Immer dieser Michel
Washington, Berlin und der Streit um die NATO-Osterweiterung
Ausgerechnet das Obama-begeisterte Deutschland könnte der neuen US-Regierung ihre erste außenpolitische Schlappe bescheren. Während Washington eifrig für den NATO-Beitritt der Ukraine und Georgiens wirbt, setzt Berlin auf Zurückhaltung. Für den Gipfel im April ist eine rasche Annäherung dringend notwendig.
Die Deutschen lieben Barack Obama. Als der Präsidentschaftskandidat im vergangenen Juli nach Berlin reiste, feierten ihn bei seiner Rede an der Siegessäule 200 000 Zuschauer; kein deutscher Politiker hätte so viele Menschen angelockt und derart mitgerissen. Keine europäische Nation feierte Obamas Amtsantritt mit mehr Begeisterung, keine setzt größere Hoffnungen darauf, dass der junge Präsident die immense Anzahl globaler Herausforderungen bewältigt, die er von seinem Amtvorgänger geerbt hat.
Und doch könnte ausgerechnet Deutschland – nicht Russland, nicht der Iran oder Palästina – dem frischgebackenen US-Präsidenten seinen ersten herben Rückschlag zufügen. Denn beim NATO-Gipfel im April sitzt die neue Mannschaft von Präsident Obama am Verhandlungstisch einem deutschen Bündnispartner gegenüber, der in den vergangenen Monaten die Ziele der USA in nahezu allen wichtigen Punkten blockiert hat. Obamas Gipfeltreffen mit Deutschland und anderen wichtigen europäischen Bündnispartnern findet nur zehn Wochen nach seinem Amtsantritt statt und ist darum von entscheidender Bedeutung; der Präsident steht unter Erfolgsdruck. Falls sich Deutschland und die USA nicht umgehend um einen akzeptablen Kompromiss bemühen, muss Obama möglicherweise eine empfindliche Niederlage einstecken – und das zu einem Zeitpunkt, an dem der Westen mehr als zuvor Geschlossenheit braucht, um weitaus dringendere weltweite Probleme zu lösen.
Neben einer ganzen Reihe von offenen Punkten auf der politischen Tagesordnung lautet die mit Abstand wichtigste Frage, wie mit der Ostflanke der NATO umzugehen ist. In den letzten Tagen der Bush-Regierung lagen Washington und Berlin regelmäßig im Clinch darüber, ob, wann und wie der NATO-Beitrittsprozess der Ukraine und Georgiens eingeleitet werden sollte. Im Einklang mit ihrer bisherigen Politik befürworten die USA, die beiden ehemaligen sowjetischen Satellitenstaaten in den Aktionsplan zur NATO-Mitgliedschaft (Membership Action Plan) aufzunehmen, um Demokratie und Stabilität zu verbreiten und Russlands Revisionismus zu bremsen. Berlin spricht sich dagegen für eine behutsamere Vorgehensweise aus. Es scheut sich, das ohnehin schon strapazierte Bündnis mit weiteren Sicherheitsverpflichtungen zu belasten und auf diese Weise Russland zu provozieren, mit dem Deutschland gute politische und wirtschaftliche Beziehungen pflegt.
Düpierte Diplomaten
Seinen Anfang nahm der Streit unmittelbar vor dem letzten NATO-Gipfel im April 2008 in Bukarest, als Präsident George W. Bush bei einer Pressekonferenz in Kiew dem ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko seine Unterstützung für die ukrainische NATO-Bewerbung zusicherte. Die anwesenden deutschen Diplomaten waren fassungslos und verwiesen darauf, dass die USA erst wenige Wochen vorher versprochen hatten, den Aktionsplan zur NATO-Mitgliedschaft in nächster Zeit nicht voranzutreiben. Im Laufe des nachfolgenden Gipfels rang Berlin Washington und seinen Verbündeten in der Beitrittsfrage ein Moratorium ab, das den Vorstoß der USA zu einer vagen Absichtserklärung verwässerte. Diese Erklärung bekräftigte, dass Georgien und die Ukraine in die NATO aufgenommen werden sollten – irgendwann einmal.
Dann kam der Einmarsch Russlands in Georgien. Sowohl Washington als auch Berlin interpretierten den Krieg als Bestätigung der eigenen Position. Den Amerikanern bewies er, dass Russland auf der weltpolitischen Bühne wieder einen Platz beanspruchte und in Schach gehalten werden musste; den Deutschen bestätigte er, dass mit Russland wieder zu rechnen war und dass es respektiert werden musste. In einem Fernsehduell während seines Wahlkampfs forderte der damalige Präsidentschaftskandidat Obama, Georgien müsse sofort in den Aktionsplan zur Mitgliedschaft in der NATO aufgenommen werden. Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier dagegen verlangte eine Untersuchung der Kriegsursachen, was für viele Beobachter wie ein Zugeständnis an Moskau wirkte.
Bei dem anschließenden Machtspiel knickten die USA als erste ein. Die außenpolitischen Vertreter der Bush-Regierung begriffen, dass das Ziel der NATO-Osterweiterung unter den gegebenen politischen Voraussetzungen schlichtweg unrealistisch war. Daher verkündete Außenministerin Condoleezza Rice kurz vor dem NATO-Außenministertreffen im Dezember 2008, dass die Aufnahme der Ukraine und Georgiens in den Aktionsplan vom Tisch sei. US-Diplomaten versuchten, die verfahrene Situation zu lösen: Sie gingen mit dem Kompromissvorschlag in die Verhandlungen, die Absichtserklärung von Bukarest lediglich zu bekräftigen – ein großes Zugeständnis für eine Regierung, die ursprünglich vorhatte, kurz vor Ende der eigenen Amtszeit offensiv für den Aktionsplan zu werben.
Doch zur allgemeinen Überraschung lehnte Berlin das Friedensangebot ab. Viele deutsche Diplomaten vermuteten wohl, dass Washington den Aktionsplan nur scheinbar aufgab, um auf schnellerem Wege durch die Hintertür die Mitgliedschaft der beiden Beitrittskandidaten zu forcieren. Anstatt die Gelegenheit zu ergreifen, den politischen Zündstoff auf diplomatische Weise zu entschärfen, fuhren die Deutschen einen kompromisslosen Kurs. Es genüge nicht, die Erklärung von Bukarest zu wiederholen; vielmehr müssten die USA klarmachen, dass der Aktionsplan zur Mitgliedschaft in der NATO unter normalen Umständen der nächste logische Schritt für Georgien und die Ukraine gewesen wäre, dass aber die vermeintlichen Kandidaten auf den Beitritt nicht vorbereitet seien.
Osterweiterung auf Eis
US-Beobachtern kam es fast so vor, als sei Deutschland in der festen Absicht in die Verhandlungen gegangen, einen öffentlichen Krach zu provozieren. Vielleicht wollten die Deutschen als Abschiedsgruß eine letzte Salve auf die Bush-Regierung abfeuern. Vielleicht vollzieht Deutschland nach Obamas Amtsantritt eine strategische Kehrtwende.
Oder vielleicht auch nicht. Die Bundestagswahlen rücken mit Riesenschritten näher, und Beobachter glauben, dass Angela Merkels Herausforderer Frank-Walter Steinmeier die NATO-Osterweiterung politisch ausschlachten wird, da er nach Möglichkeiten sucht, sich außenpolitisch von den USA abzuheben. Nach dem Treffen im Dezember zeigten sich einige Beobachter besorgt, dass Berlin auch beim nächsten Gipfeltreffen stur auf seinem kompromisslosen Standpunkt beharren, die neue US-Regierung in die Defensive drängen und die Geschlossenheit des Westens so kurz vor kritischen Verhandlungen mit dem Iran aufs Spiel setzen könnte.
Das ließe sich vermeiden. So kurz nach Amtsantritt wäre Präsident Obama gut beraten, eine Ressort übergreifende Delegation mit einer einzigen Aufgabe nach Berlin zu schicken: einen für beide Seiten annehmbaren Kompromiss zur Aktionsplan-Frage zu finden – und zwar noch vor dem Gipfel im April. Da hierzu nur noch wenige Wochen Zeit bleiben, sollten diese Gespräche bilateral und streng auf ein einziges Ziel ausgerichtet sein: Nicht nur die Aufnahme der Beitrittskandidaten in den Aktionsplan, sondern die gesamte NATO-Osterweiterung für die nähere Zukunft auf Eis zu legen, um der neuen US-Regierung zu ermöglichen, sich auf weitaus dringendere Herausforderungen anderswo zu konzentrieren.
Sobald der Streitpunkt Osterweiterung erst einmal vom Tisch ist, werden beide Seiten voraussichtlich kaum Schwierigkeiten haben, bei anderen weniger umstrittenen Punkten im deutsch-amerikanischen Verhältnis Fortschritte zu erzielen. Schon jetzt scheinen sich Washington und Berlin in der Diskussion um das Raketenabwehrsystem und in der Iran-Politik anzunähern. Wenn die USA beim Raketenabwehrschild mehr Zurückhaltung zeigen würden, wäre Deutschland sicher geneigter, sein halbherziges Engagement für die US-Initiative in Teheran aufzustocken. Ähnliche Anstrengungen müssten in der Energiepolitik unternommen werden. Im Tausch für eine flexiblere multilaterale Klimapolitik sollte die US-Regierung von Berlin einen multilateralen Ansatz in der europäischen Energiesicherheitspolitik verlangen.
Selbst wenn die neue US-Regierung an all diesen Fronten Fortschritte erzielt, ist sie wahrscheinlich nicht in der Lage, die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit innerhalb von kurzer Zeit wieder auf das frühere Niveau anzuheben. Zum ersten Mal seit mehr als einer Generation haben seismische geopolitische Verschiebungen – ein widerspenstiges Russland, eine vom Stillstand bedrohte EU und ein überdehntes Nordamerika – begonnen, die Rolle Deutschlands und das deutsche Selbstverständnis als transatlantischer Bündnispartner auf grundlegende Weise zu verändern. Präsident Obama sollte sich allmählich darauf einstellen, diese Herausforderungen anzupacken und mit Berlin in einen umfassenden Dialog über die Grundzüge der Beziehungen einzutreten. Für den Augenblick würde es schon genügen, wenn beide wieder miteinander sprächen und konstruktiv handelten.
Botschafter DONALD K. BANDLER berät u.a. das Weiße Haus, das US-Außenministerium und den Nationalen Sicherheitsrat.
A. WESS MITCHELL ist Forschungsdirektor beim Center for European Policy Analysis (CEPA) in Washington, D.C.
Internationale Politik 3, März 2009, S. 76 - 80.