte erzielt – der Ausbreitung der Familienplanung und dem damit verbundenen Übergang zu kleineren Familien, wodurch sich die Bevölkerungszahl stabilisierte. Viele Geberländer waren gern bereit, die Ziele von Plan B – Klimaschutz, Armutsbekämpfung, Stabilisierung der Bevölkerungszahl und Wiederherstellung von Boden- und Wasserressourcen – zu verfolgen, solange sie nicht zu viel kosteten. Für andere waren es humanitäre Zielsetzungen, politisch korrekt und moralisch angemessen. Nun kommt eine dritte, vernunftgemäße Erklärung ins Spiel: Das Erreichen dieser Ziele könnte zwingend geboten sein, um den Kollaps unserer Zivilisation zu verhindern.

Übersetzung: Hainer Kober

LESTER R. BROWN ist Direktor des Earth Policy Institute in Washington und Autor von „Plan B 3.0. So retten wir unsere Welt“ (Kai Homilius 2008).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11, November 2008, S. 18 - 39

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