IP

01. Nov. 2020

Jenseits von 
Idealisierung und 
Entfremdung

Jüdisch-muslimische Beziehungen in Deutschland, Israel und den USA

Bild
Bild: Zeichnung des East-Western-Orchestras
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

W enige Beziehungen scheinen auf den ersten Blick so konfliktgeladen wie die jüdisch-muslimischen. Besonders der fortdauernde Nahost-Konflikt trägt dazu bei, dass das Verhältnis zwischen beiden Gemeinschaften angespannt ist. Beide Seiten sind geprägt von tiefen Ressentiments gegen den jeweils „Anderen“. Antisemitische Haltungen finden sich nicht nur in der Charta der Hamas, sondern auch in islamistischen Bewegungen, die „die Juden und Israel“ weltweit in ihren Predigten als „Strippenzieher“ brandmarken und zum ewigen Feind erklären.

Auf der anderen Seite finden wir jüdische Stimmen, die vor einer vermeintlichen „Islamisierung“ warnen – etwa in der Splittergruppe „Juden in der AfD“ oder in der Jüdischen Rundschau, die u.a. in verschwörungstheoretischer Manier über die „islamische Kooperation mit den Nazis“ berichtet.



Aller Schwierigkeiten zum Trotz gab es in den vergangenen Jahren vielfältige Versuche, die jüdisch-muslimischen Beziehungen auf eine feste und nachhaltige Grundlage zu stellen, teils mit Erfolg: Neben spektakulären Gesten wie dem Auschwitz-Besuch einer Delegation der Islamischen Weltliga mit dem American Jewish Committee gibt es auch in Deutschland zahlreiche Formate, um die jüdisch-muslimischen Beziehungen mit neuen Narrativen zu besetzen.



Darunter sind Podcasts wie das von der VolkswagenStiftung geförderte Projekt „Mekka und Jerusalem“ an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg und Veranstaltungen wie das „Jüdisch-muslimisch-feministische Festival“ in München. Hinzu kommen Begegnungsformate („Schalom Aleikum“ des Zentralrats der Juden) oder wissenschaftliche Tagungen wie die Konferenz „Juden und Muslime in Deutschland“ in München Anfang 2020.



Auch auf universitärer Ebene wird der Versuch unternommen, ein ganzheitliches Bild über den Nahen Osten und die sprachlichen, kulturellen sowie politischen Beziehungen zu vermitteln, etwa im neuen gemeinsamen Nahost-Masterstudiengang der Uni Heidelberg und der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg.



Von Amerika und Israel lernen

Was sind die besonderen Herausforderungen der jüdisch-muslimischen Beziehungen – und was können die muslimischen und jüdischen Gemeinschaften in Deutschland von anderen Vorbildern lernen? Im Folgenden wollen wir eine virtuelle Reise in drei unterschiedliche Kontexte unternehmen, in denen jüdisch-muslimische Beziehungen vor jeweils eigenen Herausforderungen stehen: Deutschland, Israel und die USA. Und auch wenn das Diktum der Religionswissenschaftlerin Mehnaz Afridi „Wir können uns nicht davor drücken, über Israel und Palästina zu sprechen – das wäre einfach unehrlich“ weiter gilt: Es wird dabei oft um ganz andere Fragen gehen als um den arabisch-israelischen Konflikt.



Einen erfreulichen Anstieg von jüdisch-muslimischen Kooperationen in Deutschland beobachtet Yasemin Soylu, Studienleiterin für „Muslimische Zivilgesellschaft“ bei Teilseiend e.V.: „Den Mut, aufeinander zuzugehen, nehme ich sehr stark wahr, zumindest bei zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich muslimisch oder jüdisch verorten.“ Nach und nach entstehen immer mehr Formate, die jüdischen und muslimischen Menschen mehr Sichtbarkeit verleihen. Natürlich bedeutet das nicht zwingend, dass sämtliche Formate bei beiden Glaubensgemeinschaften vollständige Akzeptanz finden; doch zumindest in Deutschland sind heute Veranstaltungen möglich, über die man vor zehn Jahren nicht einmal diskutiert hätte.



Soylu, die in Heidelberg derzeit mit Teilseiend e.V. eine Muslimische Akademie aufbaut, organisiert seit mehreren Jahren mit der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, dem Kulturhaus Karlstorbahnhof und dem Amt für Chancengleichheit die Jüdisch-Muslimischen Kulturtage. Entstanden ist das Projekt aus den Jüdischen Kulturtagen und den ersten Muslimischen Kulturtagen, die 2017 zusammengeführt wurden. Durch das Zusammenspiel von kultureller und politischer Bildung soll mehr Sichtbarkeit für jüdische und muslimische Individuen geschaffen werden: „Es geht uns nicht darum, den jüdischen Autor X oder den muslimischen Schauspieler Y zu finden. Es geht darum, Kunst- und Kulturschaffenden eine Bühne, eine Plattform zu geben, auf der sie sich mit ihren vielfältigen Identitäten wiederfinden“, so Yasemin Soylu.



Bei den Jüdisch-Muslimischen Kulturtagen gelingt das durch Filme, Musik, Stadtführungen oder durch Fachvorträge und Podiumsdiskussionen. Soylu betont, dass dadurch Räume geschaffen werden, in denen Aushandlungsprozesse stattfinden und in denen man sich auch darüber austauschen kann, worin man uneins ist – etwa im Rahmen der Fachtagung „Jüdische und muslimische Positionen zur Gegenwart“ oder bei Stadtführungen unter dem Motto „Muslimisches/jüdisches Leben in Heidelberg“, die vergangenes Jahr im Rahmen der Kulturtage stattfanden.



Damit solche Veranstaltungen keine einmaligen Ereignisse bleiben, möchte man Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft mitnehmen und auf Stereotype gegenüber der jüdischen und muslimischen Gemeinschaft aufmerksam machen. Führt man sich vor Augen, dass es in Deutschland rund 99 000 Jüdinnen und Juden gibt (0,1 Prozent der Gesamtbevölkerung) und 4,4 bis 4,7 Millionen Musliminnen und Muslime (5,4 bis 5,7 Prozent der Gesamtbevölkerung), dann erscheint das besonders wichtig.



Dass es antisemitische Ressentiments auch innerhalb der muslimischen Gemeinschaften gibt, lässt sich nicht leugnen; es ist allerdings nur ein Ausschnitt aus den jüdisch-muslimischen Beziehungen, und es ist kein vornehmlich muslimisches Problem. So sind laut einer aktuellen Statistik des Bundesinnenministeriums 93,4 Prozent der antisemitischen Straftaten rechtsextrem motiviert und im Vergleich zu 2018 um 13 Prozent gestiegen. Dasselbe lässt sich auch für islamfeindliche Verbrechen beobachten, die zu 90,1 Prozent rechtsextrem motiviert und um 4,4 Prozent gestiegen sind.



Wer sind „wir“ und wer sind „die“?

„Am Anfang haben wir sehr brutal Stereotype und Vorurteile gebrochen. (…) Intern hat sich das Bild des anderen dann auf einmal verschoben. Säkulare Juden haben gemerkt, dass sie eher mit säkularen Muslimen auf einer Linie sind als mit den religiösen aus der eigenen Gemeinschaft. Es gab viele Themen, wo auf einmal der Konsens mit der anderen Gruppe viel stärker war als mit der eigenen. Dann hat sich natürlich auch das Bild verschoben: Wer sind jetzt wir und wer sind die?“ So beschreibt Ilja Sichrovsky den Kern der Muslim Jewish Conference (MJC). Sichrovsky ist Gründer und Generalsekretär der MJC, einer jährlichen sechstägigen Konferenz, die 2015 und 2016 in Berlin stattfand und dort über 160 junge muslimische und jüdische Menschen aus mehr als 65 Ländern zusammenbrachte.



Die Non-Profit-Organisation möchte nun ihren Sitz von Wien nach Berlin verlegen, um dort u.a. eine „Jüdisch-Muslimische Allianz“ zu gründen. Ziel ist es, sich zu institutionalisieren und somit unabhängig und für alle Altersgruppen agieren zu können. Angefangen hat Sichrovsky, als er 2009 für die Universität Wien auf einer internationalen Konferenz seine ersten längeren und tiefgehenden Gespräche mit Muslimen führte. Dort bemerkte er, dass er als junger europäischer Jude bisher keinen Kontakt zu muslimischen Menschen hatte.



Nun organisiert er seit 2010 die internationale Muslim Jewish Conference: „2010 war jüdisch-muslimischer Dialog genauso aktuell wie Ufos. Das war nichts, was in irgendeiner Weise auf der Tagesordnung stand, weder in jüdischen noch in muslimischen Organisationen oder in der Mehrheitsgesellschaft.“ Es habe keine geeignete Plattform gegeben, um offen miteinander zu sprechen. Der Redebedarf sei aber bereits groß gewesen: „Diese Neugier, endlich die Chance zu haben, alles, was du einen Juden oder Muslimen fragen wolltest, aber nie konntest.“



Um über den Nahost-Konflikt oder andere polarisierende Themen zu sprechen, müsse man zuerst eine gemeinsame Sprache finden und Vertrauen aufbauen. Auf der Konferenz wurde der Nahost-Konflikt nicht ignoriert, sondern u.a. durch Gastredner*innen aus der Region thematisiert, wie Sichrovsky berichtet: „… meistens Vertreter von Familien, die Menschen in dem Konflikt verloren haben. Da sind Brüder, Söhne, Väter und Töchter gestorben und die sitzen dann vor dieser Gruppe junger Studierender und sagen ihnen mit ihrer Erfahrung, dass die Quintessenz dessen, was sie durchgemacht haben, genau das ist: dass sie jetzt nebeneinander sitzen und miteinander reden. Und was soll unsere Ausrede dafür sein, wenn wir es nicht tun?“



Jedes Jahr kamen Jugendliche von der Konferenz zurück und trugen ihre Erfahrungen in ihre Gemeinden, Organisationen oder Städte. Im Rahmen der Konferenz fanden Besuche in Srebrenica (Bosnien) und im Konzentrationslager Mauthausen (Österreich) statt. Für Sichrovsky war es ein herausragender Moment, als Muslime aus 40 Ländern in einem Konzentrationslager das muslimische Gebet für die Verstorbenen sprachen. Dies habe ihm die Möglichkeit gegeben, an einem solchen Ort Zugang zu einer ganz neuen Emotionalität zu finden.



„Goldenes Zeitalter“ der Koexistenz

Das gemeinsame Erinnern an die Vergangenheit beider Gemeinschaften ist auch für die Religionswissenschaftlerin Afridi ein zentraler Punkt, um zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit zu gelangen. Und: „Als es unter der Trump-Regierung den Einreisestopp für viele muslimische Länder gab“, fügt sie an, „haben mehr Juden als Muslime demonstriert.“



In den USA sind jüdisch-muslimische Kooperationen kein Neuland mehr. Als muslimische Direktorin des interreligiösen Bildungszentrums für Erziehung über den Holocaust und andere Völkermorde (angesiedelt am Manhattan College) beobachtet Afridi allerdings, dass sich beide Gruppen oft in der Sehnsucht nach vermeintlich „idealen“ Epochen der Koexistenz verlieren. So diene etwa das sogenannte „Goldene Zeitalter“ des islamischen Al-Andalus von 711 bis 1492 als Beispiel für eine „perfekte“ und tolerante Zeit, in der alle drei Religionen „in Harmonie“ lebten.



In ihrem Buch „Shoah through the Muslim Eyes“ thematisiert Afridi das Problem der Schoah-Relativierung innerhalb vieler muslimischer Gemeinschaften. Es herrsche Unwissenheit unter Muslim*innen, was die Schoah betreffe. Oft unternehme man einen Vergleich, um die Probleme und das Leid heutiger Muslim*innen zu verdeutlichen: „Es gibt immer diesen Vergleich, der wirklich schwach ist – mein Leiden ist größer als dein Leiden. So können wir keinen Dialog und Frieden haben.“ Umgekehrt erlebe sie allerdings auch oft Vorwürfe seitens jüdischer Gemeinschaften, die sich unter dem Eindruck von ethnischen Konflikten oder islamistischen Terroranschlägen von muslimischen Menschen distanzieren.



Zwischen den USA und Europa sieht sie erhebliche Unterschiede, was die jüdisch-muslimischen Beziehungen angehe. Das liege nicht so sehr an der unterschiedlichen Größe der Minderheiten, obgleich die jüdische Minderheit in den USA anders als in Europa mit 6,9 Millionen Menschen deutlich größer ist als die muslimische (3,45 Millionen). Es hat eher mit der amerikanischen Identität zu tun, die beide Gemeinschaften trotz unterschiedlicher religiöser Verankerung teilen. Jüdische Amerikaner*innen gehen für muslimische Menschen nicht nur auf die Straße, sie engagieren sich auch für Minderheitenrechte in vielen Konflikten, etwa in Myanmar, dem Südsudan oder in Xinjiang.



Natürlich gebe es dennoch Antisemitismus unter muslimischen und Islamophobie unter jüdischen Menschen, so Afridi. Der Antisemitismus sei dabei in den USA ein größeres Problem als Islamophobie; er sei jedoch nicht nur Muslim*innen zuzuschreiben, sondern komme vermehrt aus den Reihen weißer Nationalisten. In der Statistik des US-Justizministeriums von 2018 waren 59,6 Prozent der Opfer aufgrund ihrer ethnischen und 18,7 Prozent aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit von sogenannter Hasskriminalität betroffen. Hier waren 53 Prozent der Täter*innen weiß, wohingegen nur 24 Prozent schwarz und 12,9 Prozent als „unbekannt“ eingestuft wurden. Taten gegen jüdische und muslimische Menschen sind auch unter „Race“ einzuordnen, da etwa das Judentum nicht nur eine Religion, sondern auch eine Ethnie ist und Muslim*innen zum Beispiel auch oft durch ihre Hautfarbe Opfer von Hasskriminalität werden.



Ari Gordon, Direktor für jüdisch-muslimische Beziehungen beim American Jewish Committee (AJC), betont deshalb, dass sowohl die muslimischen als auch die jüdischen Gemeinschaften ausgesprochen divers sind und in ihrem jeweiligen kulturellen Kontext verstanden werden müssen. So könne man etwa türkisch-amerikanische und afroamerikanische Muslim*innen nicht gleichsetzen, wenn man eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen wolle. Nichtsdestotrotz ließen sich aber gemeinsame Narrative entwickeln.



Wie Verständigung gelingen kann

Durch die Corona-Pandemie, die Black-Lives-Matter-Proteste und das US-Wahljahr sind die Beziehungen derzeit auf eine intensive Probe gestellt. Viele Politiker*innen haben versucht, beide Gemeinschaften zu polarisieren und auf ihre jeweilige Seite zu ziehen. Doch Institutionen wie das AJC verstehen sich als strikt unpolitisch. Religiöse und nationale Identität sollten Ari Gordon zufolge nicht im Konflikt miteinander stehen. Der starke Zwang zur Positionierung hinsichtlich des Nahost-Konflikts setze jüdische und muslimische Menschen erheblich unter Druck. Dennoch gelte für große Teile der amerikanischen Jüdinnen und Juden: „Die meisten Juden haben Sympathie für die Palästinenser und wollen einen Staat für sie, so wie sie einen Staat für die Juden wollen.“



Beim diesjährigen AJC Global Forum, das 75 Jahre nach dem Krieg in Berlin stattfinden sollte, waren neben anderen zwei besondere Sprecher eingeladen: Mohammed Al-Issa, Generalsekretär der Muslimischen Weltliga, und Anwar Gargash, Staatsminister für auswärtige Angelegenheiten in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Zudem veranstaltete AJC in Kooperation mit der Muslim World League im Januar einen Besuch in Auschwitz-Birkenau, an der eine Delegation mit etwa 60 muslimischen Saudis teilnahm.



Ari Gordon beschreibt, wie religiöse Führungskräfte aus Saudi-Arabien bei diesem Anlass mit jüdischen Menschen der Schoah gedachten und am nächsten Tag bei einer Schabbat-Feier jüdisches Leben würdigten: „Als Enkel von Holocaust-Überlebenden glaube ich nicht, dass sich meine Großeltern, wenn sie noch am Leben gewesen wären, hätten vorstellen können, dass die Welt so aussehen würde.“



Verständigung kann also gelingen, wenn man Persönlichkeiten zusammenbringt, die Zeichen setzen. Allerdings unterscheidet sich der amerikanische Kontext gesellschaftlich und politisch deutlich vom deutschen und vom israelischen. Beim letzteren scheint der Konflikt unausweichlich. Viele Beobachter*innen gingen davon aus, dass jüdische und muslimische Menschen in Israel in großer Feindschaft zueinander lebten und gute Beziehungen quasi unmöglich seien, sagt Arik Rudnitzky, Projektmanager beim Konrad-Adenauer-Programm für Jüdisch-Arabische Zusammenarbeit an der Universität Tel Aviv. Rudnitzky sieht die zentrale Herausforderung bei der Forschung zu jüdisch-muslimischen Beziehungen in der Bewältigung eines nationalen Konflikts.



Immerhin: Trotz der Tatsache, dass beide Glaubensgemeinschaften sich als die eigentlich „indigene“ Bevölkerung des Territoriums ver-stünden, wachse derzeit bei einigen Gruppen die Bereitschaft, die andere Position zu verstehen. Auf persönlicher Basis und im Alltagsleben spiele der Konflikt oft keine große Rolle, und es gebe viele Beispiele dafür, dass jüdisch-muslimische Kooperationen gelingen können. Gerade aufgrund der schwierigen Lage wegen Covid-19 plädieren beide Gemeinschaften für mehr interreligiöse Solidarität. Einschränkend fügt Rudnitzky hinzu: „Leider sind Islamophobie und Antisemitismus in unserer Welt der Ereignisse nach 9/11 eine Realität. Damit müssen wir uns auseinandersetzen.“



Antimuslimische und antisemitische Ressentiments werden insbesondere dann greifbar, wenn im April/Mai die jüdische Mehrheitsgesellschaft ihren Unabhängigkeitstag feiert, der für die Palästinenser als „Nakba“-Tag (deutsch: Katastrophe) gilt. Auch in der Universität Tel Aviv kommt es während dieser Zeit zur Polarisierung. Das ändere aber nichts daran, dass beide Gruppen sich im Universitätsalltag mit denselben Problemen beschäftigen müssten, meint Rudnitzky. Der Uni-Campus sei eine gute Möglichkeit, mehr Begegnungen zu schaffen und die andere Gemeinschaft im Alltagsleben näher kennenzulernen.



Gleichberechtigt statt nur nebeneinander

Eine friedliche Koexistenz zwischen jüdischen und arabisch-palästinensischen Israelis ist auch für Mohammad Darawshe ein wichtiges Ziel. Der Direktor des Zentrums für Gleichberechtigung und gemeinsame Gesellschaft „Givat Haviva“ weist allerdings darauf hin, dass es den arabisch-palästinensischen Bürger*innen um mehr gehe: um gesellschaftliche Gleichberechtigung. Am Givat Haviva versucht Darawshe, bestehende Hierarchien in der israelischen Gesellschaft abzubauen.



Die Mehrheit der arabisch-palästinensischen Israelis sind Darawshe zufolge nicht mehr nur daran interessiert, „gemeinsam Hummus und Falafel zu essen“: „Wir können einander zustimmen oder widersprechen, uns mögen oder nicht mögen, trotzdem haben wir gemeinsame Interessen. Wir teilen dieselbe Wirtschaft, dieselbe Umwelt, dieselbe Regierung, denselben öffentlichen Verkehr, dasselbe Bildungssystem, denselben Arbeitsmarkt. Wie schaffen wir es, dass es trotz unserer Meinungsverschiedenheiten funktioniert?“

Auch die Tatsache, dass sowohl jüdische als auch muslimische Menschen an gewissen Konzepten festhalten, die für sie wahr und nicht verhandelbar sind, lässt sich für Darawshe in ein Dialogkonzept einbinden: Man müsse nicht immer einer Meinung sein und könne dennoch im Gespräch bleiben („agree to disagree“).



Neben der Förderung guter Beziehungen zwischen jüdischen und muslimischen Gemeinschaften ist aus Darawshes Sicht die Gleichberechtigung auf sozialer, wirtschaftlicher und politischer Ebene essenziell, um die jüdisch-muslimischen Beziehungen in Israel auf eine solide Grundlage zu stellen. Früher habe man nur auf die politische Bildung gesetzt, doch heute gehe es auch um einen Wandel der Politik. Die zivilgesellschaftliche Mobilisierung (bottom up) sei zwar wichtig, greife jedoch nicht schnell genug, wenn nicht von politischer Seite (top down) gewisse Änderungen erfolgten.



Am Zentrum Givat Haviva wurden in den vergangenen Jahren neben vielen anderen zwei Projekte entwickelt: der „Wegweiser für eine gemeinsame Gesellschaft“, der Ziele für eine inklusive und gleichberechtigte israelische Gesellschaft festlegt, sowie ein Schulprojekt, in dem jüdische Lehrer*innen in arabischsprachigen Schulen und arabische Lehrer*innen in hebräischsprachigen Schulen des Landes unterrichten. „Man normalisiert die Anwesenheit des anderen“, sagt Darawshe, „ohne dass man ein Thema daraus machen muss. So bekämpft man Extremismus, man entwickelt einen anderen Lebensstil.“



Starke Bündnisse

Um die Metaebene der verschiedenen nationalen Kontexte und Interaktionsformen besser nachvollziehen zu können, wurden in diesem Beitrag die jüdisch-muslimischen Beziehungen anhand dreier Länder (USA, Deutschland und Israel) skizziert. Deutlich wurde dabei, dass viele Projekte und Akteur*innen der jüdisch-muslimischen Beziehungen über das Stadium eines unreflektierten „Kuschelkurses“ weit hinaus sind. Heute möchte man stabile Beziehungen aufbauen, die es ermöglichen, von Angesicht zu Angesicht über aktuelle und künftige Herausforderungen zu sprechen. Ein Dialog, der auf dem Konzept „Imam trifft Rabbi“ beruht, ist nicht für jeden ansprechend.



In Israel lag der Fokus auf den Beziehungen im Schatten des Nahost-Konflikts, in den USA auf den Mehrheits-Minderheitsbeziehungen sowie den hybriden Identitäten (Jewish-American/Muslim-American) und in Deutschland auf der Entstehung neuer Solidaritätsformen und Allianzen zwischen jüdischen und muslimischen Gemeinschaften.



Die Arbeit des American Jewish Committee in den USA zeigt, dass die Institutionalisierung und Vernetzung von großen Organisationen unausweichlich sind, insbesondere wenn hier zivilgesellschaftliche und diplomatische Beziehungen ineinandergreifen. In Israel versucht Givat Haviva nicht nur Bildungsarbeit zu leisten, sondern auch das Prinzip der Gleichberechtigung auf politischer Ebene zu etablieren.



In Deutschland sind in den vergangenen Jahren bemerkenswerte Ansätze entstanden, allerdings befindet sich vieles noch im Aushandlungsprozess. Grund dafür sind unter anderem die soziopolitischen Unterschiede zwischen Deutschland und den USA, der unterschiedliche Umgang mit der Konstruktion nationaler hybrider Identitäten und das alarmierende Ansteigen von Hasskriminalität und rechtsextremen Attentaten.



Die Tatsache, dass jüdisches Leben in Deutschland oft nur mit Stolpersteinen oder Gedenktafeln in Verbindung gebracht wird, oder die Diskussionen darüber, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht, erschweren es vielen jüdischen und muslimischen Menschen, neue Narrative zu gestalten, die über Fragen der bloßen Zugehörigkeit oder Ausgrenzung hinausgehen.

Doch was bedeutet das für die Zukunft der jüdisch-muslimischen Beziehungen? In Deutschland müssten demnach muslimische und jüdische Akademien kooperieren und von mehrheitsgesellschaftlichen Einrichtungen Zuspruch erhalten. Interreligiöse Kooperationen müssen institutionalisiert sowie bildungspolitisch nachhaltig gefördert und gepflegt werden. Nach dem Vorbild des AJC in den USA und von Givat Haviva in Israel müssen hier sowohl Führungskräfte als auch einzelne Multiplikator*innen aus beiden Gemeinschaften kooperieren und aktiv agieren.



„Halle“, „Hanau“ und der kürzliche Angriff auf einen jüdischen Studenten vor einer Hamburger Synagoge zeigen, welche Auswirkungen rechtsextreme Ressentiments auf unser gesellschaftspolitisches Leben haben, sowohl für jüdische als auch für muslimische Menschen in Deutschland.



Um es mit Ari Gordons Worten zu sagen: „Was uns zusammenbringt, ist weitaus erschreckender als das, was uns trennt.“ Diese Feststellung bietet viele Schnittpunkte, mit denen ein Anfang gemacht wurde; jetzt heißt es, diese Beziehungen auszuweiten und zu stärken.

 

Beyza Arslan absolvierte in Heidelberg ihr Bachelor- und Masterstudium in Kulturmittlung, Interkultureller Kommunikation und Vergleichender Sprachwissenschaft. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg am Podcast-Projekt „Mekka und Jerusalem (gefördert von der VolkswagenStiftung). Der Podcast entsteht zudem in Zusammenarbeit mit dem HR und thematisiert die jüdisch-muslimischen Beziehungen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 2, November 2020, S. 28-35

Teilen