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27. Apr. 2018

Immer diese Deutschen

Anders als die „Selmayr-Affäre“ suggeriert, ist Brüssel nicht in Berliner Hand

Ist Deutschland in den Institutionen der Union übermäßig einflussreich? Diese Frage stellt sich erneut nach dem rasanten Aufstieg Martin Selmayrs. Dabei belegen alle Personalstatistiken das komplette Gegenteil. Doch die Folgen des Vertrags von Lissabon und die europapolitischen Entwicklungen haben die deutsche Vormachtstellung enorm verstärkt.

Keine fünf Minuten hat es gebraucht, um aus einer Personalentscheidung, die sonst nur die Brüsseler EU-Blase echauffiert, ein europaweites Nachrichtenthema zu machen. Die Bestellung von Martin Selmayr, dem deutschen Kabinettschef des Kommissionsvorsitzenden Jean-Claude Juncker, zum Generalsekretär der Kommission hat einigen Staub aufgewirbelt. Wurde am 21. Februar ein politisch bestens vernetzter Karrierist unter grenzwertiger Dehnung der Vorgaben des Personalstatuts in das mächtigste Amt gehievt, das sich einem Eurokraten in Brüssel anbietet? Um 9:35 Uhr begann die Sitzung des Kollegiums der 28 Kommissare. Um 9:39 Uhr bereits erhielt das Brüsseler Pressekorps per E-Mail die Nachricht, Juncker werde sich keine Stunde später zu einer seiner rar gewordenen Pressekonferenzen begeben, um über die Sitzung zu berichten.

Rein juristisch betrachtet dürfte an Selmayrs Avancement nichts auszusetzen sein. Die Optik allerdings ist, nur etwas mehr als ein Jahr vor den Wahlen zum Europa-Parlament, verheerend. Das weiß man auch in Junckers Behörde. „Die Wahrnehmung ist nicht uneingeschränkt positiv. Eher das Gegenteil“, räumte Günther Oettinger, der für Personal und Haushalt zuständige Kommissar, am 27. März im Kreuzverhör der Europaabgeordneten des Budgetkontrollausschusses ein. „Das Thema berührt politisch interessierte Bürger auch außerhalb Brüssels.“

Die Episode hat eine seit Langem erhobene Klage verstärkt: nämlich jene, dass Deutschland in den europäischen Institutionen unverhältnismäßig stark vertreten sei. Denn drei der vier Institutionen haben fortan deutsche Generalsekretäre: in der Kommission ist es Selmayr, im EU-Parlament Klaus ­Welle und im Europäischen Auswärtigen Dienst Helga Maria Schmid. Wäre Uwe Corsepius nicht vor drei Jahren nach Berlin zurückgekehrt, um das Europa-­Portfolio des Bundeskanzleramts zu übernehmen, so stünde es, salopp gesagt, 4:0 für Deutschland gegen den Rest Europas.

Deutsche halten zudem weitere Führungsposten in den Maschinenräumen der Union inne. Vier der sechs größten Fraktionen im EU-Parlament haben deutsche Vorsitzende: die Europäische Volkspartei den Bayern Manfred Weber, die Sozialdemokraten den Hessen Udo Bullmann, die Grünen die Brandenburgerin Ska Keller und die Vereinten Europäischen Linken/Nordischen Grünen Linken die Thüringerin Gabi Zimmer. Der Europäische Stabilitätsmechanismus in Luxemburg, also der im Zuge der Griechenland-Krise aus dem Boden gestampfte Euro-Rettungsfonds, wird von Klaus Regling geführt. Werner Hoyer sitzt der Europäischen Investitionsbank als Präsident vor. Über die korrekte Verwendung der Mittel aus dem Unionshaushalt wacht wiederum Klaus-Heiner Lehne, Präsident des Europäischen Rechnungshofs. Und wenn im kommenden Jahr das Mandat von Mario Draghi ausläuft, dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank, könnte mit Bundesbankpräsident Jens Weidmann erstmals ein Deutscher die Geschicke der EZB lenken.

Sind die Schaltstellen der Union also in deutscher Hand? Nicht nur aus den Mittelmeer-Staaten hört man diese Kritik. Auch die englischsprachige Presse springt, angeregt von der Causa Selmayr, auf diesen publizistischen Zug auf. „Brüssels Selmayr-Problem: Zu viele Deutsche in Top-Jobs, titelte Politico am Tag der Bestellung des neuen Generalsekretärs.

Es ist allerdings fraglich, ob dies stichhaltig ist. „Gibt es in den Institutionen zu viele Deutsche?“, fragte ein hochrangiger Diplomat eines der Mittelmeer-Staaten rhetorisch zurück. „Die Vorstellung, dass die deutschen EU-Beamten im Dienste der Bundesregierung stünden: Das sehe ich nicht, vor allem nicht bei Herrn Selmayr. Er war nicht der Kandidat Berlins.“ Und er fügte hinzu: „Das ist ein vorübergehendes Phänomen. Es wird 2019 viele Wechsel geben.“

Ist Übermacht messbar?

Nüchtern betrachtet muss man fragen: Kann man die These von der deutschen Übermacht in den Institutionen überhaupt messen? Zwei Ansätze bieten sich an. Beide widerlegen das Bauchgefühl der Deutschland-Kritiker.

Der erste Ansatz ist rein quantitativ. Er stellt die einfache Frage nach der Zahl deutscher Beamter in der Kommission und dem Europäischen Parlament, die mit Abstand personalstärksten Institutionen (die kleineren werden hier vernachlässigt). Dafür gibt es gute Quellen. Die Kommission veröffentlicht jährlich mit Stichtag 1. Januar ein statistisches Bulletin. Aus diesem ist ersichtlich, dass zu Jahresbeginn von den 32 196 Mitarbeitern der Behörde nur 2154 deutsche Staatsangehörige waren. Das entspricht 6,7 Prozent aller Kommissionsbeamten. Zum Vergleich: Deutschland finanzierte 2017 laut Kommission 20,6 Prozent des Unionshaushalts. Am Euro-Rettungsfonds ESM ist es mit rund 27 Prozent beteiligt.

Andere Mitgliedstaaten haben sowohl in absoluten als auch in relativen Zahlen deutlich mehr eigene Staatsbürger im Dienst der Kommission. Belgien hält mit 5060 Mitarbeitern beziehungsweise 15,7 Prozent des Personals den Spitzenwert, was freilich schlüssig ist, denn der Dienstort für zwei Drittel der Beamten ist Brüssel. Dahinter liegt Italien mit 3889 Beamten (was 12,1 Prozent ausmacht), gefolgt von Frankreich mit 3174 beziehungsweise 9,9 Prozent. Auch gibt es mehr Spanier als Deutsche in der Kommission, nämlich 2403 (7,5 Prozent). Gemessen an der Bevölkerungsgröße ist wiederum Griechenland besonders erfolgreich im Platzieren seiner Staatsbürger im Dienste der Union. Obwohl es rund sieben Mal weniger Griechen als Deutsche gibt, stellen sie 1296 Kommissionsbeamte, was 4 Prozent der Gesamtheit ausmacht. Anders ausgedrückt: Die Griechen sind in den Diensten der Kommission ungefähr vier Mal stärker repräsentiert als die Deutschen.

Ähnlich ist das Bild, das die Personalstatistik des Europäischen Parlaments offenlegt. Laut Sekretariat des Parlaments stehen derzeit 7698 Mitarbeiter in dessen Dienst (ausgenommen die Abgeordneten und ihre Mitarbeiterstäbe). Wenig überraschend liegt Belgien hier erneut mit 1215 klar an der Spitze. Dahinter folgen Frankreich mit 960 Beamten, Italien mit 739 und Spanien mit 549. Dann erst kommen die derzeit 492 Deutschen. Sie machen nur 6,4 Prozent aller ständigen Parlamentsbediensteten aus (auch hier ist Griechenland mit 306 Frauen und Männern überaus stark repräsentiert).

Dieser rein quantitative Ansatz reicht jedoch nicht aus, um die Frage nach der möglicherweise überproportionalen institutionellen Macht der Deutschen zu beantworten. Schließlich liegt ein großer Unterschied zwischen dem politischen Pouvoir eines Generaldirektors und dem eines zeitlich befristeten Vertragsbediensteten. Das statistische Bulletin der Kommission enthält auch eine Aufstellung aller Dienstgrade, nach Mitgliedstaaten geordnet, vom Einstiegslevel AD5 bis zum Höchstgrad AD16. Erneut zeigt sich, dass die Deutschen in der Kommis­sion auf allen Führungsebenen eher unterrepräsentiert sind. Auf keiner Dienst­ebene stellen sie die meisten Beamten. Spitzenreiter ist Frankreich, das in vier Klassen die meisten Beamten zählt, gefolgt von Italien, das drei Mal die meisten Funktionäre stellt, und Belgien mit zwei solchen Höchstwerten (Spanien, Polen und Rumänien stellen je einmal die meisten AD-Beamten).

Kurz: Der durchschnittliche Kommissionsbeamte ist weniger oft ein Deutscher, als man es vermuten würde, und er findet sich seltener in den höheren Führungsrängen als erwartet. Doch wie sieht es in der obersten Schicht der Funktionäre aus, dort, wo die institutionelle politische Macht dieser Behörde angesiedelt ist: bei den Generaldirektoren also?

Nach dem Beschluss des Personalpakets vom 21. Februar, im Rahmen dessen auch die Bestellung Martin Selmayrs zum Generalsekretär besiegelt wurde, zählt die Kommission fünf Generaldirektoren aus Frankreich, jeweils vier aus Deutschland, Italien und Spanien, drei aus Großbritannien, jeweils zwei aus Finnland, Griechenland, Schweden und den Niederlanden und je einen aus Estland, Litauen, Luxemburg, Polen, Portugal, der Slowakei und Zypern. Von den derzeit vier deutschen Generaldirektoren führt nur Johannes Laitenberger mit Wettbewerb ein politisch schwergewichtiges Ressort. Rudolf Strohmeier leitet das Amt für Veröffentlichungen, Manfred Kraff den Internen Auditdienst, Ann Mettler das European Political Strategy Centre, die interne Ideenschmiede der Kommission. All das sind wichtige Aufgaben – aber politische Leichtgewichte im Vergleich zu Binnenmarkt, Landwirtschaft, Regionalpolitik oder Wirtschaft und Finanzen.

Gefährliches Nationaldenken

Die Statistik entkräftet also das Argument, die Institutionen seien gewissermaßen in deutscher Hand. Dennoch wird seit einiger Zeit immer öfter die Frage der „Nationalflaggen“ thematisiert, sagt Adriaan Schout, Koordinator für Europa-Fragen bei Clingendael, dem niederländischen Institut für Internationale Beziehungen: „Dieses Thema kommt zurück. Das ist gefährlich, weil es die Gemeinsamkeit der EU-Institutionen untergräbt. Es gibt bereits die politische Wahrnehmung, dass Deutschland und Italien überrepräsentiert sind.“

Woher kommt das Erstarken dieser nationalstaatlichen Eifersüchteleien und Verdächtigungen? Schout sieht die Verantwortung bei Kommissionspräsident Juncker. Er habe die umfassende Personal- und Managementreform seines Vorgängers José Manuel Barroso wesentlich entkräftet. „Eine der wenigen guten Sachen, die Barroso gemacht hat, war es, dieses Nationalflaggenproblem zu beseitigen.“ Die Reform des Beamtenstatuts vor fünf Jahren legte zum Beispiel fest, dass ein Generaldirektor und „sein“ Kommissar nicht Landsleute sein dürfen. Doch genau dieses vernünftige Prinzip schob das Kollegium der Kommissare unter Juncker am 31. Januar beiseite, als es Paraskevi Michou an die Spitze der Generaldirektion Migration und Inneres hob. In Junckers Kollegium ist Dimitris Avramopoulos für diese Belange der zuständige Kommissar. Er ist wie Michou Grieche.

Die Debatte über die Nationalitäten von Schlüsselspielern dürfte mit dem Näherrücken der Europawahlen im Mai 2019 noch schärfer werden, insbesondere im Zusammenhang mit der Nachfolge Draghis. Denn mit Weidmann hat erstmals ein Deutscher Aussichten, die EZB zu führen – und Deutschland wäre „an der Reihe“. Draghis Amtszeit läuft im Oktober 2019 aus: genau zum rechten Zeitpunkt für die nationalen Regierungen, um seine Nachfolge im Rahmen eines großen Personalpakets zu regeln, wenn auch die Vorsitzenden der Kommission, des Europäischen Rates sowie der oder die neue Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik zu ernennen sein werden. Karel Lannoo, Geschäftsführer des Centre for European Policy Studies in Brüssel, hält Weidmanns Berufung für nicht ausgemacht: „Nicht, weil er Deutscher ist – er ist ein bisschen zu gesprächig. Er hat öffentlich zu klare Positionen eingenommen. Ein Notenbanker sollte kein Politiker sein.“ 

Woher also rührt die europapolitische Dominanz Deutschlands, wenn sie sich nicht im Personal der Institutionen widerspiegelt und selbst ein fachlich profilierter deutscher Kandidat nicht davon ausgehen darf, einen den Usancen gemäß Deutschland zustehenden Posten zu erhalten? Die europapolitische Großwetterlage ist ein Teil der Antwort auf diese scheinbare Paradoxie, die Änderungen im Bauplan der Union durch den Vertrag von Lissabon vor einem Jahrzehnt die andere. Neben Deutschland gibt es seit dem Fall der Berliner Mauer keinen anderen großen Mitgliedstaat, der sich für eine Führungsrolle anböte. Frankreich hatte seit François Mitterrand keinen Präsidenten von Weltrang mehr. Das Versagen der italienischen politischen Eliten dürfte demnächst in einer Regierung gipfeln, die entweder von Populisten der Fünf Sterne oder Reaktionären der rechtsextremen Lega geführt wird – möglicherweise sogar von beiden. Spanien erlitt in der Immobilien- und Finanzkrise Schiffbruch, Polen hat sich unter der PiS-Regierung selbst ins Abseits manövriert.

Simpel ausgedrückt: Niemand kann Deutschland die Führungsrolle streitig machen. Und mit der institutionellen Stärkung des Europäischen Rates durch den Lissabon-Vertrag ist europäische Politik – im Guten wie im Schlechten – Chefsache geworden. Berlin wird immer mehr zentrale Anlaufstelle für alle europapolitischen Belange. Eine Forschungsgruppe des Centre for European Research an der Universität Göteborg unter Leitung von Daniel Naurin stellt seit dem Jahr 2003 in regelmäßigen Abständen EU-Diplomaten aller Mitgliedstaaten telefonisch folgende Frage: „Mit welchen Mitgliedstaaten kooperieren Sie am häufigsten, um eine gemeinsame Position zu entwickeln?“ Auf Basis der anonymisierten Antworten und eines Punktesystems erstellen Naurin und seine Mitarbeiter eine Rangliste der Mitgliedstaaten, die am meisten „networking power“ besitzen. Diese Liste führte Deutschland 2015 mit noch größerem Vorsprung an als 2009. An dieser Vormachtstellung wird sich auf absehbare Zeit nichts ändern – selbst dann nicht, wenn Jens Weidmann doch nicht EZB-Präsident wird oder Martin Selmayr sein Amt als Generalsekretär der Kommission unter dem nächsten Kommissionspräsidenten wieder verliert.

Oliver Grimm ist Brüssel-Korrespondent der österreichischen Tageszeitung Die Presse.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai-Juni 2018, S. 21 - 25

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