IP

01. Mai 2006

Integration ist machbar

Eine Replik auf Robert S. Leikens Verabschiedung des Integrationspostulats

Eine gelingende Integration ist auch eine Frage des Maßstabs. Während Robert S. Leiken als deren Bestandteil die Übernahme kultureller Standards erachtet (IP 3/2006), hält Markus Linden dem die Einbindung durch das deliberative Verfahren des demokratischen Rechtsstaates entgegen. Mit zwei Mechanismen kann die Demokratie Integration und Akzeptanz hervorbringen: Repräsentation und Partizipation.

Vom „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) kann im beginnenden 21. Jahrhundert nun wahrlich nicht die Rede sein. Mit gutem Grund könnte man sogar argumentieren, dass die Gefährdungen der Demokratie im Anschluss an ihren vermeintlichen Siegeszug eine bedrohlichere Form angenommen haben als zu Zeiten des Kalten Krieges. Es scheint nämlich die Offenheit demokratischer Gesellschaften selbst zu sein, die erhebliche Risiken birgt. Die Gefahr droht nicht nur von außen, sondern hat sich, so der weit verbreitete Tenor, in Form islamistischer Subkulturen im Inneren unserer Gesellschaften eingenistet. Deshalb kann der prinzipielle Antiterrorismus kaum das beruhigende Gefühl einer positiv wirkenden Abgrenzung hervorrufen. Mithin kündet der zeitliche Vergleich von neuen Problemlagen, die nach neuen Bewältigungsstrategien verlangen.

Demokratie und Sicherheit

Der „Eiserne Vorhang“ bildete eine Barriere, die dem Westen nicht nur ein territorial identifizierbares Feindbild, sondern auch die stetige Möglichkeit zum Verweis auf eigene Freiheiten gab. Das Schlagwort von der „Offenen Gesellschaft“ (Karl R. Popper) sah sich keinen weiteren inhärenten Begründungszwängen ausgesetzt, da sich der Wert jener Offenheit vor dem Hintergrund der Alternative und ihrer Ideologie tagtäglich zeigte. Im Antitotalitarismus, der den Pluralismus des Westens mit dem ideellen „Monismus“ (Ernst Fraenkel) diktatorischer Regierungssysteme kontrastierte, manifestierte sich ein rein negatives Begründungsprogramm. Jeglicher Kritik an der realen Demokratie konnte auf relativ überzeugende Weise das Gegenbild vom „Reich des Bösen“ vorgehalten werden. Kurzum: Als Antwort auf Desintegrationstendenzen stand ein quasi importiertes Reservoir gesellschaftlichen Kitts bereit. 

Mit Beginn der neunziger Jahre hatte die nun scheinbar „feindlose Demokratie“ (Ulrich Beck) diesen Kompass verloren. Doch der Triumph über den Niedergang des „Reiches des Bösen“ wich mehr und mehr einem Ernüchterungsdiskurs. Des Programms einer Sinnstiftung durch Abgrenzung beraubt, sehen sich westliche Demokratien zunehmend mit dem Problem konfrontiert, ihre Bestandsvoraussetzungen selbst zu erzeugen. Damit scheint sich das von Ernst-Wolfgang Böckenförde1 formulierte Paradoxon der Demokratie zu bewahrheiten: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Viele Kommentatoren deuten allgemeine Trends hin zu weniger Vertrauen in politische Institutionen, niedrigerer Wahlbeteiligung und einer schleichenden Loslösung von traditionellen politischen Bindungen als Indikatoren einer politisch-kulturellen Entfremdung von der Demokratie. Die Tatsache, dass die Ereignisse in Folge der Terroranschläge vom 11. September 2001 eine neue Frontstellung ins öffentliche Bewusstsein riefen, änderte nichts an der zunehmend distanzierten Haltung, mit der westliche Gesellschaften ihrem politischen Ordnungsmodell gegenüberstehen. Im Gegenteil: Durch die Massenphänomene Migration und Zuwanderung, die allzu häufig undifferenziert mit Sicherheitsaspekten gleichgesetzt werden, geraten die politischen Integrationsmechanismen offener Gesellschaften unter Druck.

War es nicht der naive Glaube an die einbindende Wirkungsweise der Freiheit, der die Entstehung islamistisch ideologisierter Gruppen auf westlichem Territorium ermöglichte? Müssen wir uns in Anbetracht der terroristischen Bedrohung von der Vorstellung einer kulturübergreifend integrierenden, freiheitlich ausgestalteten und heterogen organisierten Demokratie verabschieden? Ist das Integrationspostulat nicht nur gescheitert, sondern als „Allheilmittel“ ad acta zu legen? Folgt man Robert S. Leikens2 in vielerlei Hinsicht bemerkenswerter Argumentation, so liegt ein Ja auf diese provozierenden Fragen nahe. Demnach kann Integration Sicherheit nicht gewährleisten. Wählt man die Leikensche Perspektive, so bilden die Grundsätze der Offenheit und kulturellen Pluralität keine Basis für den Selbsterhalt der Demokratie, sondern in letzter Konsequenz ein naiv verteidigtes Fundament für islamistische Bedrohungen im Inneren multiethnischer Gesellschaften.

„Mythos Integration“?

Als Ausgangspunkt dient Leiken die eigentlich kontraintuitive Beobachtung, dass zwei Drittel der in westlichen Gesellschaften lebenden Dschihadisten durchaus „erfolgreich und integriert“ sind. Diese Beobachtung wird durch nicht näher erläuterte Stellungnahmen verschiedener Geheimdienste belegt. Lege man, so Leiken, die bekannten „Indizien für eine gelungene Integration“ zu Grunde – also „Kleidung, Sprache, berufliche Perspektive und soziale Bindungen“ – seien „diese Männer assimiliert“. Mit Rückgriff auf das analytische (nicht normative!) Kategorienschema von Milton M. Gordon3 spricht Leiken in diesem Zusammenhang von „kultureller Assimilation“, die nicht mit der nächsthöheren Stufe, der „strukturellen Assimilation“ in Form einer Identifikation mit dem „Gastland“ sowie der positiven Einbindung in dessen Institutionen, gleichgesetzt werden dürfe. Letztlich könne gerade die Integration durch sozialen Aufstieg negative Effekte hinsichtlich der Ausbildung eines Gemeinschaftsgefühls haben. Die an den Universitäten „vorherrschende Mode einer antiwestlichen Kulturkritik“ sowie die dort verbreitete Ablehnung des „westlichen Imperialismus“ seien geeignet, „den Weg zum Dschihad zu ebnen“, meint Leiken.

Auf der anderen Seite bedrohe aber auch der kollektive soziale Abstieg von Migrantengruppen den Zusammenhalt des Gemeinwesens. Die Vorstadtunruhen in Frankreich seien Ausdruck einer „Akkulturation und Anpassung, wenn auch in negativer Form“. Leiken spricht von einer „Integration in die westlichen Unterschichten“ – symbolisiert durch kulturspezifische Symbole (Gangsta Rap und Kapuzenpullover). Auch hier fände der Islamismus eine bereitwillig ideologisierbare soziale Basis, da sich im „rechtlosen Raum“ verwahrloster Schulen keine „nationale Identität“ ausbilden könne.

Der Identitätsbegriff nimmt im Rahmen der Ursachenanalyse und Folgerungen Leikens eine entscheidende Stellung ein. Die „identifizierende Anpassung“ von Migranten gestalte sich vor allem deshalb schwierig, weil ihnen die dafür notwendige Leitmaxime von der Aufnahmegesellschaft nicht bereitgestellt werde. Leiken konstatiert, dass auf Seiten der „privilegierten einheimischen Eliten“ oft „nur ein instrumentelles Verhältnis“ zum eigenen Land zu beobachten ist. Als Vorbedingung „struktureller Anpassung“ bedürfe es deshalb einer „grundlegende[n] Veränderung der Mentalität“, hin zu einer Neuent-deckung des „historischen und ethischen Bewusstseins“ des Nationalstaats. Die Wiedergewinnung des „nationalen Ethos“ sei freilich eine Langzeitaufgabe. Kurzfristig müsse beobachtbaren Tendenzen eines „Anti-Antiterrorismus“ mittels einer Verstärkung exekutiver „Durchsetzungskraft“ entgegengewirkt werden. Es gelte, so Leikens Schlussplädoyer, „die wichtigste Aufgabe des Regierens wahrzunehmen: Selbsterhaltung“.

Ein unzureichender Maßstab

Auf vordergründig durchaus einsichtige Weise gelingt es dem Autor, das Integrationspostulat im Ergebnis zu disqualifizieren. Indes beruht seine Analyse auf einem unzureichenden Maßstab, dessen negative Konnotationen bewusst in Kauf genommen werden. Islamistisch motivierte Einwanderer sind nämlich keineswegs integriert, ebenso wenig wie autochthone Extremisten. Äußerlichkeiten – sei es die Kleidung, der Berufsstand, die Sprache oder der soziale Kontakt zu Einheimischen – sagen zwangsläufig wenig über die subjektive politische Einstellung des Einzelnen aus. Mittels solcher Kriterien lässt sich leicht eine Disparität zwischen dem Grad an Zugehörigkeit und der rein symbolischen Übernahme kulturspezifischer Werte begründen. Integration zielt auf die subjektiv-perzeptionelle Anerkennung der Grundsätze und Grundwerte freiheitlicher Gesellschaften. Islamismus und brennende Vorstädte sind Ausdruck von Desintegration und können bei einem angemessenen Verständnis des Begriffs gerade nicht auf „Integration“ fußen, wie dies von Leiken behauptet wird.

Dessen Analyse legt es nahe, selbst bei vergleichsweise „unauffälligen“ Migranten primär auf den Aspekt bedrohter Sicherheit abzustellen, womit gleichsam die offensichtliche Heterogenität der muslimischen Einwanderer bestritten wird. Dass der Mörder von Theo van Gogh und der Anführer der Londoner Bombenanschläge nach Leikens Verständnis „kulturell assimiliert“ waren, sagt jedoch noch nichts über das tatsächliche Verhältnis von Integration und subjektiver Einbindung aus. Mittels Einzelfällen und einem explizit unpolitischen Begriffsverständnis lässt sich der Abgesang auf die positive Wirkungsweise von Integration nicht begründen.

Zwar sind Untersuchungen mit aussagekräftigen Fallzahlen und Fragestellungen selten und wurden hierzulande fast ausschließlich unter Türkischstämmigen durchgeführt, jedoch zeugt die bisher vorhandene Empirie im deutschen Fall kaum von einer unter Migranten verbreiteten Nichtakzeptanz der Demokratie. So weist eine von der Konrad-Adenauer-Stiftung durchgeführte Studie unter türkischstämmigen Einwohnern die Befragten als Befürworter demokratischer Grundwerte aus, die der politischen Ordnung Deutschlands zumeist sehr positiv gegenüberstehen.4 Außerdem sind türkischstämmige Deutsche diesen Daten zufolge vergleichsweise „stärker integriert“ als Migranten ohne deutschen Pass. Auch von der Dominanz fundamentalistischer Strömungen unter Einwanderern kann keine Rede sein. In einer anderen Untersuchung unter türkischstämmigen Muslimen spricht sich nur eine Minderheit der Befragten (27,2 bzw. 18,7 Prozent) für das Tragen von Kopftüchern und getrennten Sportunterricht aus.5

Es soll hier nicht darum gehen, das Vorhandensein islamistischer Migranten zu leugnen. Ebenso unlauter wäre jedoch die Gleichsetzung von Migra-tion und Gefahr, die argumentativ mit der oberflächlich belegten Negation positiver Integrationsaspekte unterfüttert wird. In diese Richtung weist die Analyse Leikens. Dass Sprache, Staatsbürgerschaft, soziale Kontakte und die Annahme kultureller „Accessoires“ keineswegs hinreichende Bedingungen politischer Integration darstellen, hätte schon ein Blick in die deutsche Vergangenheit gezeigt.

Ebenso wenig überzeugend wie seine Analyse des Zusammenhangs zwischen Terror und Integration ist die „positive“ Einbindungsstrategie Leikens. Es bleibt reichlich unklar, was wir uns unter der anzustrebenden „strukturellen Assimilation“ vorzustellen haben und welche Wege Migranten zu diesem Zustand führen sollen. Von „Identifikation“ und „Gemeinschaftsgefühl“ ist die Rede, aber auch von „Anpassung“. Diesbezüglich böte die Verwendung des hierzulande verpönten Begriffs der „Assimilation“ sicherlich die Möglichkeit, Leikens Thesen auf ihre Vereinbarkeit mit einem pluralistischen Gesellschaftsbild hin zu überprüfen.6 Dem rein begrifflichen Argument könnte jedoch relativ leicht mittels Verweis auf unterschiedliche Fachkulturen in unterschiedlichen Ländern begegnet werden. Als vergleichsweise aufschlussreicher erweist sich deshalb der Blick auf Leikens eigentliche Forderung: die Schaffung eines „nationalen Ethos“, welches als Zielpunkt der gewünschten Anpassung fungiert.

Mit seinem Eintreten für einen kollektiven nationalen Rekurs durch die angestammte Bevölkerung steht der Autor nicht alleine da. „Muss sich der Einwanderer in den Kosmos seiner neuen Heimat integrieren, muss sich der ‚Eingeborene‘ seiner alten Heimat vergewissern“, schreibt beispielsweise Thomas Schmid.7 Auch im Zusammenhang mit dem Begriff „Leitkultur“ wird dieses Argument vorgebracht. Erst die nationale Selbstdefinition (für manche die Selbstliebe) der autochthonen Bevölkerung ermöglicht demnach Integration. Der Zielpunkt für Migranten wird im Anschluss daran in der Teilhabe an diesem Selbst gesehen, wobei kulturelle, ethische und historische Aspekte genannt werden, also ein tendenziell extensiver Rahmen vorgegeben wird. Als Integrationsmechanismus firmiert alleine der Appell an die „positive Selbstvergewisserung“ (Leiken).

Welche weit reichenden und gleichzeitig unbestimmten Ansprüche an Migranten damit einhergehen können, zeigt eine Äußerung Wolfgang Schäubles: „Solange die Deutschen sich mit ihrer nationalen Identität so schwer tun, so lange ist es schwer, anderen zu sagen, sie sollen Deutsche werden. … Wer Deutscher werden will, muss die deutsche Vergangenheit als seine nationale Vergangenheit mit übernehmen.“8 Im deutschen Fall liefert die Historie natürlich Anknüpfungspunkte, die einer eindeutigen Bewertung unterliegen. In der Regel bieten geschichtliche Ereignisse jedoch Anlass zu Auseinandersetzungen über unterschiedlichste und doch legitime Urteilsmöglichkeiten. Ebenso verhält es sich mit vielen kulturellen und ethisch-imprägnierten „Errungenschaften“.

Leikens Einforderung eines nationalen Mentalitätswandels, der seinen Ausführungen zufolge z.B. die kollektive Ablehnung universitärer Imperialismus- und Kulturkritik beinhalten müsste, ist deshalb nicht nur vage, sondern gleichsam antipluralistisch behaftet. Sein abschließender, nicht grundlos an Hobbes erinnernder Verweis auf exekutive Stärke und das Primat des Selbsterhalts ist Ausdruck dieses fehlenden Verständnisses für offene Integrationsmechanismen offener Gesellschaften. Die Assimilation durch Anpassung an eine tendenziell umfassende kollektive Identität ist ein Programm der kulturell determinierten Schließung, das einen kaum wünschbaren Zielpunkt beschreibt und keine politisch gestaltbaren und prozessualen Integrationsmöglichkeiten kennt.

Die politische Integration der offenen Gesellschaft

Im Gegensatz zur anfänglich zitierten Vermutung Böckenfördes, nach der die Aufrechterhaltung des freiheitlichen Zusammenhalts zwangsläufig eine nachgeordnete Variable gesellschaftlicher Homogenität oder anderer unpolitischer Integrationsmechanismen darstellt, bleibt zu fragen, welche inhärenten Möglichkeiten der subjektiv-perzeptionellen Einbindung die Demokratie bereithält. Sucht man nach einer Antwort, so fällt diese von Seiten der Apologeten der „Offenen Gesellschaft“ zuweilen recht dünn aus. Für Ralf Dahrendorf bleibt die „tätige Freiheit … die oberste Maxime“.9 Will man den neuen Herausforderungen im Zeitalter von Einwanderungsgesellschaften, die über kein symbolisch fassbares Feindbild mehr verfügen, gerecht werden, ist es wohl unumgänglich, jenen Freiheitsbegriff mit einem politisch integrierenden Inhalt zu füllen:

Zunächst bedarf es dazu der Bestimmung eines klar definierbaren, den notwendigen Zusammenhalt bezeichnenden, aber trotzdem pluralistisch-offenen Zielpunkts der Integra-tion. Dem demokratischen Anspruch eines möglichst weitreichenden Inklusionsangebots kann diesbezüglich nur die Verfassung gerecht werden. Während der kulturspezifische, religiöse oder historische Bezug auf eine geschlossen gedachte Form von „Nation“ unabwendbare Konnotationsmöglichkeiten und willkürlich interpretierbare Ausschlusskriterien mit sich bringt, stellt die Verfassung den geronnenen Anschlusspunkt politischer Einheit dar. Im pluralistischen Gemeinwesen ist es deshalb unumgänglich, die Akzeptanz des aus der Verfassung abgeleiteten demokratischen Minimalkonsenses als Ziel auszugeben. Die Einheit der Demokratie besteht im geteilten Willen, ein Gemeinwesen zu bilden und dessen demokratische Grundordnung samt ihrer rechtlich verbürgten Grundwerte und prozessualen Ausformungen anzuerkennen. Es ist eine Einheit, die allen demokratisch orientierten Menschen offen steht, ungeachtet gruppenspezifischer oder individuell gewählter Wertdifferenzen, die eine Demokratie in ihrem Gesamtbild ja gerade erst konstituieren. Der Kopftuchstreit zeigt, wie mühsam die Abgrenzung zwischen notwendigem Pluralismus und den unter Umständen widerstreitenden Interessen des säkularisierten Staates im Einzelfall ist. Eine verbindliche Lösung solcher Probleme hält nur das von allen zu akzeptierende und in seiner Entstehung auf die Gemeinschaft aller zurückzuführende Recht bereit.

Der letztgenannte, von Jürgen Habermas10 ausgearbeitete Gedanke verweist auf die Mechanismen zur ständigen Aufrechterhaltung politischer Einheit – also auf Prozesse politischer Integration im engeren Sinn. Diesbezüglich lassen sich auch dann spezifisch politische Einbindungsstrategien identifizieren, wenn man dem Habermasschen Leitbild vom allgemein anerkannten Konsens durch Diskurs die Grundsätze der Entscheidungsoffenheit und des unaufhebbaren Pluralismus entgegenhält. Legitime Integrationsmodi wurzeln in einem Prinzip, das zuerst von Aristoteles ausgearbeitet, dann von Tocqueville und anderen in die moderne politische Philosophie übertragen wurde. Demnach konstituieren sich demokratische Gemeinwesen durch die Teilnahme an öffentlichen Belangen. Infolgedessen sind es zwei Mechanismen, mit denen die Demokratie Einbindung und Akzeptanz hervorbringen kann: die Repräsentation und die Partizipation.

Integration über politische Teilhabe

Die Gesamtheit der Werte, Problemlagen und vorhandenen Interessen eines Gemeinwesens manifestiert sich in dem, was Claude Lefort und Marcel Gauchet als „Ort der Macht“ bezeichnen.11 Der Begriff kommt unserem Verständnis von öffentlicher Repräsentation gleich. Insofern die Gesellschaft diesen Bereich der öffentlichen Debatte, der sich unter anderem aus parteiendemokratisch, zivilgesellschaftlich oder medial vermittelten Äußerungen zusammensetzt, als geteilten politischen Bezugspunkt ansieht, wächst die Chance, dass die Problemlagen des jeweils Anderen zum eigenen Gemeinwesen gerechnet werden.

Gleichzeitig üben verantwortliche Repräsentanten im Idealfall eine mäßigende Funktion aus, die der Entstehung extremistischer Haltungen entgegenwirkt. Damit Repräsentation integrierend wirken kann, bedarf es deshalb einer gleichberechtigten Artikulation von Interessen, auch und gerade, wenn es sich um spezifische Interessen von Migranten handelt. Mithin muss es als Indiz für Defizite politischer Integration angesehen werden, dass das politische Interesse unter Eingebürgerten nur unterdurchschnittlich ausgeprägt ist.12 Ebenso integrationshemmend ist die stark herkunftslandzentrierte Ausrichtung des politischen Bewusstseins vieler Migranten. Als Integrationsstrategie bietet sich deshalb eine vergleichsweise stärkere Artikulation der Interessen von Einwanderern an. Deren rein instrumentelle Repräsentation unter dem Blickwinkel des „Gemeinwohls“ der Mehrheitsbevölkerung, z.B. im Rahmen der Demographiedebatte, ist sicherlich keine Basis für die Schaffung eines politischen Interesses, das sich auch auf andere Politikbereiche ausdehnen sollte.

Die Partizipation ist eine noch offensichtlichere Möglichkeit zur genuin demokratischen Integration von Migranten. Beteiligungen in politischen Vereinigungen, idealerweise zusammen mit Angehörigen der autochthonen Bevölkerung, öffnen den Weg hin zu einem politischen Selbstverständnis, das nicht allein auf der Einwanderungssituation beruht. Überlappende Mitgliedschaften (David B. Truman), also die mit Angehörigen der angestammten Bevölkerung geteilten Gruppenzugehörigkeiten als zum Beispiel Liberale, Umweltschützer oder Unternehmer lassen subjektive Zugehörigkeiten entstehen, die nicht aus der Herkunft heraus resultieren. Deren Wert für ein gegenseitiges Verständnis kann gar nicht unterschätzt werden. Für den deutschen Fall künden das unter Migranten vergleichsweise gering ausgeprägte ehrenamtliche Engagement, deren niedriger Organisationsgrad in politischen Parteien sowie die rückläufige Partizipation in Gewerkschaften von Integrationsdefiziten, die auf Dauer negative Effekte haben werden.

Das hier nur kursorisch skizzierte Programm stellt natürlich keine Gewähr für die Sicherheit vor terroristisch motivierter Gewalt dar. Meines Erachtens handelt es sich bei den angesprochenen Strategien jedoch um Mechanismen, mit denen der Entstehung desintegrierter Unterstützergruppen weitaus besser entgegengewirkt werden kann als mittels des von Leiken vorgeschlagenen Rückzugs ins abgeschlossene Schneckenhaus der nationalen Identität. Politische Integration ist ein niemals abgeschlossener Prozess, der auf den Verfahren und Möglichkeiten der Demokratie basieren kann und sollte. Ihr Wert ist die Offenheit selbst. Deren Schutz kann letztlich nur auf der politisch induzierten Herstellung von Akzeptanz gründen.

MARKUS LINDEN, geb. 1973, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Forschungsbereich 600 an der Universität Trier – Teilprojekt C 7: „Formen und Funktionsweisen der politischen Repräsentation von Fremden und Armen“.

  • 1 Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders.: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a.M. 1991, S. 112.
  • 2 Robert S. Leiken: Mythos Integration. Über „negative Anpassung“, Islam, Terror und Vorstadtkrawalle, Internationale Politik, März 2006, S. 22–27.
  • 3 Milton M. Gordon: Assimilation in American Life. The Role of Race, Religion and National Origins, New York 1964, S. 71.
  • 4 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Türken in Deutschland. Einstellungen zu Staat und Gesellschaft, Arbeitspapier 53/2001, Konrad-Adenauer-Stiftung (Hrsg.), Sankt Augustin 2001.
  • 5 tiftung Zentrum für Türkeistudien: Euro-Islam. Eine Religion etabliert sich, Universität Duisburg-Essen 2005 (www.zft-online.de/deutsch.php), S. 29.
  • 6 Milton M. Gordon (Anm. 3), Leikens Bezugsquelle, vertritt im Übrigen kein Assimilationskonzept, sondern eine Strategie des kulturellen Pluralismus, wobei er der Entscheidungsmöglichkeit des Individuums unbedingten Vorrang gegenüber einer zu erhaltenden Homogenität von Gruppen (seien es Einwanderer oder Autochthone) einräumt.
  • 7 Thomas Schmid: Wer sind wir selbst?, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15.1.2006, S. 13.
  • 8 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 12.3.2006, S. 4.
  • 9 Ralf Dahrendorf: Auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Vorlesungen zur Politik der Freiheit im 21. Jahrhundert, München 2003, S. 149.
  • 10 Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung, 4. Aufl., Frankfurt a.M. 1994.
  • 11Vgl. deren Beiträge in Ulrich Rödel: Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a.M. 1990.
  • 12 Vgl. Jürgen Wüst: Das Wahlverhalten eingebürgerter Personen in Deutschland, Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 52/2003, S. 34.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2005, S. 80 - 86

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