Immanuel Kant und die Reichweite der Kanonen
Die Abkehr von der Illusion eines ewigen Friedens
Sein 200. Todestag hat Immanuel Kant eine Vielzahl von Würdigungen und seinem Werk erhebliche
Beachtung eingetragen. Heinz Kluss, ehemaliger Generalstabsoffizier der Luftwaffe, macht sich aus diesem Anlass Gedanken über eine mögliche Abkehr von der „Illusion eines ewigen Friedens“
des Königsberger Philosophen.
Wer sich der Mühe unterzog (bzw. sich das Vergnügen gönnte), möglichst viele der zahllosen Artikel zu lesen, die aus Anlass seines 200. Todestags über Immanuel Kant erschienen sind, der musste mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen, dass der große Philosoph offenbar von der heutigen Friedensbewegung umstandslos als einer der ihren vereinnahmt worden ist. Wie selbstverständlich wird er, der sowohl militärische Präemption und Prävention als auch den gewaltsamen Regimewechsel befürwortet, in den klugen Studien von Professoren und in den leidenschaftlichen Reden von Politikern als prinzipieller Kriegsgegner dargestellt.
Offensichtlich haben sie aus seinen Büchern nur herausgelesen, was sie herauslesen wollten. Ein Nachrichtenmagazin verstieg sich sogar zu der Behauptung, „die Teilnehmer der deutschen Massendemonstrationen gegen den Irak-Krieg im vergangenen Frühjahr (hätten sich) leicht Parolen – und die besten Argumente – aus den Schriften des Königsbergers herausholen können.“ Selektive Lektüre muss man auch dem amerikanischen Essayisten Robert Kagan vorwerfen, wenn er schreibt, Kant symbolisiere den „pazifistischen und defätistischen Geist des alten Europa“. Wie kommt es zu diesen Fehlinterpretationen?
Krieg – nur ein „trauriges Nothmittel“
Als unerschöpfliche Quelle utopischer Inspiration dient seit Generationen das philosophische Traktat „Zum ewigen Frieden“, in dem der 72-jährige Kant, leicht ironisch getönt und in einer – so Heinrich Heine – „steifleinenen“ Sprache, die Bedingungen für eine dauerhafte Friedensordnung beschreibt: Scharf verurteilt er Friedensverträge, die den Keim künftiger Kriege in sich trügen; zugleich fordert er, dass stehende Heere „mit der Zeit ganz aufhören“ müssen, dass Militär und Rüstung nicht mittels Schulden finanziert werden sollten, und dass kein Staat sich „durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung“ vergrößern dürfe. Hart kritisiert werden auch Interventionismus und Kolonialismus. Hingegen bewertet er es als friedensstiftend, wenn „die Verfassung in jedem Staat ... republikanisch“ sei, und wenn das Völkerrecht „auf einen Föderalismus freier Staaten“ gründe.
Große Hoffnung setzt er in den „Handelsgeist“, weil der mit dem Kriege, der bloß ein „trauriges Nothmittel im Naturzustande“ sei, „zusammen nicht bestehen kann.“ Positiv sieht er schließlich die „Verschiedenheit der Sprachen und der Religionen“, denen zwar einen Hang zu „wechselseitigem Hasse“ innewohne, die aber „bei anwachsender Kultur“ und „durch lebhaftesten Wetteifer“ dann doch in einen sicheren Frieden münden würde. Kant glaubte offenbar, dass mit dem Westfälischen Frieden 1648 das Ende der Religionskriege eingeläutet worden sei.
Der ewige Friede
Sein Werk „Zum ewigen Frieden“ erschien 1795. Vermutlich ließ sich Kant durch den Baseler Frieden anregen, der am 5. April 1795 zwischen Frankreich und Preußen geschlossen worden war, und den er begrüßte, weil das neue Frankreich, dem seine ganze Sympathie galt, sich gegen das royalistische, das „alte“ Europa durchgesetzt hatte. Die Schrift fand rasche Verbreitung und erregte weithin Aufsehen, Kant persönlich kümmerte sich um die Übersetzung ins Französische. Die Zeitgenossen erkannten, dass seine Ideen auch „auf entfernte Geschlechter hinwirken“ würden, und in der Tat haben sie nicht nur die Wissenschaft bis in die Gegenwart hinein fasziniert, sondern auch die praktische Politik beeinflusst. So wurden die Konstruktionen des Völkerbunds und der Vereinten Nationen, vor allem aber der NATO und der Europäischen Union, durch seine Theorien befruchtet. Wenn auch die damit verbundenen Hoffnungen größtenteils verflogen sind, so heißt das noch lange nicht, dass der Versuch, den Weltfrieden durch einen kosmopolitischen Staatenbund und durch multinationales Krisenmanagement dauerhaft zu sichern, immer und ewig zum Scheitern verdammt sein muss.
Aber auch in einer Föderation, argumentierten Kritiker, wird sich nicht jeder Staat ohne weiteres kollektiven Entscheidungen unterwerfen oder Schiedssprüche gutwillig hinnehmen, auch sie benötige deshalb die Fähigkeit, Recht durchzusetzen – etwas, woran es heute den Vereinten Nationen mangelt, mittels schneller Eingreifkräfte. Kein Geringerer als Friedrich von Gentz, einst Student bei Kant und einer der Tischgäste, die bei „Unmengen Stockfisch und einer Viertelbouteille Bordeaux“ politische Tagesereignisse diskutierten, machte darauf aufmerksam, dass – genau wie der Staat im Innern Gewaltmittel benötige, „um das Recht zur Vollziehung zu bringen“ – auch ein Völkerbund Recht brechende Staaten notfalls mit Gewalt zur Räson bringen müsse. „Nun sind aber Zwangsmaßregeln gegen einen Staat nie etwas anderes als Krieg, mithin wäre selbst in dieser Verfassung der Krieg unvermeidlich.“ Eher griesgrämig schreibt Wilhelm von Humboldt an Schiller, Kants Friedensschrift habe „keinen großen Eindruck“ auf ihn gemacht: „Neue Ideen sind fast keine ...“. Schiller und Goethe ihrerseits machen sich über Kritikaster und Interpreten Kants lustig (und heutige Essayisten sollten das getrost auf sich beziehen): „Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung Setzt! Wenn die Könige baun, haben die Kärner zu tun.“
„Es sollte so seyn, aber es ist nicht so“
Der Boxberger Pfarrer Johann Friedrich Abegg, der 1798 während einer Deutschland-Reise Königsberg besucht, schreibt am 12. Juni in sein Tagebuch: „Heute früh um 7 Uhr kam der Bediente des Herrn Prof. Kant und lud mich zum Mittagessen ... Kant ladet täglich einige ihm angenehme Menschen, um sich sein Mittagessen zu würzen.“ An diesem Tag berührt das Gespräch, nachdem zunächst ein wenig über den König von Preußen, der gerade die Stadt besucht hatte, gelästert worden war, unter anderem die französische Politik.
General Bernadotte war drei Wochen zuvor mit 55 Kriegsschiffen, 280 Frachtern und 40000 Elitesoldaten (sowie Hunderten von Administratoren, Wissenschaftlern und Künstlern) von Toulon aus in See gestochen, und wie alle Welt rätselt auch die Tischgesellschaft, wohin er wohl segeln könnte. Kant tippt auf Portugal als Ziel. (Tatsächlich sind die Franzosen zur gleichen Stunde damit beschäftigt, die Schätze Maltas zu plündern, am 1. Juli werden sie in Ägypten landen, um ein Projekt in Gang zu setzen, das man heute „nation building“ nennen würde.) Abegg notiert, dass Kant im Laufe der Diskussion bemerkt: „Es ist nicht zu erwarten, dass das Recht vor der Macht komme. Es sollte so seyn, aber es ist nicht so.“
Offenbar war der Philosoph, der ja 1795 nicht aufgehört hatte, zu denken und zu schreiben, (wieder?) Realist geworden. Die gelehrten Kommentatoren, die ihn dieser Tage als pazifistischen Kronzeugen missbrauchen, haben ihn offenbar nicht zu Ende studiert, deshalb mag ihnen entgangen sein, dass er sich zwei Jahre später in wichtigen Punkten korrigiert hat.
Hingegen scheinen zeitgenössische Kritiker den Meinungswandel bemerkt zu haben, denn Kant schreibt am 13. Oktober 1797 seinem „hochge-schätzten Freund“ Johann Heinrich Tieftrunk: „Dass meine Rechtslehre bei dem Verstoß gegen manche schon für ausgemacht gehaltenen Prinzipien viele Gegner finden würde, war mir nicht unerwartet.“
Diese Rechtslehre (genauer: „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre“) findet sich in dem gewaltigen, 1797 herausgegebenen Werk „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ und enthält in dem Teil „Das öffentliche Recht“, eingerahmt von den Abschnitten „Das Staatsrecht“ und „Das Weltbürgerrecht“, einen Abschnitt „Das Völkerrecht“, in dem er frühere Positionen zurücknimmt, ändert und relativiert. Während er bisher den Begriff des „gerechten Krieges“ ablehnte, (und die großen Völkerrechtler Hugo Grotius, Samuel von Pufendorf und Emmerich de Vattel, die unter bestimmten Umständen ein Recht zum Krieg bejahten, als „lauter leidige Tröster“ verspottete), schreibt er jetzt: „Im natürlichen Zustande der Staaten ist das Recht zum Kriege (zu Hostilitäten) die erlaubte Art, wodurch ein Staat sein Recht gegen einen anderen Staat verfolgt, nämlich, wenn er von diesem sich lädiert glaubt, durch eigene Gewalt ...“.
Antizipatorische Selbstverteidigung
Gegen welche „Läsionen“ darf nun ein Staat Gewalt einsetzen? Kants Antwort darauf ist die eigentliche Sensation. Wehren darf sich ein Staat nämlich nicht nur gegen eine Aggression, sondern auch gegen eine Bedrohung. „Hierzu gehört entweder eine zuerst vorgenommene Zurüstung, worauf sich das Recht des Zuvorkommens (ius praeventionis) gründet, oder auch bloß die fürchterlich (durch Ländererwerbung) anwachsende Macht (potentia tremenda) eines anderen Staats.“ Allein die Tatsache einer solchen potenziellen Gefahr könne – „vor aller Tat“ – Anlass eines „Angriffs“ sein, und der sei „allerdings rechtmäßig.“ Wer will, mag darin die klassische Begründung für Präventionskrieg und „pre-emptive strike“ sehen. Genauso hatte schon zwei Jahrhunderte zuvor Francis Bacon argumentiert: „Um es ganz klarzumachen: ein präventiver Krieg gegen eine wirkliche Bedrohung muss genauso als Verteidigung gelten wie die Abwehr einer aktuellen Invasion.“ (Eigene Übersetzung von: I shall make it plaine; That Warre Preventive upon Just Fears, are true Defensives, as well as upon Actuall Invasions.)
Selbst das ursprüngliche Verbot, Land gewaltsam in Besitz zu nehmen, wird von Kant nun differenzierter betrachtet – die Befugnis der Besitznahme von Boden erstrecke sich so weit, „als der, so ihn sich zueignen will, ihn verteidigen kann; gleich als ob der Boden spräche: wenn ihr mich nicht beschützen könnt, so könnt ihr mir auch nicht gebieten.“ Und auch das freie Meer dürfe man ausbeuten, so weit „die Kanonen reichen.” Nicht ohne komische verbale Verrenkungen wird die bisherige strikte Verurteilung des Kolonialismus ebenfalls modifiziert. Zwar bezeichnet er die Errichtung von Kolonien, ob mittels Gewalt oder „betrügerischen Kauf“, weiterhin als verwerflich, doch sieht er es nun als Nachteil an, dass ohne Einwanderung große Landstriche ferner Weltteile, „die jetzt herrlich bevölkert sind“, leer geblieben wären, während die Natur selbst doch Leere verabscheue. Kant löst das Dilemma, in dem er feststellt, dass – da es solche Erwerbungen nun einmal gebe – sie „provisorisch“ bleiben müssten.
Für unzulässig erklärt Kant erneut den Strafkrieg (bellum punitivum), den Ausrottungskrieg (bellum internecinum) und den Unterjochungskrieg (bellum subiugatorium). Nicht erlaubt – auch dem Verteidiger nicht – seien Spionage, Terrorismus und Desinformation, das heißt solche „heimtückischen Mittel ..., die das Vertrauen, welches zur künftigen Gründung eines dauerhaften Friedens erforderlich ist, vernichten würden.“ Was aber, wenn ein Hitler diese Regeln bricht und eben doch einen Vernichtungskrieg führt, oder wenn ein Stalin das eigene Volk millionenfach umbringt, oder wenn Terroristen mit Anschlägen drohen, deren Folgen jede Vorstellungskraft übersteigen? Ähnliche Fragen hatten bereits zeitgenössische Kritiker gestellt, im Friedenstraktat blieb Kant jedoch überzeugende Antworten schuldig. Obwohl er die „Bösartigkeit der menschlichen Natur, die sich im freien Verhältnis der Völker unverhohlen blicken lässt“, beklagte, glaubte er offenbar noch an die befriedende Wirkung von Recht und Vernunft. Zwei Jahre später scheint von dieser Hoffung wenig geblieben.
Schurkenstaaten
Haben ihn endlich doch die blutigen Exzesse der Französischen Revolution schockiert oder die Schamlosigkeit, mit der das Königreich Polen ohne Rest zwischen Russland, Österreich und Preußen geteilt worden war, eines Besseren belehrt, oder hat er Napoleons Eroberungen ahnungsvoll vorweggenommen? Wie dem auch sei – jedenfalls akzeptiert er plötzlich, dass es in der Welt auch schlechthin Böses und blanke Unvernunft gibt, und er wählt hierfür den Begriff des ungerechten Feindes: „Es ist derjenige, dessen öffentlich (es sei wörtlich oder tätlich) geäußerter Wille eine Maxime verrät, nach welcher, wenn sie zur allgemeinen Regel gemacht würde, kein Friedenszustand unter Völkern möglich, sondern der Naturzustand verewigt werden müsste.“
Ein solcher – um den heutigen Ausdruck zu benutzen – Schurkenstaat bedrohe die Freiheit aller Völker, diese müssten sich deshalb „gegen solchen Unfug vereinigen und ihm die Macht dazu nehmen.“ Ein gerechter Entwaffnungskrieg?
Carl Schmitt, der den gerechten Krieg als „das schauerlichste, was menschliche Rechthaberei je erfunden hat“, bezeichnet, äußert sich eineinhalb Jahrhunderte später in seinem Buch „Der Nomos der Erde“ über Kants „ungerechten Feind“ leicht irritiert. Der Königsberger Philosoph lasse in „der Wolke seiner vorsichtig formulierten Allgemeinheiten“ offen, „wann die Freiheit bedroht ist, von wem sie bedroht ist, und wer in concreto darüber entscheidet“. Auch bleibe die Frage unbeantwortet, wer in der damaligen Welt, der ungerechte Feind eigentlich gewesen sei. „War etwa das revolutionäre Frankreich der ungerechte Feind? Oder die konservative Habsburgische Monarchie? Oder das zaristische Rußland? Oder das maritime England?“ Für Schmitt sind Kriegsgegner grundsätzlich moralisch gleichwertig, das schließt Schuld und Schurken aus, und „offenbar haben“ – wie Jürgen Habermas jüngst kopfschüttelnd feststellte – „die ‚atrocities‘ des totalen Krieges seinen Glauben an die Unschuld der Völkerrechtssubjekte nicht erschüttern könne.“
Schmitt, der 1941 keine Probleme hatte, den deutschen Eroberungen im Osten seinen völkerrechtlichen Segen zu erteilen und auch in seiner „entnazifizierten Völkerrechtskonzeption“ (Habermas) den Krieg überwiegend als Mittel der „Landnahme“ beschreibt, findet es höchst „überraschend“, dass Kant genau das Gegenteil fordert, nämlich: erobertes Land dürfe keinesfalls aufgeteilt werden, denn „einen Staat gleichsam von der Erde verschwinden zu machen“, wäre ungerecht gegenüber dem Volk, welches sein ursprüngliches Recht zur Nationenbildung niemals verlieren könne.
Regimewechsel
Während Kant im „Ewigen Frieden“ noch postulierte, kein Staat dürfe sich in die Verfassung eines anderen Staates gewalttätig einmischen, hält er es jetzt für zulässig, den überwältigten Friedensstörer „eine neue Verfassung annehmen zu lassen, die, ihrer Natur nach, der Neigung zum Kriege ungünstig ist.“ Heute würden wir von einem gewaltsamen Regimewechsel und erzwungener Demokratisierung – als langfristig beste Sicherheitspolitik – sprechen. Kant macht offensichtlich einen Unterschied, den Schmitt nicht nachvollziehen mag, nämlich den Unterschied zwischen Regime und Volk. Dadurch werde, beklagt Schmitt, „die Intensität des gerechten Krieges noch gesteigert und von der Sache in die Person verlegt“. Eben! Ein gerechter Krieg – so könnte man Kant übersetzen, und so wurde in der Geschichte in zahlreichen Konflikten mehr oder weniger konsequent verfahren – richtet sich niemals gegen das Volk, sondern immer gegen das Regime, den Diktator, den Tyrannen. „Schurken“ sind immer nur der Herrscher und seine Kamarilla, nicht die Beherrschten.
Der amerikanische Präsident George W. Bush erklärte am 12. September 2002 vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen: „Wenn das irakische Regime Frieden will, muss es die Verfolgung seiner Zivilbevölkerung ... beenden ... Die Vereinigten Staaten haben keine Auseinandersetzung mit dem irakischen Volk.“ Auch in der Kriegserklärung des amerikanischen Kongresses vom 11. Dezember 1941 wird ausdrücklich das Wort „Deutschland“ vermieden, der Kriegszustand bestehe mit der „Regierung Deutschlands“. Ebenso bedeutete die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation im Januar 1943 nicht – wie Präsident Franklin D. Roosevelt betonte – „die Vernichtung der ... Bevölkerung, sie bedeutet vielmehr die Zerstörung einer Weltanschauung ..., die auf Eroberung und Unterjochung anderer Völker beruht,“ sie richtete sich also nicht gegen „Deutschland“, sondern gegen Hitler-Deutschland. Auf dieser Basis hätten sich für eine Goerdeler-Stauffenberg-Regierung durchaus Verhandlungsspielräume ergeben.
Zwei weitere historische Beispiele sind erwähnenswert. Als Napoleon von der Insel Elba geflohen und auf dem Weg nach Paris zurück zur Macht war, haben die Alliierten auf dem Wiener Kongress in der Deklaration vom 13. März 1815 nicht Frankreich, sondern ihm persönlich, als dem „Störer der Weltruhe“, den Krieg erklärt – auch im Namen Frankreichs! (Umso größer war die Enttäuschung der Koalition, dass dann doch die Masse der Franzosen, auch die Armee, zu ihm überlief.)
Ähnlich hat der schwedische König Gustav Adolf, als er sich nach gründlichem Studium der gerade erschienenen Schrift des Hugo Grotius „De iure belli ac pacis“ zum Eingreifen in den „deutschen Krieg“ (der später der Dreißigjährige genannt werden wird), entschloss, um die verfolgten Protestanten zu schützen, nicht das Habsburger Reich zum Feind erklärt, sondern die „Papisten“ und den „Friedenshasser“ Wallenstein, der gegen Recht und Gesetz und gegen den Willen des Kaisers Stralsund angreife (es ging um Herrschaft über die Ostsee). Und genau wie es die NATO 1999 lange peinlichst vermied, die Kosovo-Intervention „Krieg“ zu nennen, sucht man auch in der Rechtfertigungsschrift, die Gustav Adolf nach seiner Landung bei Stralsund im Juni 1630 in mehreren Sprachen über Europa streute, den Begriff „Krieg“ vergeblich (deutscher Titel: Vrsachen, Dahero ... Herr Gustav Adolphus ... Endlich gleichfalls gezwungen worden, mit dem Kriegsvolck in Deutschland überzusetzen und zuverrucken. Auss dem Lateinischen verdeutschet. Stralsund, Im Monat Julio MDCXXX). Dass die Militäraktion als humanitäre Intervention gedacht war, hat die schwedischen Soldaten – größtenteils angeheuerte Landsknechte – allerdings nicht an inhumanen Exzessen aller Art gehindert.
„Wer legitimiert das?“
Nach Augustinus wird ein Krieg erst dadurch gerecht, dass der Gegner Recht verletzt hat. Der späte Kant geht einen Schritt weiter. Für ihn ist der Krieg auch gerecht, wenn er der vorbeugenden Gefahrenbeseitigung und der zukünftigen Friedenssicherung dient. Ungelöst bleibt jedoch die Problematik, die der Oxforder Professor Alberico Gentili bereits 1598 angesprochen hat: Was ist, wenn beide Seiten Recht haben? Schließlich zeige die Lebenserfahrung, dass in fast jedem Disput niemand ganz und gar im Unrecht sei, und wenn alle Konfliktgegner nach Recht strebten, könne keinem Rechtsbruch vorgeworfen werden. Unbeantwortet bleibt schließlich die Frage, die mit Joschka Fischer die halbe Welt stellte, als die von den USA geführte Koalition (zum Zwecke der vorbeugenden Gefahrenbeseitigung) in Irak einmarschierte: „Wer legitimiert das?“ Wer – fügen wir hinzu – entscheidet, ob es sich nicht vielleicht in manchen Fällen um eine behauptete oder eine eingebildete Bedrohung handelt? Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, der nach dem Willen der Völker seit 1945 die „Hauptverantwortung für den Frieden“ trägt, der aber durch das Veto eines einzigen der fünf Ständigen Mitglieder gelähmt werden kann (und häufig genug gelähmt wurde)? Oder ist nicht doch die Legitimationsbasis der Europäischen Union und der NATO breiter? Immerhin erfüllen sie im Gegensatz zu den Vereinten Nationen eine Bedingung Kants, die zu seiner Zeit noch eine ferne Utopie war: sämtliche Mitglieder sind Demokratien.
Eingedenk der Warnung Thomas Manns vor „allzu wohlfeilem Tages-Parallelismus“ sei jedoch auf das verführerische Ratespiel, welche Position Immanuel Kant wohl zu den humanitären Interventionen und Entwaffnungskriegen der Gegenwart bezogen hätte, verzichtet; ohnehin hat er selber zu Lebzeiten mit öffentlichen Bemerkungen zur aktuellen Politik gegeizt, vermutlich um sich Ärger mit der preußischen Zensur zu ersparen.
Hingegen dürfen sich heutige und künftige Strategien, die der Staatengemeinschaft (oder einer Koalition der Willigen) das Recht zubilligen (oder gar die Pflicht auferlegen), eine verbrecherische Clique, die an die Spitze eines Staates gelangt ist, mit Gewalt zu beseitigen, oder mittels eines Krieges zu verhindern, dass terroristische Banden und kriminelle Regimes sich in den Besitz von Massenvernichtungswaffen setzen, durchaus auf den deutschen Professor berufen. Die Entscheidung freilich, ob in einer konkreten Situation militärische Gewalt geboten ist, ob die vorliegenden Informationen über die Bedrohung ausreichen, und welche Arten des Handelns rechtens, richtig, erfolgversprechend und verhältnismäßig sind, kann der Philosoph dem Politiker nicht abnehmen.
Internationale Politik 11-12, November/Dezember 2004, S. 155‑162
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