It’s the economy, Tayyip!
Die Türkei profitiert von der Zollunion. Das verleiht der EU Handlungsspielraum
Der türkische Staats- und Parteichef Recep Tayyip Erdogan und seine AKP sind mit der Europäischen Union groß und mächtig geworden. Zugleich stieg aber auch ihre Abhängigkeit von der Gemeinschaft. Käme es wirklich zum Bruch, dann hätte die Türkei deutlich mehr zu verlieren als die EU.
Je mehr sich die Spannungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei verstärken, desto mehr geraten die Wirtschaftsbeziehungen in den Blick. Brüssel und die EU-Mitgliedstaaten haben erkannt, dass gutes Zureden sowie politische, diplomatische und juristische Versuche der Einflussnahme wenig fruchten, um Ankara zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte zurückzuführen. Deshalb versucht man es jetzt mit wirtschaftlichen Mitteln.
Das Arsenal ist umfangreich. Da sind an erster Stelle die Beitrittsgespräche zu nennen, doch ist deren Drohpotenzial weitgehend verpufft. Weder in Europa noch in Kleinasien glaubt ernsthaft jemand an eine baldige Aufnahme der Türkei. Ankara fordert zwar die Eröffnung neuer Verhandlungskapitel, ignoriert dabei aber stets, dass schon dieser Schritt an Wohlverhalten geknüpft ist. De facto liegen die Gespräche auf Eis, das Europaparlament und einige Mitgliedstaaten wie Österreich fordern auch das formale Ende des Aufnahmeprozesses.
Ein solches offizielles Aus hätte eine finanzielle Weiterung, denn nur dann könnten die so genannten Instrumente für Heranführungshilfe oder Vorbeitrittshilfen eingestellt werden (Instruments for Pre-Accession Assistance / IPA). Im Moment ist es zur Verwunderung vieler Politiker und Steuerzahler noch so, dass diese Mittel weiterfließen, obgleich kaum Aussicht besteht, dass der Kandidat jemals aufgenommen wird.
Die EU-Kommission spielt die Bedeutung dieser Assistance herunter. Vertraglich gebunden seien in der gegenwärtigen IPA-II-Periode von 2014 bis 2020 nur 230 Millionen Euro, geflossen seien gerade einmal 190 Millionen. Allerdings hat man der Türkei fast 1,7 Milliarden Euro für konkrete Vorhaben schon fest zugesagt. Das sind annähernd 40 Prozent des IPA-II-Gesamtrahmens von 4,45 Milliarden Euro. Diese Zahlungen können in der Regel nicht mehr gestoppt werden. Nicht zu vergessen, dass eine weitere Milliarde von IPA I vertraglich zugesichert ist. In jener Zeit, zwischen 2007 und 2013, kamen 3,5 Milliarden Euro zur Auszahlung für einen Beitrittskandidaten, der nicht beitritt.
Der Wegfall solcher Zahlungen würde das Regime von Staats- und Parteichef Recep Tayyip Erdogan aber höchstens verärgern. Selbst wenn alle IPA-II-Mittel zur Auszahlung gelangten, machten sie nicht einmal 0,1 Prozent der türkischen Wirtschaftsleistung aus – das Bruttoinlandsprodukt lag 2016 bei 740 Milliarden Euro.
Neuausrichtung der Türkei-Politik
Was die Türkei wirtschaftlich viel mehr schmerzen würde, wären Rückschläge im Handel, bei den Investitionen und in der Reisetätigkeit aus Europa. Trotz aller Rückgänge ist die EU in all diesen Feldern noch immer der entscheidende Partner. Daran ändern auch Ankaras engere Beziehungen zu Russland, China und den arabischen Staaten nichts.
Jüngsten Zahlen zufolge entfallen auf die EU-Länder noch immer 40 Prozent des Außenhandels. Ihre Unternehmen bringen zwei Drittel der Direktinvestitionen auf und stellen ein Drittel aller Türkei-Urlauber. Exportweltmeister Deutschland wickelt fast jeden zehnten Euro des türkischen Handels ab. Auch jede zehnte ausländische Firmenniederlassung stammt aus Deutschland. Das Investitionsvolumen seit 1980 summiert sich auf nahezu 12,5 Milliarden Dollar. Auch das ist ein Rekord. Im Mai stellten die Deutschen auch wieder die größte ausländische Touristengruppe hinter den Russen.
Diese Spitzenstellung erklärt, warum Ankara so sensibel reagierte, als im Juli Außenminister Sigmar Gabriel eine „Neuausrichtung“ der Türkei-Politik ankündigte. Denn diese Einschnitte betreffen vor allem die Wirtschaft. Der Politiker reagierte scharf auf die Festnahme des deutschen Menschenrechtlers Peter Steudtner und anderer Personen in der Türkei. Da deutsche Staatsbürger offenbar Gefahr liefen, ohne Rechtsgrundlage und konsularischen Beistand in Gewahrsam zu geraten, forderte Gabriel Unternehmen und Reisende zu großer Vorsicht auf. „Man kann niemandem zu Investitionen in einem Land raten, wenn es dort keine Rechtssicherheit mehr gibt und sogar Unternehmen in die Nähe von Terroristen gerückt werden“, sagte der Vizekanzler. In der Türkei gebe es „willkürliche Enteignungen aus politischen Motiven“, weshalb Berlin Geschäftsengagements dort nicht länger garantieren könne.
Aus diesem Grund werde die Bundesregierung die Exportabsicherung durch Hermes-Bürgschaften überdenken und die Europäische Förderbank EIB auffordern, bei Investitionskrediten „sehr genau hinzuschauen, was geht und was nicht“. Da auch Reisende „vor willkürlichen Verhaftungen nicht mehr sicher sind“, passe das Auswärtige Amt die Sicherheitshinweise für die Türkei der neuen Lage an. Im Klartext war das eine Warnung an Investoren und Touristen, die Finger von der Türkei zu lassen.
Gabriel reagierte damit auch auf eine ominöse Liste mit 681 deutschen Unternehmen und Einrichtungen, die türkische Sicherheitsbehörden an das Bundeskriminalamt geschickt hatten. Auf dem Papier standen Dax-Konzerne wie Daimler und BASF, aber auch Edeka, die Messe Berlin und die Universität Stuttgart, die Ankara der „Terrorunterstützung“ bezichtigte. Ein solcher Vorwurf bezieht sich – wenn nicht die kurdische PKK oder der IS gemeint sind – auf Kontakte zur Gülen-Bewegung, welche die Regierung für den Umsturzversuch vom Juli 2016 verantwortlich macht.
In einem Begleitbrief der türkischen Interpol-Dienststelle hieß es, gegen die Deutschen werde ermittelt und man erbitte von den Wiesbadener Kollegen Einzelheiten über die genannten Institutionen. Kaum hatte Gabriel in seiner Brandrede darauf Bezug genommen und seine Wirtschaftsdrohungen ausgesprochen, knickte Ankara ein. Die Polizei zog die Liste zurück, sprach von einem Missverständnis und bestritt entgegen erster Angaben, dass es Untersuchungen gegen die Deutschen gebe.
Innenminister Süleyman Soylu telefonierte eigens mit seinem deutschen Kollegen, Thomas de Maizière, um die Sache aus der Welt zu schaffen. Soylu gilt als Erdogan-Vertrauter und Hardliner im Umgang mit dem Westen. Im März hatte er damit gedroht, den Flüchtlingsvertrag mit der EU aufzukündigen und jeden Monat 15 000 Migranten Richtung Europa zu „schicken“. Zudem beschuldigte er Deutschland und die Niederlande, hinter den Gezi-Protesten von 2013 und dem Umsturzversuch von 2016 zu stecken.
Warum die deutschen Einrichtungen ins Visier geraten sind, ist unklar. Dem zweiten Interpol-Brief zufolge unterhielten sie Geschäftskontakte mit türkischen Unternehmen, gegen die die dortige Polizei vorgeht; es war von 142 verdächtigen Betrieben die Rede. Es könnte aber auch sein, dass die Behörden verärgert sind über die Weigerung der deutschen Wirtschaft, sich an einer großangelegten Werbekampagne zu beteiligen. Mit diesem millionenschweren PR-Feldzug in ausländischen Medien versuchen das türkische Wirtschaftsministerium sowie die Verbände TIM und TOBB, Investoren und Touristen ins Land zu bringen. Daran beteiligen sich 15 internationale Unternehmen, darunter Novartis, Danone, BNP Paribas, Glaxo Smith Kline, GE, Ford, Toyota und Hyundai. Deren Landeschefs in der Türkei loben das Land in Annoncen und Fernsehspots als sicheren, verlässlichen Standort, dem sie auch in Zukunft die Treue halten wollen.
Deutsche Unternehmen haben sich an der Aktion nicht beteiligt. Weil die Bundesrepublik aber der wichtigste Wirtschaftspartner ist, verfielen die Initiatoren auf einen Trick: Sie konstruierten ein Interview mit dem stellvertretenden Geschäftsführer der Deutschen Handelskammer in Istanbul, das nie stattgefunden hat. Die getürkte Lobpreisung des Wirtschaftsstandorts, Fake News par excellence, erschien als Anzeige in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Deutschlands härtere Haltung
Diese Erfahrungen lehren drei Dinge: Wirtschaftlicher Druck funktioniert. Für die Türkei sind die deutsche Geschäftswelt und der deutsche Reisemarkt sehr bedeutsam. Und Ankara reagiert fast panisch, wenn sich deutsche Politik in Wirtschaftsfragen einmischt, sodass Unternehmen nicht mehr allein ihren Interessen folgen können. Denn diese können sich im Erdoganismus ebenso gut einrichten wie in den Autokratien in China, Saudi-Arabien oder Russland. Deutlich wurde das nach dem Verfassungsreferendum zur Einrichtung eines Präsidialsystems am 16. April. Als sich herausstellte, dass Erdogan die Abstimmung für sich entschieden hatte, stiegen die Kurse an der Börse in Istanbul und die zuvor arg gebeutelte Landeswährung Lira gewann deutlich an Wert. Viele Investoren, Handelspartner und Reisende sind seitdem zurückgekehrt, weil sie vom türkischen Staat vor allem eines erwarten: Stabilität.
Seit Erdogan und die AKP fester denn je im Sattel sitzen, scheint die Regierung verlässlicher für Unternehmen geworden zu sein. Dass der Preis dafür Einschränkungen in Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Pluralismus sind, können Geschäftsleute und auch viele Touristen hier genauso gut verkraften wie in anderen zweifelhaften Staaten. Das gilt aber viel weniger, wenn das Heimatland, zum Beispiel Deutschland, seine schützende Hand über Handel, Investitionen und Reisen zurückzieht und explizit vor dem Zielland warnt.
Berlins härtere Haltung färbt auf die gesamte EU ab. In Brüssel und den übrigen Mitgliedstaaten beginnt man zu begreifen, dass die Wirtschaft der einzige wirksame Hebel sein könnte, um Erdogans Allein- und Willkürherrschaft aufzuhalten. Der Präsident suggeriert seinen Landsleuten und dem Ausland gern, die Türkei sei den westlichen Ländern ebenbürtig und daher in einer starken Verhandlungsposition. Das mag für die Militärmacht des zweitgrößten NATO-Partners gelten und auch für den Flüchtlingsdeal. Wirtschaftlich betrachtet aber ist die Türkei eher ein Zwerg.
Beim Bruttoinlandsprodukt rangiert das Land in der Welt nur an Rang 17; fünf EU-Staaten sind schon für sich genommen ökonomisch erfolgreicher. Vor allem Deutschland, das etwa genauso viele Einwohner wie die Türkei zählt, dessen Wirtschaft aber, nominal betrachtet, viermal so groß ist. Die Bundesrepublik ist der mit Abstand wichtigste bilaterale Handelspartner der Türkei. Umgekehrt schafft diese es lediglich auf Platz 17.
Die EU ist der bedeutendste Wirtschaftsraum hinter den USA. Auch kaufkraftbereinigt steht sie an Platz zwei, dann allerdings hinter China. Selbst in dieser Betrachtung kommt die Türkei bestenfalls auf ein Zehntel des europäischen und die Hälfte des deutschen BIP-Werts. Daraus wird deutlich, wie selbstbewusst die EU in Wirtschaftsfragen auftreten könnte. Sie hat bereits mehrfach versucht, diesen Trumpf in den Beitrittsverhandlungen auszuspielen, indem sie die Fortschritte an Rechtsstaatsklauseln knüpfte. Doch das konnte den Verhandlungspartner relativ kalt lassen, da er wirtschaftlich gar nicht auf die Aufnahme angewiesen ist.
Der Grund ist: Die Türkei befindet sich ja schon in einer Zollunion mit der Gemeinschaft. Die besteht seit Ende 1995 und sorgt dafür, dass Industriegüter von Zöllen befreit sind. Diese machen 95 Prozent des gemeinsamen Handels aus, sodass in diesem Feld bereits weite Teile der Vollmitgliedschaft gelten. Die Auswirkungen der Zollunion für die Türkei sind enorm. Seit die Vereinbarung in Kraft ist, hat sich der Warenaustausch mit der EU vervierfacht, weite Teile des türkischen Wohlstands hängen von diesen Beziehungen ab.
Der Regierung ist sehr daran gelegen, den bestehenden Vertrag auszuweiten und Dienstleistungen, Agrarprodukte sowie öffentliche Ausschreibungen einzubeziehen. Die Effekte könnten immens sein: Das Ifo-Institut hat berechnet, dass die Ausweitung der Zollunion zu einem Anstieg der türkischen Wirtschaftskraft um 1,8 Prozent führen würde. Die Agrarausfuhr in die EU könnte um 95 Prozent steigen, der Export von Dienstleistungen um 430 Prozent. Das Pro-Kopf-Einkommen in der Türkei ließe sich auf diese Weise um 171 Dollar im Jahr steigern, heißt es in der Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung (derzeit beträgt es 10 700 Dollar).
Ankaras Ambitionen
Die Europäische Kommission unterstützt das Bemühen um eine Vertiefung der Zollunion. Doch ihr Entwurf zu den Verhandlungsrichtlinien liegt im Ministerrat auf Eis, weil einige Nationalstaaten nicht mitziehen wollen. Deutschland gab sich lange konziliant, doch hat sich diese Haltung mit der „Neuausrichtung“ geändert. Angesichts derart wachsender Widerstände ist ein baldiger Verhandlungserfolg unwahrscheinlich. Wenn die neue Zollunion überhaupt noch zustande kommt, dann nur zu einer verschärften Konditionalität. Das bedeutet, dass die in den EU-Verträgen üblichen Klauseln zu Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten straffer und verbindlicher gefasst werden, um die Türkei darauf zu verpflichten.
Ankara ist deshalb sehr an dem Vertrag interessiert, weil die heimische Wirtschaft längst nicht mehr so rund läuft wie früher. 2016 wuchs das BIP real um 2,9 Prozent, für 2017 werden 4 Prozent erwartet. Für ein Schwellenland ist das wenig, zwischen 2013 und 2015 betrug das durchschnittliche Plus noch 6,6 Prozent. Die Bevölkerung trifft vor allem, dass die Arbeitslosenquote und der Anstieg der Verbraucherpreise wieder zweistellig sind. Unter den Jugendlichen hat jeder Fünfte keine Beschäftigung, die Inflation ist doppelt so hoch wie der Zielwert der Notenbank. Das hängt auch mit den teuren Importpreisen zusammen, da die Lira seit dem Putsch mehr als 15 Prozent ihres Außenwerts eingebüßt hat.
Eine wirtschaftlich unzufriedene Bevölkerung kann sich die Regierungspartei AKP nicht erlauben. Sie ist nicht zuletzt deshalb an der Macht, weil sie erfolgreich gegen Armut, Geldentwertung, Arbeitslosigkeit, marode Straßen, Schulen, Krankenhäuser vorgegangen ist. Da die Regierung gut gewirtschaftet und die EU ins Boot geholt hat, ist der Wohlstand stark gestiegen, und die öffentlichen Finanzen sind im Griff: Die Türkei erfüllt aus dem Stand die Maastricht-Kriterien zum Budgetsaldo und zu den öffentlichen Schulden.
Eine gewisse Zeit lang können die vollen Kassen die Konjunktur über Kredit-, Fiskal- und Investitionsprogramme ankurbeln. Der Führung kommt entgegen, dass das traditionell hohe Leistungsbilanzdefizit nicht ganz so aus dem Ruder gelaufen ist wie befürchtet. Zu verdanken ist das den vom niedrigen Lira-Wert befeuerten Exporten, vor allem aber den noch immer niedrigen Rohstoffpreisen. Denn die Türkei ist auf Gedeih und Verderb auf Öl- und Gasimporte angewiesen.
Je mehr sich aber Europa von der Türkei entfremdet und wirtschaftlich zurückzieht, desto geringer werden die Spielräume der Regierung in Ankara, eine Krise abzuwenden. Das gilt vor allem dann, wenn die EU über echte Sanktionen nachdenken sollte oder auch nur darüber, angesichts der Wiedereinführung der Todesstrafe die Zollunion einzuschränken statt auszubauen. Anders als das öl- und gasreiche Russland oder der Iran hat die Türkei wenig anzubieten, um für Partner außerhalb der westlichen Welt unentbehrlich zu werden und sich so über schlechte Zeiten hinwegzuretten.
Erdogan und seine AKP sind mit der EU groß und mächtig, aber zugleich von ihr abhängig geworden. Kommt es wirklich zum Bruch, dann hat das Land viel mehr zu verlieren als die Gemeinschaft. Das Referendum im April hat gezeigt, dass trotz Einschüchterung und Benachteiligung der Gegner nur eine dünne Mehrheit dem Regime folgt. Die Stimmung könnte vollends kippen, falls der ökonomische Fortschritt ins Stocken gerät. Daran aber haben die Machthaber kein Interesse, denn sie wollen die Parlaments- und Präsidentenwahlen in zwei Jahren gewinnen. Um das Regime in die Schranken zu weisen, muss sich die EU auf zweierlei verlassen: auf ihre Wirtschaftskraft und auf die türkischen Wähler.
Dr. Christian Geinitz ist von Wien aus Wirtschaftskorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Ostmittel-, Südosteuropa und die Türkei.
Internationale Politik 5, September-Oktober 2017, S. 90 - 95