IP Special

27. Juni 2022

Jetzt erst recht

Die EU darf in Rechtsstaatlichkeitsfragen kein zahnloser Tiger bleiben. Sie verfügt über einen gut bestückten Instrumentenkasten – den sollte sie konsequent und beharrlich nutzen.

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Bild: Victor Orban und Ursula von der Leyen
Uneins: EU-Kommissionschefin Ursula von der ­Leyen und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán.
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In der EU ist der fundamentale Wert der Rechtsstaatlichkeit schon seit Jahren unter Beschuss. Insbesondere in Polen und Ungarn wurde die Unabhängigkeit der Justiz zunehmend eingeschränkt. Das polnische Maulkorbgesetz, nach dem es Richtern untersagt ist, bei Vorabentscheidungen den Europäischen Gerichtshof (EuGH) anzurufen, oder die Einführung einer Disziplinarkammer, die Richterinnen und Richter bei politisch nicht opportunen Urteilen abstrafen kann, sind nur zwei Beispiele für Reformen, die die Rechtsstaatlichkeit des Systems ernsthaft kompromittieren. Dadurch sind nicht nur die polnische Opposition, Zivilgesellschaft und unabhängige Richterinnen und Richter unter Druck geraten. Der damit einhergehende Vertrauens- und Legitimitätsverlust wirkt sich auch negativ auf die Zusammenarbeit innerhalb der EU und ihre Resilienz aus.



Bereits 2017 forderte die Europäische Kommission den Rat angesichts der polnischen Justizreformen dazu auf, auf der Grundlage von Artikel 7 des EU-Vertrags („Gefahr feststellen“) eine schwerwiegende Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch Polen festzuhalten. Ein Jahr später folgte ein Aufruf des Europäischen Parlaments, der die gleiche Forderung in Bezug auf Ungarn stellte. Seitdem hat sich der Konflikt zwischen der EU auf der einen und Polen und Ungarn auf der anderen Seite verschärft. Die EU schöpft ihre rechtlichen Mittel aus und hat zahlreiche Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen und Ungarn bemüht. Polen und Ungarn erkennen die Rechtmäßigkeit dieser Mittel jedoch nicht an und reagieren in aller Schärfe; Viktor Orbán spricht von einem „rechtsstaatlichen Dschihad“. Warschau und Budapest halten die Rechtsstaatlichkeitsagenda der EU für ideologisch motiviert, sie schränke die politische Vielfalt innerhalb der EU unverhältnismäßig ein. Die Fronten sind verhärtet.



Eine Lösung des Rechtsstaatlichkeitskonflikts im gegenseitigen Einvernehmen, bei der die beiden mittelosteuropäischen Regierungen ihr Narrativ einer übergriffigen ideologisch-motivierten Europäischen Kommission revidieren, eigene Verstöße gegen das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit anerkennen und alle bislang gesprochenen EuGH-Urteile vollumfänglich erfüllen, ist nicht in Sicht. Dies zeigt das polnische Beispiel sehr anschaulich. Das Urteil des polnischen Verfassungstribunals vom 7. Oktober 2021 ficht den Vorrang von Europarecht gegenüber nationalem Recht grundsätzlich an – ein besorgniserregender Präzedenzfall innerhalb der EU. Nach dieser Logik überschreitet die EU ihre Kompetenzen, wenn der EuGH die polnische Justizreform als nicht mit EU-Recht vereinbar erklärt und die Regierung in Warschau daher auffordert, ebendiese Reformen rückgängig zu machen.



Drohende Spaltung

Die EU tat sich lange schwer damit, offenkundigen Rechtsstaatlichkeitsverstößen entschieden entgegenzutreten. Zu groß war in den Augen vieler die Gefahr einer irreversiblen Spaltung der EU. Aus jetziger Sicht hat die EU zu lange gezögert. Mit dem Krieg in der Ukraine ist die Lage noch brenzliger geworden. Innerhalb der EU existieren zwei Narrative: Eines betont den Kampf der Ukraine für europäische Werte, die es gerade jetzt auch innerhalb der EU vehementer zu verteidigen gelte. Angeführt wird dieses Lager von einer Mehrheit im Europäischen Parlament, die davor warnt, im Zuge der Krise die Augen vor der Erosion rechtsstaatlicher Prinzipien zu verschließen. Die Abgeordneten fordern Rat und Europäische Kommission auf, das Artikel-7-Verfahren neu zu beleben und den Rechtsstaatsmechanismus nach Ungarn auch auf Polen anzuwenden. Unterstützung erfährt das Parlament von der mittelosteuropäischen Zivilgesellschaft und Teilen der EU-Kommission – darunter Didier Reynders, EU-Kommissar für Justiz und Rechtsstaatlichkeit.



Ein anderes Lager, das sich aus Teilen des Rates und auch aus Stimmen aus der EU-Kommission speist, folgt der Interpretation, dass der russische Angriffskrieg in der Ukraine und seine immensen Folgen alles andere überlagern und relativieren. Nach dieser Lesart kann sich die EU keine zusätzliche Polarisierung und politische Spaltung leisten: Nicht gegenüber Polen, weil das Land sich bei der Aufnahme und Unterstützung ukrainischer Geflüchteter verdient macht und auf die finanzielle und politische Unterstützung der EU angewiesen ist. Und nicht gegenüber Ungarn, weil die russlandfreundliche Orbán-Regierung EU-Sanktionen blockieren könnte.



Die EU verfügt über zahlreiche Instrumente, um Rechtsstaatlichkeitsverstöße zu ahnden – mit unterschiedlichem Eskalations- und Wirkungspotenzial. Das bereits erwähnte Artikel-7-Verfahren wird häufig als „nukleare Option“ beschrieben, da auf dieser Grundlage bei anhaltenden und schwerwiegenden Verstößen gegen EU-Werte in letzter Konsequenz die Aufhebung mitgliedstaatlicher Stimmrechte möglich ist. Praktisch gilt die Weiterverfolgung dieses Verfahrens in Brüssel als ausgeschlossen. Um im Verfahren voranzukommen, ist der Rat gefragt: In erster Stufe müssten die 27 Mitgliedstaaten mit einer Vierfünftel-Mehrheit die „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat“ feststellen. Erst in einer nächsten Stufe könnte der Rat dann einstimmig eine „schwerwiegende und anhaltende“ Verletzung der Rechtsstaatlichkeit feststellen und entsprechende Sanktionen anstreben. Diese zweite Stufe des Einstimmigkeitsvotums gilt als unerreichbar, aber auch die erste Abstimmung wurde aus politischen Gründen nicht abgehalten. Anders als häufig dargestellt, besteht das Hindernis nicht allein darin, dass sich Polen und Ungarn im Rat gegenseitig schützen. Auch bei anderen EU-Staaten, nicht nur aus Mittelosteuropa, löst die Vorstellung einer Abstimmung Unbehagen aus. Grundsätzlich scheuen die meisten Länder jene Maßnahmen, die ihnen als öffentliches „Blaming and Shaming“ ausgelegt werden könnten und sie aus der politischen Deckung zwingen. Diese undankbare Aufgabe überlassen sie lieber der EU-Kommission, der Hüterin der Verträge.



Das zeigt auch die Nutzung der weiteren rechtlichen Instrumente. Insbesondere Vertragsverletzungsverfahren (geregelt in Art. 258 AEUV) wurden von der EU-Kommission zuletzt intensiv ­genutzt, um Verstöße gegen EU-Recht anzuzeigen und bei anhaltender Miss­achtung von EU-Recht Strafzahlungen zu erheben. Gegenüber Polen machte die Kommission davon wiederholt Gebrauch. Der EuGH gab der Kommission recht und forderte die polnische Regierung zur Rückabwicklung der Reformen und zur Wiedereinstellung unrechtmäßig entlassener Richter auf. Da die polnische Regierung das Urteil ignorierte, verhängte der EuGH Strafzahlungen in Höhe von einer Million Euro pro Tag. Polen weigert sich zu zahlen.



Ein neues Instrument

Seit Ende 2020 verfügt die EU über ein zusätzliches Instrument: den sogenannten Rechtsstaatsmechanismus. Er ist darauf ausgerichtet, die finanziellen Interessen der EU zu schützen und eignet sich in erster Linie, um Rechtsstaatlichkeitsverstöße in Form korrupter Praktiken zu ahnden, wie sie in Ungarn an der Tagesordnung sind. Weniger eindeutig ist die Anwendung in anderen Fällen. Die Justizreformen in Polen verstoßen zwar gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit. Der Nachweis, dass Polen deshalb EU-Gelder nicht ordnungsgemäß verwaltet, dürfte aber schwieriger zu erbringen sein. Kurzfristig wird der Mechanismus daher im Falle Polens eher keine Anwendung finden. Gegenüber Ungarn hingegen wurde er im April 2022 kurz nach den Parlamentswahlen eingeleitet. Zuvor hatte das Europäische Parlament monatelang gedrängt, die Kommission möge die Verschleppungstaktik aufgeben und die neue Verordnung endlich anwenden. Es ging im Oktober 2021 sogar so weit, die Kommission wegen Untätigkeit vor dem EuGH zu verklagen. Anders als im Artikel-7-Verfahren ist der Mechanismus so angelegt, dass er ohne Einstimmigkeitserfordernisse auskommt. Eine Erfolgsgarantie gibt es dennoch nicht.



Das Ambitionsgefälle zwischen dem Europäischen Parlament auf der einen und dem Rat auf der anderen Seite wird aller Voraussicht nach in der aktuellen Situation fortbestehen. So fordert das Parlament schon lange die Einführung eines breiter angelegten EU-Mechanismus für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte. Angesichts des Krieges in der Ukraine aber ist die Einführung neuer Instrumente vorerst nicht zu erwarten, ganz zu schweigen von Vertragsänderungen. Umso wichtiger ist es, dass die EU ihre bestehenden Instrumente voll nutzt. Dabei sollte die Frage gar nicht erst lauten, ob sie sich derzeit entweder effektives Krisenmanagement und intensive EU-Zusammenarbeit leisten kann oder ein entschiedenes Vorgehen gegen eine bewusste Schwächung rechtsstaatlicher Strukturen. Ein Entweder-oder verkennt politische Realitäten: Innen- und Außenpolitik sind nicht zu trennen. Nur wenn es der EU nach innen gelingt, für ihre Werte einzustehen und diese aktiv zu verteidigen – auch gegen politische Widerstände und Erpressungsversuche –, kann sie nach außen glaubwürdig auftreten.



Die implizite These hinter den Mahnungen vor zu viel Druck auf Ungarn und Polen ist wenig überzeugend, wonach Ungarn sich eher als verlässlicher Partner erweisen wird, wenn die Orbán-Regierung nicht länger mit wertebasierten Forderungen aus Brüssel behelligt wird und einbehaltene EU-Gelder schnellstmöglich ausbezahlt werden. Ganz abgesehen davon, dass ein solches Vorgehen gerade angesichts des jüngsten Fidesz-Wahlsiegs einer Kapitulation der EU als Rechtsgemeinschaft gleichkäme, bliebe Ungarns enge Verflechtung mit Russland bestehen, genau wie Orbáns Anti-Brüssel-Narrativ.



Für Polen gilt das Gegenteil. Das Land hat großes Interesse daran, eng mit der EU zusammenzuarbeiten. Auch wenn einige polnische Stimmen das Gegenteil ­behaupten, schließen sich eine solidarische Zusammenarbeit in der Sache und ein Beharren auf der Umsetzung gesprochener EuGH-Urteile nicht aus. Die EU sollte sich nicht auf das Narrativ einlassen, dass es angesichts des Ukraine-Krieges auch einer Zeitenwende hin zu einem flexibleren Umgang mit Rechtsstaatlichkeit bedürfe.



Nicht zuletzt sendet eine EU, die sich bei der Verteidigung ihrer Grundwerte als handlungsfähig, resilient und selbstbewusst erweist, auch eine Botschaft an Europas systemische Rivalen. Sie könnte lauten, dass es sich langfristig nicht lohnt, gewaltsame Konflikte in Europas Nachbarschaft anzuzetteln oder mit hybrider Kriegsführung und Desinformationskampagnen zu arbeiten, um die Ohnmacht liberaler Systeme offenzulegen.



Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die EU mit Polen einen Kompromiss anstreben wird. Sollte die polnische Regierung die Disziplinarkammer in der bestehenden Form abschaffen, erfüllt sie die Vorgaben des EuGH zwar nicht vollständig, aber zumindest in Teilen. Es hängt dann von der Europäischen Kommission ab, ob sie dies als ausreichend befindet, um die zurückgehaltenen Gelder des EU-Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“ zumindest teilweise an Polen auszuzahlen.    

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 4, Juli 2022, S. 20-23

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Mehr von den Autoren

Dr. Anna-Lena Kirch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.