Weltspiegel

24. Apr. 2023

Investition in Europas Sicherheit

Der Wiederaufbau der Ukraine und ihre Integration in die EU wird Milliarden verschlingen und viele Jahre dauern. Aber nur so kann sich die EU vor Wladimir Putin schützen.

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Bild: Von der Leyen, Selensky und Charles Michel in Brüssel
Dass die Ukraine so schnell wie möglich in die EU gehört, muss man den Europäerinnen und Europäern immer wieder erklären: Wolodymyr Selensky in Brüssel mit Ursula von der Leyen und Charles Michel.
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Niemand weiß, wie lange der Krieg in der Ukraine dauern wird. Niemand weiß, ob die Ukraine ihr gesamtes von Wladimir Putin geraubtes Territo­rium zurückgewinnen kann, und wenn ja, zu welchem Preis.

Sicher ist nur, dass die Ukraine enorme Schäden erleidet. Denn es ist offenbar Teil der russischen Kriegsstrategie, möglichst viel zu zerschlagen und zu zerstören, was der ukrainische Staatund seine Bürgerinnen und Bürger zum Überleben brauchen. Die Weltbank schätzt die Kosten für den Wiederaufbau auf 350 Milliarden Euro, die Europäische Investitionsbank geht von 1,1 Billionen Euro aus – Stand Anfang März 2023. Da der Krieg nicht zu Ende ist und Tag für Tag weitere massive Zerstörungen angerichtet werden, dürften die Summen noch größer werden. Nicht berechnen lassen sich die Verheerungen, die die russische Armee bei der Bevölkerung angerichtet hat. Die vielen tausend Toten und Verletzten, die mehr als vier Millionen Flüchtlinge, die versehrten Herzen und traumatisierten Seelen. Das alles lässt sich nicht in Zahlen abbilden.

Und doch wird für das Gelingen des Wiederaufbaus der Ukraine entscheidend sein, dass man die menschliche Dimension zum Ausgangspunkt nimmt. Das ist keine pflichtschuldige humanitäre Floskel, sondern eine vorrangige Notwendigkeit. Klar ist nämlich, dass das Land die geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer braucht, wenn es rasch wieder auf die Beine kommen will. Doch viele, die gegangen sind, könnten nicht mehr zurückkehren. Andriy Pyshnyy, der Gouverneur der ukrainischen Notenbank, schlug unlängst Alarm: „Wir könnten die Besten der Besten verlieren. Wir müssen darauf achten, dass wir unsere Leute zurückbekommen, wir brauchen sie hier!“



Die Flucht der Besten

Diese Sorge ist begründet. Eine Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte ergab, dass beispielsweise 42 Prozent der ukrainischen Flüchtlinge langfristig in Deutschland bleiben wollen. Überraschend ist das nicht. Je länger der Krieg dauert, desto mehr Menschen schlagen in ihren Fluchtländern Wurzeln. Sie lernen die Sprache, sie finden Arbeit, ihre Kinder gehen zur Schule, schließen Freundschaften, während ihr Heimatland weiter Krieg führen muss und ihnen nur eine unsichere Zukunft bieten kann. Selbst wenn die Ukraine alle Territorien zurückgewinnen könnte, müssten die Menschen, die ursprünglich aus diesen von den russischen Truppen verwüsteten Gebieten kommen, ihr Leben dort neu aufbauen.

Das ist genau das, was sie in Polen, Deutschland und Tschechien bereits tun: ganz von vorne anfangen. Die Europäische Zentralbank schätzt die Anzahl der Ukrainer, die nicht mehr zurückkehren werden, auf einen Anteil zwischen 25 und 55 Prozent. Das Kiewer Zentrum für Wirtschaftsstrategie kommt in einer Modellrechnung zu dem Ergebnis, dass zwischen 860 000 und 2,7 Millionen Ukrainer dauerhaft in Mittel- und Westeuropa bleiben wollen. Da es in diesen Ländern an Fachkräften mangelt, sind die meist gut ausgebildeten Ukrainer hochwillkommen. Heute schon tragen sie einen beträchtlichen Anteil zum Wirtschaftswachstum in Mittel- und ­Westeuropa bei.

Tatsächlich haben die Geflüchteten laut Umfragen einen höheren Bildungsgrad als die Ukrainer, die in ihrem Heimatland geblieben sind. Bei Befragungen an der Grenze haben 66 Prozent angegeben, einen höheren Bildungsabschluss zu haben. Der Wert ist hoch, verglichen mit dem in der Ukraine und selbst dem in der EU. Da liegt er bei 28 respektive 33 Prozent.

Die Ukraine also könnte, wie Pyshnyy befürchtet, die besser Ausgebildeten auf Dauer verlieren. Die Ökonomen des Zentrums für Wirtschaftsstrategie haben die Folgen eines solchen durch den Krieg erzwungenen Braindrains in einer Modellrechnung dargestellt. Demnach könnte die ukrainische Wirtschaft zwischen 2,55 und 7,71 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts einbüßen, wenn diese Menschen nicht mehr zurückkehrten.

Wie aber kann man die geflüchteten Ukrainer überzeugen, in ihre Heimat zurückzukehren, wo sie dringend für den Wiederaufbau gebraucht werden? Im Kern ist das die Frage nach der politischen Zukunft der Ukraine. Präziser gesagt: Es ist die Frage nach ihrer Zugehörigkeit.



Unwiderrufliche Westbindung

Es ist kaum zu bezweifeln: Die feste Anbindung der Ukraine an den Westen ist eine Grundvoraussetzung für die Rückkehr dieser Menschen.

Natürlich sollte man den ukrainischen Patriotismus nicht unterschätzen, aber das ändert nichts daran, dass die Ukraine in einem offenen Wettbewerb mit anderen europäischen Staaten um die besten Kräfte steht. Nur wenn ihre Heimat unwiderruflich im Westen verankert ist, dürfte sie in den Augen der gut Ausgebildeten attraktiv genug sein. Auch deshalb war es von größter Bedeutung, dass die EU der Ukraine am 22. Juni 2022 den Kandidatenstatus verliehen hat.

Es lässt sich einwenden, dass dieser Schritt per se noch nicht viel bedeuten mag oder sogar nichts weiter als ein leeres Versprechen ist. Es mangelt für diese These nicht an Beispielen. Die Türkei hat den Kandidatenstatus 1999 (!) erhalten und bis heute sind nicht viele Fortschritte verzeichnet; eine Reihe von Westbalkan-Staaten haben ebenfalls seit Jahren das Ticket des EU-Beitrittskandidaten, aber sie können es nicht einlösen.

Das ist alles richtig. Auch die Ukraine wird lange warten und tiefgreifende Reformen umsetzen müssen, bevor sie der EU beitreten kann. Bundeskanzler Olaf Scholz beharrte wiederholt darauf, dass es auf dem Weg zur EU keine Sonder­regeln geben könne – und er ist mit dieser Meinung in der EU nicht allein. Aber im Unterschied zu den anderen genannten Kandidaten hat die Ukraine diesen Status erhalten, während sie sich im Krieg mit dem russischen Aggressor befindet. Das ist einmalig, und es ist ein klares Bekenntnis der EU, dass die Ukraine „zu uns“ gehört, wie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mehrmals betonte. Es ist ein Versprechen, das in der Stunde der höchsten Not gegeben worden ist, und das wiegt schwerer als eines, das in Friedenszeiten geäußert wird.

Wenn ein Land den Kandidatenstatus erhält, dann öffnen sich ein politischer Raum und ein Markt gleichzeitig. Nach Scholz’ Worten ist es „ein klares Signal an die privaten Investoren: Jeder, der heute in den Wiederaufbau der Ukraine investiert, der investiert in ein künftiges EU-Mitgliedsland, das Teil der europäischen Rechtsgemeinschaft und des Binnenmarkts sein wird!“

Da ist auch die Frage nach der Glaubwürdigkeit der EU als geopolitischer Akteur. In ihrer Antrittsrede sagte von der Leyen: „Meine Kommission wird eine geopolitische sein!“ Das war 2019. Europäische Union und Geopolitik? Was damit gemeint war, das erschien damals noch recht nebulös. Manchen schien von der Leyens Behauptung überzogen, ja geradezu großspurig. Darüber muss man sich nicht wundern. Denn über viele Jahre hatte sich die EU als internationaler Akteur begriffen, der sich bewusst von traditionellen Großmächten unterscheidet. Nicht Soldaten gehörten zum Arsenal der „Großmacht“ EU, sondern Juristen; nicht Panzer, sondern Handelsabkommen; nicht Kanonen, sondern Menschenrechte; nicht Über­wältigung, sondern Überzeugung.



Glaubhafte Geopolitik

Als EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte, ihre Kommission werde eine geopolitische sein, konnte sie den russischen Überfall nicht voraussehen. Doch hatte von der Leyen verstanden, dass die Zeiten rauer geworden waren. Die EU musste sich wappnen, sie musste lernen, in einer unübersichtlichen Welt mitunter auch „hardball“ zu spielen.

Man sollte für einen Moment die EU mit den Augen der geschundenen Ukrainer betrachten. Es besteht kein Zweifel daran, dass dieses Land nach Westen strebt, dass es zur Union gehören will. Und doch werden sich viele Ukrainer fragen: Wie zuverlässig ist die EU? Wie widerstandsfähig? Wie ausdauernd?

Um es an dieser Stelle deutlich zu sagen: Ja, natürlich geht es am Ende darum, die gewaltigen Summen zu mobilisieren, um die Ukraine wiederaufzubauen. Es ist auch klar, dass die EU dabei die wichtigste Rolle spielen muss. Doch der Erfolg des Wiederaufbaus hängt aufs Engste mit einem Prozess zusammen, den man als das Erwachsen- werden der EU beschreiben könnte.

Die Ukraine gehört „zu uns“, das ist die richtige Botschaft. Aber wie müssen „wir“ – die EU – sein, damit sie „zu uns“ gehören kann, damit sie ein prosperierendes Mitglied der europäischen Familie sein wird und nicht im vom russischen Despoten Wladimir Putin verwüsteten Nirgendwo hängen bleibt, versehrt, arm und bis aufs Mark beschädigt? Die Antwort liegt auf der Hand: Die EU muss so hart sein, wie es ein geopolitischer Akteur sein muss, wenn er ernst genommen werden will, und sie muss gleichzeitig so flexibel bleiben, dass sie all die Veränderungen, die die ­Aufnahme eines Landes mit etwas mehr als 40 Millionen Einwohnern unvermeidlich mit sich bringen wird, auch verdauen kann.

14 Monate nach Beginn des Krieges lässt sich sagen, dass die EU entschieden, geschlossen und wirksam auf die russische Aggression reagiert hat. Der beste Beweis dafür sind die inzwischen zehn Sanktionspakete, die die EU verabschiedet hat, um der russischen Kriegsmaschinerie Einhalt zu gebieten. Putin hat mit dieser europäischen Reaktion sicher nicht gerechnet. Gleichzeitig handelte die EU dabei auf allen Ebenen in sehr enger Abstimmung mit der Regierung Joe Bidens. Auch das kann man als Nachweis des „Erwachsenwerdens“ der EU nehmen.



Härte nach innen, Härte nach außen

Zudem rüsten alle EU-Länder auf; die Auftragsbücher der Rüstungsfirmen sind voll. In jedem der 27 Mitgliedstaaten gibt es eine klare Mehrheit für mehr Wehrhaftigkeit. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte hat die Union Geld für Waffenkäufe freigegeben. Eine Milliarde Euro aus dem Topf der „Friedensfazilität“ hat die Ukraine für Waffenkäufe erhalten.

Und es gibt einen weiteren Punkt, der leicht übersehen wird: Die EU hat seit der russischen Invasion auch Härte nach innen gezeigt, nämlich gegen eigene Mitglieder, die gegen die Regeln der Gemeinschaft verstoßen. Gemeint sind in erster Linie Ungarn und Polen. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte hat die EU im Rahmen des neu geschaffenen Rechtsstaatsmechanismus Gelder zurückgehalten. Ungarn und Polen erhalten Milliardenbeträge aus Brüssel erst, wenn sie Reformen umsetzen beziehungsweise rechtsstaatsfeindliche Reformen zurücknehmen. Diese neue Härte nach innen ist komplementär zu der Härte nach außen. Sie stärkt die Glaubwürdigkeit der EU als wehrhafte Rechtsstaatsgemeinschaft.

Diese Entwicklungen bilden das unverzichtbare, das notwendige politische Fundament für die finanziellen Hilfen an die Ukraine, die in beträchtlichem Maße bereitgestellt werden. 2022 belief sich die aus dem EU-Haushalt bereitgestellte Unterstützung auf insgesamt 11,6 Milliarden Euro. 2023 bietet die EU der Ukraine 18 Milliarden in Form von Darlehen zu günstigen Bedingungen an. Damit soll die Ukraine in die Lage versetzt werden, weiterhin Löhne und Renten zu zahlen und öffentliche Dienste wie Krankenhäuser, Schulen und Unterkünfte für Binnenflüchtlinge finanzieren zu können. Es sind auch Maßnahmen getroffen worden, die der Wirtschaft der Ukraine auf andere Weise helfen. Beispielsweise hat die EU die Einfuhr­zölle auf alle ukrainischen Ausfuhren in die EU ausgesetzt.

Nur: Die EU allein kann die immensen Kosten für den Wiederaufbau der Ukraine nicht stemmen. Dafür braucht sie Partner, den Internationalen Währungsfonds, die Weltbank, die G7-Staaten, vor allem aber Unternehmen, die in der Ukraine die Chance sehen, gute und sichere Geschäfte zu machen. Gerade Letzteres wird nicht einfach sein. Denn zum einen herrscht immer noch Krieg und dessen Ausgang ist ungewiss; zum anderen rangiert die Ukraine auf dem Korruptionsindex von Transparency International auf Platz 122 von insgesamt 180 Plätzen. Das beste Mittel gegen Korruption ist ein funktionierender Rechtsstaat. Das wird die Ukraine werden müssen, um der EU beitreten zu können.

Es ist eine Sache, den Europäern zu vermitteln, dass man ein Land, das ein Aggressor auslöschen will, verteidigen muss. Es ist aber eine andere Sache, sie davon zu überzeugen, dass ein sehr großes Nachbarland mit 40 Millionen Einwohnern dem exklusiven europäischen Club beitreten soll. Alle Umfragen in den vergangenen Jahren zeigen beispielsweise, dass die Europäerinnen und Europäer skeptisch gegenüber Erweiterungen sind. Die EU müsse sich selbst reformieren, dann erst könne sie sich erweitern: Das ist das Argument derjenigen, die das Beitrittsversprechen an die Ukraine mit Skepsis sehen. Ihnen erscheint die EU mit ihren 27 Mitgliedern heute schon schwerfällig, mit 28, 30, 32 oder gar 33 Mitgliedern wäre sie gelähmt. 

Auch wenn das noch viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern wird, so wird die EU immer wieder erkären müssen, warum es notwendig ist und sich lohnt, sehr viel Geld und sehr viel politisches Kapital in die Ukraine zu investieren.

Das zentrale Argument dafür ist der Neoimperialismus von Wladimir Putin. Der russische Despot führt einen blutigen Krieg gegen die Ukraine, aber schon seit Jahren führt er einen hybriden Krieg gegen die Europäische Union. Er will die EU zerlegen, die Vereinigten Staaten aus Europa verdrängen und dann den alten Kontinent nach Belieben dominieren.

Dieser Weg nach Westen ist für Putins Russland die einzige Möglichkeit, seinen ersehnten Großmachtstatus wiederzuerlangen. Eine Investition in die Ukraine ist eine Investition in die eigene europäische Sicherheit. Das muss immer wieder gesagt werden. Davon müssen die europäischen Bürgerinnen und Bürger immer wieder aufs Neue überzeugt werden.    

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2023, S. 71-75

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Ulrich Ladurner ist Europa-Korrespondent der ZEIT mit Sitz in Brüssel. 

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