Gemeinsam für globale Gesundheit
Wie eine EU-Strategie aussehen sollte und was Deutschland beitragen kann
Wenn es um das Engagement in Sachen globale Gesundheit geht, hat die EU noch deutlich Spielraum nach oben. Um das eigene Potenzial besser auszunutzen, sollte Brüssel mehr tun, sich besser abstimmen und neue Partnerschaften etablieren. Die deutsche Bundesregierung positioniert sich aktuell als treibende Kraft, um diesen Prozess voranzubringen.
In den vergangenen Jahren ist globale Gesundheitspolitik verstärkt in den Mittelpunkt der politischen Debatten in Berlin und Brüssel gerückt. In Expertenkreisen innerhalb der Vereinten Nationen, der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der OECD und der Europäischen Union wird das Thema schon länger diskutiert. Insbesondere durch die Ebola-Krise 2014/15 wurden globale Gesundheitsthemen auch für ein größeres Publikum sichtbar.
Gerade die Verknüpfung von Gesundheits- und nationalen Sicherheitsrisiken half dabei, dem Thema über entwicklungspolitische und „Public Health“-Zirkel hinaus eine breitere Aufmerksamkeit zu sichern. Internationale Schlagzeilen wie „Ebola crisis: Virus spreading too fast“ (BBC), „Ebola Virus Is Outpacing Efforts to Control It, World Health Body Warns“ (New York Times) oder „Gefährliches Virus: Ebola tötet tausende Menschen in Westafrika“ (Spiegel Online) waren deutliche Weckrufe. Der deutsche Diskurs orientiert sich seitdem vorrangig an den Gefahren grenzüberschreitender Gesundheitsrisiken und möglichen Vorkehrungsmaßnahmen für die Zukunft.
Berlins Gesundheitsschwerpunkte
Nachdem immer wieder Schlagzeilen die Runde gemacht hatten, die das Versagen der Weltgemeinschaft bei der Ebola-Bekämpfung thematisierten oder den Mangel an zukunftsgerichteten Risikoszenarien kritisierten, hat sich die deutsche Bundesregierung wiederholt und prominent zu globalen Gesundheitsthemen positioniert. Im Rahmen seiner G7- und G20-Präsidentschaft hat Berlin eine Agenda mit deutlichem Gesundheitsschwerpunkt vertreten.
Und auch im aktuellen Koalitionsvertrag ist dem Thema erstmalig ein ganzes Unterkapitel gewidmet. Der Konsultationsprozess zur darin angekündigten Erarbeitung einer neuen deutschen Strategie für globale Gesundheit unter Federführung des Gesundheitsministeriums hat bereits begonnen.
Deutschland widmet sich insbesondere Themen wie Antibiotikaresistenz, der Vorbeugung von Pandemien und der Stärkung von Gesundheitssystemen in Entwicklungsländern. Dabei geht es Berlin neben der Sorge um die eigene Bevölkerung darum, internationale Verantwortung im Kontext von Entwicklungspolitik und Sustainable Development Goals (SDGs) zu übernehmen. Angesichts einer US-Regierung, die Multilateralismus bewusst schwächt, hat sich die Bundesregierung außerdem der Stärkung funktionierender multilateraler Strukturen und Prozesse verschrieben. Im Koalitionsvertrag kündigt sie daher an, den Reformprozess der WHO aktiv zu unterstützen.
Begrenztes Engagement der EU
Trotz der offensichtlichen Dringlichkeit ist das Engagement für globale Gesundheit auf EU-Ebene immer noch begrenzt. Die aktuelle Strategie, Handlungsfähigkeit und Ressourcenausstattung bleiben hinter den Anforderungen und Erwartungen zurück. Es gilt, Antworten auf die veränderte Lage in der EU und das Erodieren multilateraler Strukturen zu finden.
Die derzeit gültige EU-Strategie für globale Gesundheit stammt aus dem Jahr 2010. Dem Thema wurde damals insbesondere durch die Influenza-Pandemie im Jahr 2009 gesteigerte Bedeutung beigemessen. Sowohl die Kommission als auch der Rat riefen die EU dazu auf, eine stärkere Rolle in der globalen Gesundheitspolitik zu spielen. In dem Konzept wurden vier Prioritäten identifiziert: inklusive Governance-Strukturen, weltweiter Zugang zu Gesundheitsversorgung, Kohärenz verschiedener Politiken und mehr universell zugängliche Forschung mit einem Mehrwert für möglichst viele. Nachhaltige Veränderungen blieben jedoch aus. Die auf Europa überschwappende Finanz- und Staatsschuldenkrise vereinnahmte in den 2010er Jahren die europäische Agenda über weite Strecken. Hinzu kamen zahlreiche gewaltsame Konflikte und Sicherheitsbedrohungen in der östlichen und südlichen EU-Nachbarschaft, die den europäischen Zusammenhalt schwächten und die Handlungsfähigkeit der EU weiter einschränkten. Globale Gesundheit geriet dadurch in den Hintergrund.
Außerdem trugen damals wie heute weitreichende strukturelle Schwächen bei der innereuropäischen Koordinierung dazu bei, dass die EU hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt. Das gilt sowohl für die Abstimmung innerhalb der europäischen Institutionen als auch für die Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten untereinander. Innerhalb der Europäischen Kommission etwa gelingt es den einzelnen Generaldirektionen nicht, ihre gesundheitsbezogenen Aktivitäten optimal zu bündeln. Zudem sind Länder wie Deutschland, Großbritannien und Frankreich nur bedingt bereit, ihr Engagement in EU-Strukturen zu kanalisieren, weil sie befürchten, dadurch ihre eigene globale Sichtbarkeit zu verringern. Somit gelingt es der EU bislang nicht, ihren Einfluss gegenüber globalen Mächten oder in multilateralen Foren wie den Vereinten Nationen oder der WHO bestmöglich geltend zu machen.
In der jüngeren Vergangenheit legte der Ebola-Krisenfall die weitreichenden operativen Schwächen der EU erneut offen. Die EU tat zu wenig, und das zu spät. Deutliche Probleme bei der EU-internen Abstimmung und der Mobilisierung von Personal und Ressourcen vor Ort traten zutage. In Westafrika war die US-Präsenz deutlich stärker als die europäische. Die Aktivitäten des „European Centre for Disease Prevention“ wirkten beinahe unscheinbar neben den finanziell und personell sehr gut ausgestatteten „US Centers for Disease Control and Prevention“.
Aufgrund des deutlichen Gefälles bei Ressourcen und Erfahrung ist die EU in vielerlei Hinsicht abhängig von den USA. Deshalb ist die Aussicht beunruhigend, dass Amerika sein finanzielles und operatives Engagement in entwicklungs- und gesundheitspolitischen Fragen deutlich senken könnte. Gleichzeitig sinkt innerhalb der EU die Verfügbarkeit von Finanzmitteln für Initiativen und Projekte mit Gesundheitsbezug. Das gilt für nationale Haushalte, aber auch für den EU-Haushalt. Der zurzeit diskutierte Kommissionsentwurf für den kommenden mehrjährigen Finanzrahmen etwa sieht kein separates Gesundheitsprogramm mehr vor. Außerdem verliert die EU mit Großbritannien ihren Vorreiter und mit Abstand größten Geldgeber im Bereich globaler Gesundheit. Betroffen davon sind Mittel für Entwicklungshilfe, aber auch Investitionen in relevante Forschung.
Eingeschränkte Kompetenzen
Die Kompetenzen der EU im Gesundheitsbereich sind begrenzt. Nach Artikel 168 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) hat die EU in Gesundheitsfragen nur eine ergänzende Funktion. Die Aufgabe der Europäischen Kommission ist daher im Wesentlichen auf koordinierende und vernetzende Aufgaben beschränkt. Gesetzgebung im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens ist dann möglich, wenn sie dazu beiträgt, Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Arzneimittel, Medizinprodukte oder den Umgang mit menschlichen Organen und Blut festzulegen.
Indirekt haben auch makroökonomische Steuerungsinstrumente wie das Europäische Semester oder Regulierungsmaßnahmen im Rahmen des europäischen Binnenmarkts Einfluss auf europäische und nationale Gesundheitspolitiken. Gleichzeitig ist die EU dazu angehalten, Gesundheitsaspekte in allen anderen Politikbereichen mitzudenken und die Förderung des allgemeinen Gesundheitsniveaus als übergeordnetes Ziel zu begreifen – Stichwort „Health in All Policies“.
Die Zuständigkeit für die praktische Organisation und Ausgestaltung nationaler Gesundheitssysteme liegt hingegen bei den Mitgliedstaaten. Es besteht also ein Ungleichgewicht zwischen weitreichenden Zielvorgaben und einem nur begrenzten EU-Instrumentarium. Hinzu kommen voneinander abweichende Interpretationen des rechtlichen Spielraums der Europäischen Union.
Vielversprechende europäische Initiativen der vergangenen Jahre waren die Einrichtung EU-weiter Netzwerke zur Erforschung und Diagnostik seltener Krankheiten (EU Reference Networks). Andere Schwerpunktthemen betrafen Digitalisierungsstrategien oder die Mobilität von Patienten und Arbeitskräften.
Während die Kompetenzen in der „Gesundheitsinnenpolitik“ limitiert sind, ist der rechtliche und politische Spielraum für globale Gesundheitspolitik breiter angelegt und speist sich aus verschiedenen Kompetenzgrundlagen über Artikel 168 AEUV hinaus. Dadurch erscheint das Politikfeld noch fragmentierter und unübersichtlicher. Neben den EU-Verträgen bietet die Agenda 2030 einen weiteren Bezugsrahmen für globale Gesundheitspolitik, der nicht nur die Zusammenarbeit mit Drittstaaten betrifft, sondern auch EU-interne Herausforderungen aufgreift.
So waren im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise zahlreiche Länder insbesondere in Süd- und Osteuropa zu weitreichenden Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen und Reformen des Wohlfahrtsstaats gezwungen. Daraus resultierten spürbar negative Konsequenzen für den Zugang zu und die Bezahlbarkeit von Arzneimitteln und medizinischen Behandlungen. Außerdem bleibt die Korrelation von sozialer Ungleichheit und Krankheit zwischen und innerhalb von EU-Staaten eine drängende Herausforderung. Soziale Ungleichheit – etwa aufgrund divergierender Bildungschancen – wirkt sich nicht nur negativ auf die Nachhaltigkeit sozialer Sicherungssysteme aus, sondern bremst auch die Handlungs- und Innovationsfähigkeit europäischer Gesellschaften.
Gesundheit und Entwicklung
Traditionell wurde globale Gesundheit innerhalb der EU häufig als Teilaspekt der entwicklungspolitischen Agenda begriffen. Die Europäische Kommission bemüht sich seit den 2000er Jahren darum, die Entwicklungspolitiken der EU-Mitgliedstaaten stärker zu koordinieren. Durch die Agenda 2030 entwickelt sich die EU weg von vorrangig bilateraler Gesundheitsförderung hin zu einer breiteren Agenda. Vorrangige Ziele sind die Stärkung von Gesundheitssystemen innerhalb und außerhalb der EU sowie die Gewährleistung einer universellen Gesundheitsversorgung.
Der EU steht eine Vielzahl regional differenzierter Instrumente zur Verfügung, um gesundheitsrelevante Projekte zu finanzieren und technisch zu unterstützen – etwa in den Aktionsplänen der Europäischen Nachbarschaftspolitik oder in bilateralen Abkommen mit anderen Nicht-EU-Staaten. So finanziert die Kommission die Errichtung von Frühwarnsystemen, die Optimierung von Entscheidungsprozessen oder eine bessere Vernetzung. Das Ziel einer universellen Gesundheitsversorgung umfasst daneben den Zugang zu Arzneimitteln sowie Strategien für die Finanzierung oder eine bessere Fachpersonalplanung.
Die zweite Säule globaler Gesundheit ist Gesundheitssicherheit. Das zuständige EU-Entscheidungsgremium ist der Ausschuss für Gesundheitssicherheit, der die Europäische Kommission und die EU-Staaten vereint. Viele EU-Initiativen zur besseren Handlungsfähigkeit im Krisenfall waren eine Reaktion auf fehlende Prozesse und Strukturen bei der Bekämpfung grenzüberschreitender Gesundheitsbedrohungen.
So gab es während der Influenza-Pandemie 2009 innerhalb der EU nicht genügend Impfstoffe. Benachteiligt waren insbesondere kleinere Staaten ohne starke Pharmaindustrie. Die EU schuf ein Verfahren, das im Notfall für eine transparente und gerechtere Verteilung von Impfstoffen unter den EU-Mitgliedern sorgt.
Ein weiteres Beispiel ist das Medical Corps, das infolge der Ebola-Krise errichtet wurde und weltweit in Krisengebiete entsandt werden kann. Im Kontext der Flüchtlingskrise stieß die EU außerdem unterstützende Maßnahmen an, um Flüchtlinge in nationale Gesundheitssysteme zu integrieren und finanziell besonders belastete Mitgliedstaaten zu unterstützen.
Ein dritter Schwerpunkt neben SDGs und Sicherheit sind Innovation und Handel. Dabei ergibt sich häufig ein natürliches Spannungsverhältnis zwischen den humanitären Zielen der globalen EU-Gesundheitsstrategie und nationalen sowie europäischen Wirtschaftsinteressen. Konkrete Interessenkonflikte bestehen etwa zwischen der Durchsetzung von geistigen Eigentumsrechten und der Verfügbarkeit kostengünstiger Generika, also Arzneimitteln, die den als Markenzeichen eingetragenen Präparaten in der Zusammensetzung gleichen.
Ein weiteres Beispiel sind fehlende wirtschaftliche Anreize für die Forschung zu seltenen Krankheiten oder solchen, die vor allem Personen und Länder mit sehr geringer Kaufkraft betreffen. Die EU bemüht sich daher einerseits darum, eigene Sicherheitsstandards und Normen in Freihandelsabkommen und multilateralen Abkommen zu etablieren. Andererseits unterstützt sie das Ziel universeller Arzneimittelzugänglichkeit unter Berufung auf die Doha-Vereinbarung von 2001, wonach Ausnahmeregelungen für Patentrechte im Falle medizinischer Krisen vorgesehen sind.
Aufgrund der fragmentierten Kompetenzverteilung innerhalb der EU spielen neben kommissionsgetriebenen Impulsen auch bilaterale Initiativen und Koalitionen der Willigen eine Rolle. Neben Großbritannien und Deutschland engagieren sich auch Länder wie Frankreich, die Niederlande, Belgien und die nordischen Staaten global. Allerdings unterscheiden sich die EU-Staaten sehr stark in ihrem Verständnis von globaler Gesundheitspolitik. Nur in Großbritannien, Frankreich und Deutschland gibt es globale, sektorübergreifende Gesundheitsstrategien, die über entwicklungspolitische Ziele hinausgehen. Diese Länder verfolgen einen Ansatz, der zusätzlich stark auf nationale Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen fokussiert ist. Bei anderen Mitgliedstaaten wie Belgien und Dänemark hingegen stehen entwicklungspolitische, menschenrechtsbasierte Ziele im Vordergrund.
Lange To-do-Liste
Auf dem Weg zu einer einheitlichen Gesundheitspolitik muss die EU folglich eine lange To-do-Liste abarbeiten. Zuallererst muss sie bestehende Schwächen bei der Koordinierung und der Ressourcenausstattung überwinden. Ein glaubhaftes entwicklungspolitisches Agieren nach außen verlangt außerdem nach verstärkten innereuropäischen Bemühungen, um soziale Ungleichgewichte zu reduzieren und universellen Zugang zu bezahlbarer medizinischer Behandlung und Medikamenten zu garantieren.
Um all diese Schritte bestmöglich zu bündeln, sind eine neue EU-Strategie und aktive mitgliedstaatliche Bemühungen nötig. Deutschland übernimmt in der zweiten Jahreshälfte 2020 die europäische Ratspräsidentschaft. Die Bundesregierung hat bereits wiederholt angekündigt, an die Schwerpunkte der G7- und G20-Präsidentschaften anzuknüpfen und globale Gesundheit prominent auf die EU-Agenda zu setzen. Die Erwartungen an Deutschland sind hoch, innerhalb der EU eine größere Führungsrolle einzunehmen und nationale Maßnahmen stärker an multilateral vereinbarten Zielen auszurichten.
Gleichzeitig wird die Bundesregierung nicht umhinkommen, sich auch EU-internen Gesundheitsherausforderungen zu stellen. Dazu zählen die negativen Auswirkungen des Brexit auf EU-Finanzen und bestehende Strukturen bei Zulassungsverfahren oder Forschungskooperationen. Britische Experten spielen in verschiedenen Foren und Netzwerken eine wesentliche Rolle.
Darüber hinaus verlangen die negativen strukturellen Folgen des demografischen Wandels und steigender Gesundheitskosten nach einer gemeinsamen strategischen Reaktion. Insbesondere viele kleine Mitgliedstaaten wie Malta, Belgien, Rumänien oder Estland befürworten in einigen Bereichen eine stärkere EU-Zusammenarbeit, um ihre komparativen Nachteile zu kompensieren. Innovative Formen einer themenabhängig flexiblen oder strukturierten Zusammenarbeit und die EU-interne Umsetzung der SDGs sind weitere Themen, die sich auf der deutschen Ratspräsidentschaftsagenda wiederfinden könnten. Die Bundesregierung wird an ihren Taten gemessen werden.
Anna-Lena Kirch arbeitet im Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen der DGAP und promoviert zum Thema „Subregionale Kooperationsformate in der EU“.
Internationale Politik 5, September-Oktober, 2018, S. 52 - 57