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01. März 2016

Indien: Entwickeln statt erneuern

Seit Jahren ist das Mantra der indischen Regierung das gleiche: Indiens Entwicklung dürfe „nicht auf dem Altar eines Klimawandels in ferner Zukunft geopfert werden“. Daran hat auch Paris nicht viel geändert

Indien ist der letzte große Verursacher von Klimagasemissionen, der kurz vor Torschluss dem UN-Klimarat seine geplanten nationalen Treibhausminderungsbeiträge gemeldet hat. Danach hat die indische Regierung versprochen, die Emissionsintensität der Wirtschaft um 33 bis 35 Prozent (gegenüber 2005) bis zum Jahre 2030 zu senken. Außerdem sollen die Kapazitäten zur Gewinnung erneuerbarer Energien bis 2022 verdreifacht und deren Anteil an der Stromproduktion auf 40 Prozent gesteigert werden. Die Sonnenenergiekapazitäten sollen bis 2022 um das 25-Fache auf 100 Gigawatt wachsen, die der Windenergie verdoppelt werden. Zudem ist eine deutliche Ausweitung des Waldbestands als Kohlenstoffsenke beabsichtigt.

Ist das nun der Durchbruch zu einer Politik, die Mensch und Natur versöhnt, wie die indische Regierung etwas vollmundig verkündet? Starke Zweifel sind angebracht. Zunächst ist auffällig, dass in Indiens Meldung – im Unterschied zu der Chinas – kein Zeitpunkt für den Höchstausstoß von Klimagasen genannt wird. Auch bei einer Einhaltung der Verpflichtungen Indiens werden sich seine Klimagasemissionen angesichts des absehbaren Wirtschaftswachstums bis 2030 verdoppeln oder gar verdreifachen. Indien wird voraussichtlich die EU bei den Emissionen spätestens 2025 und die USA zehn Jahre später überholt haben, wenn auch noch deutlich hinter China liegen.

Indiens Emissionen werden nach diesen Berechnungen im Zeitraum von 2013 bis 2040 am raschesten von allen Schwellenländern steigen (+4,3 Prozent pro Jahr), von den Industriestaaten der OECD (–1,1 Prozent pro Jahr) ganz zu schweigen. Die Pro-Kopf-Emissionen Chinas wird man dann noch deutlich, diejenigen des Weltdurchschnitts nur noch marginal unterschreiten.

Um das in Perspektive zu setzen, muss man sich klar machen, dass für eine Aufrechterhaltung der Chance, die Erderwärmung auf zwei Grad Celsius zu begrenzen, der Gesamtausstoß auf 1000 Gigatonnen CO2 beschränkt werden muss. Dieses globale Kohlenstoffbudget war schon 2014 zu zwei Dritteln ausgeschöpft. Die zur Pariser Konferenz gemeldeten Verpflichtungen liegen deutlich über dem Zwei-Grad-Ziel. Allein China (ca. 40 Prozent) und Indien (ca. 10 Prozent) werden einen großen Teil des verbleibenden Kohlenstoffbudgets verbrauchen, wenn sie nicht noch weitergehende Schritte zur Energieeinsparung und zur Förderung erneuerbarer Energien unternehmen.

Bleiben beide Staaten bei ihren bisher angekündigten Selbstverpflichtungen, kann die Grenze von zwei Grad Celsius nicht gehalten werden, egal, welche Anstrengungen der Rest der Welt unternimmt. Das für die ärmeren Staaten verbleibende Kohlenstoffbudget würde damit auf eine belanglose Größe schrumpfen. Das ist diesen Partnern auch schon aufgefallen, weshalb sie seit Jahren auf größere Anstrengungen der Schwellenländer drängen.

Indiens Zielsetzungen für den Einsatz erneuerbarer Energien sind zweifelsohne ehrgeizig, vor allem, was den Ausbau der Solarenergie angeht. Freilich wird dieser Ausbau hinter jenem von Kohlekraftwerken zurückbleiben, wenn die Energienachfrage im prognostizierten Umfang steigt. Kohle kommt zurzeit für einen wachsenden und deutlich über dem internationalen Durchschnitt liegenden Anteil der indischen Energienachfrage auf (2013: 44 Prozent, 2040: vermutlich 49 Prozent), einfach deshalb, weil sie noch der billigste Energieträger ist und Indien über reichliche Reserven (im Gegensatz zu Öl und Gas) verfügt.

Die indische Regierung hat bereits eine Verdoppelung der Kohleförderung bis 2019 und eine erhebliche Ausweitung der geplanten Kohlekraftwerke angekündigt, die aber in die nationalen Treibhausgasminderungsbeiträge noch nicht eingearbeitet sind. Die ältere Generation der Kraftwerke ist im internationalen Schnitt vergleichsweise ineffizient, die indische Kohle ist stark schwefel- und aschehaltig. Immerhin schreitet ihr Ausbau wegen Problemen beim Landerwerb und dank des Widerstands der gut organisierten Belegschaft des staatlichen Kohlemonopolisten gegen Effizienzsteigerung stets langsamer voran als geplant.

Für den geplanten Ausbau der Solarenergie gilt das wohl auch; die nötigen Steigerungsraten dafür liegen mehr als das Zehnfache über dem bisherigen Niveau, der Flächenverbrauch für Solaranlagen und damit die Probleme bei der Flächenumwandlung sind erheblich, etliche indische Produzenten von einschlägigen Anlagen waren dem Druck der chinesischen Konkurrenten nicht gewachsen und mussten aufgeben. Die geplanten Ziele bei der Windkraft stehen auch infrage, weil die Regierung die steuerlichen Anreize gemindert hat; hier wie beim Solarstrom fehlen auch noch ausreichende Trassen für den Stromtransport. Der entscheidende Kritikpunkt an der indischen Selbstverpflichtung bleibt, dass sie nicht über das hinausgeht, was bisher schon, mit den vorhandenen Technologien und ohne internationale Hilfe, erreicht wurde und erreicht werden kann. Die bisherige Reduktion der Energieintensität des Wachstums war nicht unerheblich (2000 bis 2013: –2,2 Prozent p.a.) und damit ebenso stark wie jene Chinas.

Experten schätzen, dass es dem Land möglich wäre, ohne zusätzliche Anstrengungen eine Reduktion des Energieeinsatzes pro Einheit des BIP um 41 bis 44 Prozent zu erreichen, deutlich mehr als die zur Konferenz in Paris gemeldeten Vorgaben. Das zeigt wie im Fall Chinas, dass der klimapolitische Ehrgeiz überschaubar ist, dass man sich einen möglichst großen Spielraum für Energieeinsatz und Wachstum erhalten möchte. Zur Rechtfertigung ihrer Position führt die indische Regierung seit Jahren dieselben Argumente an: Priorität müssten Wachstum und Armutsbekämpfung haben, die beide eine Erhöhung des Energieeinsatzes erforderten. Originalton: „Indiens Zwang zur Entwicklung kann nicht auf dem Altar eines Klimawandels in ferner Zukunft geopfert werden.“ Zweitens habe ein knappes Viertel der indischen Bevölkerung noch gar keinen Anschluss an das Stromnetz, müsse also mit Biomasse kochen und heizen.

Daneben wird man nicht müde, die historische Verantwortung der Industrie­länder für die in der Atmosphäre akkumulierten Klimagase zu betonen. Dieser historischen Verantwortung könnten und dürften sie sich nicht entziehen, sie müssten Kohlenstofffreiraum für die weniger entwickelten Staaten schaffen, alles andere sei „ökologische Apartheid“. Kohle sei für Indien die billigste Energiequelle, auch Industriestaaten hätten sie ja massiv genutzt. Schließlich wird auf die hohen Kosten einer energie- und klimapolitischen Umstellung für Indien verwiesen, die ohne internationale Unterstützung nicht zu meistern sei.

Das ist alles nicht ganz falsch, aber auch nur zum Teil richtig. In Bezug auf das Armutsargument haben kritische Stimmen schon häufiger darauf hingewiesen, dass sich Indien gleichsam hinter der Armut der Menschen zuhause und weltweit verstecke. Die bislang nicht ans Stromnetz angeschlossenen Haushalte werden auch danach in so geringem Maße Strom verbrauchen, dass dies kaum ins Gewicht fällt. Wohlhabende Schichten in Indien verbrauchen aber mit ihren Autos und Haushaltsgeräten durchaus Energie im Durchschnitt der EU-Staaten; und der Anteil der prosperierenden Schichten an der Bevölkerung wird sich erheblich vergrößern, ebenso das Gewicht energieintensiver Industriesektoren.

Kohle ist nur deshalb billig, weil sie in Indien um die Hälfte weniger kostet als Importe, also zu billig abgegeben wird, um Einspareffekte zu erzwingen. Außerdem sinken die Preise für erneuerbare Energien weltweit dramatisch; in nicht allzu ferner Zukunft dürfte Parität mit Kohlestrom erreicht werden. Zu billig abgegebene Kohle verzögert diesen Prozess. Überhaupt wird Energie in Indien zu niedrig verpreist. Das fördert Verschwendung und entmutigt den Einsatz energiesparender Technologien. Für Benzin und Diesel gilt das nicht mehr, wohl aber für Erd- und Haushaltsgas, Kerosin und insbesondere Strom.

Eine Anpassung der Energiepreise an das internationale Niveau würde für die Armen in Indien zwar Härten mit sich bringen, sie könnten aber aus den eingesparten Subventionen (die den reichsten 10 Prozent zehnmal so hohe Nettozuwendungen bringen wie den ärmsten) leicht kompensiert werden. Die Verluste an wirtschaftlichem Wachstum durch eine klimaverträgliche Politik in Indien werden von Experten auf weniger oder knapp über 1 Prozent des 2030 erreichten BIP beziffert – wenn noch die positiven Nebeneffekte dieses Wandels in Anschlag gebracht werden, praktisch auf null. Historisch sind die Industrieländer in der Tat (in sinkendem Maße) für das Gros der in der Atmosphäre gebundenen Klimagase verantwortlich. Aber hilft es, darauf zu beharren, wenn man ohne eigenes Tun selbst untergeht? Zudem lässt sich dieses Argument auch in die Zukunft wenden: Nach bisherigen Selbstverpflichtungen werden Indien (und China) mehr am noch verbleibenden Kohlenstoffbudget absorbieren, als es ihrem Anteil pro Kopf und einer Verteilung der Anpassungslasten nach den im internationalen Vergleich jeweils geringsten Anpassungskosten entsprechen würde.

Prof. Dr. Joachim Betz ist Senior Research Fellow am GIGA Institut für Asien-Studien.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2016, S.55-58

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