Im Osten nichts Neues
Warschaus Verhältnis zu Moskau ist nach wie vor gespannt
Russlands imperiale Träume sind für Warschau bis heute ein Sicherheitsproblem. Der Argwohn, Polen könnte einmal mehr ins Visier Moskauer Großmachtambitionen geraten, drückt sich auch in den Handelsbilanzen aus. Beim Ringen um die Ausrichtung der Ukraine ist der russisch-polnische Gegensatz in Ostmitteleuropa der bestimmende Faktor.
Eigentlich reichen zwei Sätze, um zu erklären, wie Polen den Osten sieht. Den ersten hat Wladimir Putin am 25. April 2005 formuliert: Der Fall der Sowjetunion, sagte der Präsident Russlands damals vor der Staatsduma, sei „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ gewesen. Der zweite Satz kam postwendend aus Warschau. Präsident Putin, gab der damalige polnische Außenminister Adam Daniel Rotfeld zurück, habe sich zweifellos nur „versprochen“. Seine Feststellung sei durchaus richtig – nur dass eben nicht der Zerfall der Sowjetunion die Katastrophe gewesen sei, sondern ihre Entstehung.
Bis heute strömt aus der Spannung zwischen diesen beiden Feststellungen die Energie der polnischen Ostpolitik – und vielleicht der polnischen Außen- und Außenhandelspolitik insgesamt. Polen, das in seiner Geschichte ungezählte Male mit russischer und deutscher Hilfe aufgeteilt worden ist, und dessen kollektive Erinnerung jede Generation mit einem neuen blutig niedergeschlagenen antirussischen Aufstand verbindet, sieht Moskau und seine imperialen Phantomschmerzen bis heute als das fundamentale Problem seiner Sicherheit. Während sein Verhältnis zu Deutschland, das aus gutem (oder genauer: bösem) Grund lange ebenso schlecht war wie das zu Russland, sich stetig verbessert – so weit, dass Angela Merkel in Polen heute die bei weitem beliebteste ausländische Politikerin ist –, bleibt Russland die Projektionsfläche uralter Existenzangst. Aus polnischer Sicht hat sich der große Nachbar im Osten bis heute nicht von seiner imperialen Vergangenheit distanziert; die Sowjetunion, der der russische Präsident nachtrauert, wird in Polen vor allem mit Besatzung, Deportation und Massenmord assoziiert. Warschau beobachtet mit Luchsaugen, wie russische Armeen oder russische Energiekonzerne bis zum heutigen Tage auf dem Territorium des gefallenen Reiches, in Georgien, Weißrussland oder der Ukraine, immer neue Zonen der Abhängigkeit schaffen. Der Argwohn, dass auch Polen wieder ins Moskauer Visier geraten könnte, ist wach – was sich auch an den Handelsbilanzen ablesen lässt: 2011 war Russland mit einem Anteil von 4,2 Prozent der Exporte lediglich Polens siebtwichtigster Außenhandelspartner – weit hinter Deutschland (26,8 Prozent). Beim Import liegt Russland auf Rang zwei – dank seiner Gas- und Öllieferungen.
Seit dem Fall des Kommunismus hat es zwar immer wieder bedeutende Schritte zur russisch-polnischen Annäherung gegeben. Russland hat einige der wichtigsten Verbrechen Stalins gegen Polen zugegeben, allen voran den Hitler-Stalin-Pakt, der 1939 den deutsch-russischen Überfall auf Polen vorbereitete, und die Morde von Katyn, die 1940 folgten. Dennoch ist das polnisch-russische Verhältnis aus dem Schatten der Vergangenheit nie herausgekommen.
Fundamentaler Interessengegensatz im östlichen Mitteleuropa
Der Grund liegt in einem fundamentalen Interessengegensatz, der in den vergangenen hundert Jahren zwar zeitweise überdeckt worden ist, aber nie aufgehört hat, zu existieren. Dieser Gegensatz betrifft das östliche Mitteleuropa. Während nämlich Russland seit dem Sturz des letzten Zaren immer wieder versucht hat, die Landstriche und Völker auf der osteuropäischen Landbrücke zwischen Ostsee und Schwarzem Meer unter seine Kontrolle zu bringen, hat Polen stets alles daran gesetzt, deren gemeinsamen Widerstand gegen Russland zu organisieren. Die Länder des Baltikums, Weißrussland und die Ukraine galten den Polen immer wieder als natürliche Verbündete und als Pufferzone gegen die gewesene Vormacht.
Dieses Konzept ist so alt wie das 1918 aus den Trümmern des deutschen, des österreichisch-ungarischen und des russischen Reiches wieder entstandene Polen. Schon Marschall Jozef Pilsudski, der legendäre Gründer der „Zweiten Rzeczpospolita“, träumte im Sinne des so genannten polnischen „Prometheismus“ eine Zeitlang davon, den größeren und kleineren Völkern zwischen Russland und Polen zum gemeinsamen Schutz und Trutz die Unabhängigkeit zu sichern, und in der Schwächephase Russlands während der Oktoberrevolution machte er sich zeitweise sogar Gedanken über die Uniformen einer künftigen weißrussischen Armee. Es ist damals nicht so gekommen. Während des Kalten Krieges, als Polen ein sowjetischer Satellitenstaat war, und die Länder zwischen Warschau und Moskau Teilrepubliken der Sowjetunion, konnte die polnische Führung das alte Konzept der freien Völker Osteuropas nicht weiter verfolgen. Im Exil aber, vor allem bei der Pariser Emigrantenzeitschrift Kultura, entwickelten Denker wie Jerzy Giedroyc und Juliusz Miroszewski in den siebziger Jahren das seinerzeit noch utopische Konzept eines polnischen Bündnisses mit den damals längst nicht mehr (oder vielmehr: noch nicht) existierenden Ländern der Gruppe „ULB“ weiter: In einem künftigen freien Europa sollte Polens Sicherheit auf einer engen Kooperation mit der Ukraine, Litauen und Belarus (Weißrussland) beruhen.
Die Lehre der Kultura ist seit dem Systemwechsel 1989 in Warschau eines der wenigen Konzepte, über das quer durch die Lager stets Einigkeit herrschte. Sie wurde, was man in Polen gerne eine politische „Doktrin“ nennt: ein unumstößlicher, parteiübergreifender Grundsatz. Vom postkommunistischen Präsidenten Aleksander Kwasniewski bis zu seinem nationalkonservativen Nachfolger Lech Kaczynski haben polnische Staatsoberhäupter und Regierungschefs immer alles getan, um die 1991 unabhängig gewordenen Teilrepubliken der Sowjetunion in der Abwehr Moskauer Hegemonialansprüche zu stützen. Diese polnische „Mission“ hat zeitweise bis in den Kaukasus gereicht. Präsident Kwasniewskis Intervention zur Stabilisierung der Ukraine während der demokratischen „orangefarbenen Revolution“ von 2004 gehört hierher, aber auch Lech Kaczynskis Georgien-Flug gleich nach dem Einmarsch der russischen Armee in Abchasien und Südossetien im August 2008. Dass alle Länder dieser Zone so bald wie möglich Mitglieder der NATO und der Europäischen Union werden müssen, gehört zum Credo jeder polnischen Außenpolitik.
Nach der Wende hat der polnische Schutzinstinkt gegenüber den östlichen Nachbarn Warschau von Anfang an in latente Spannung zu Moskau gebracht – auch wenn es schon seit den Zeiten der Perestrojka immer wieder Phasen der Entspannung gab. So ließ Michail Gorbatschow als Geste der kritischen Selbsterkenntnis den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 veröffentlichen, dessen Existenz die russischen Kommunisten stets bestritten hatten, und das „Massaker von Katyn“ mit seinen mehr als 20 000 Opfern im sowjetisch besetzten Teil Polens während des Zweiten Weltkriegs beschrieb er als „eines der schwersten Verbrechen des Stalinismus“. Solche Zeichen Moskauer Gewissensprüfung haben die Wirkungen der polnisch-russischen Konkurrenz in Osteuropa tatsächlich immer wieder lindern können. Da aber Russland sich aus polnischer Sicht anders als Deutschland nur sporadisch zu den dunklen Flecken seiner Geschichte bekannte und sich von seiner imperialen Tradition nie vollständig trennte, sind auf Perioden des Tauwetters immer wieder Eiszeiten gefolgt.
Der jüngste Wettersturz hat 2010 stattgefunden, und zwar jäh und unvermittelt nach einer längeren Periode der Entspannung. Zuvor hatte es über Jahre so geschienen, als könnten sich nach dem Amtsantritt des liberalkonservativen, allem nationalen Pathos abholden polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk die polnisch-russischen Beziehungen ebenso fundamental verbessern wie das Verhältnis zwischen Polen und Deutschland. Tusk hatte bei der Parlamentswahl im Herbst 2007 den streitbaren Jaroslaw Kaczynski (den Bruder des Präsidenten Lech Kaczynski) aus dem Amt gedrängt. Während die nationalkonservativen Zwillinge im Verhältnis zu den historischen Feinden Deutschland und Russland keinem Konflikt aus dem Weg gegangen waren und die EU durch eine unerbittliche Vetopolitik an der Verbesserung ihrer Beziehungen zu Moskau hinderten, entwickelte Tusk Anfang 2008 einen völlig neuen Ansatz. Polen sollte sich durch eine neue, kooperative Europa- und Deutschlandpolitk die Handlungsfreiheit gewinnen, um dann, ein starkes Bündnis im Rücken, auch die Spannungen mit Russland „auf Augenhöhe“ abbauen zu können. Die Grundlage dieser Verständigung sollte genau wie im Fall Deutschlands eine schrittweise Einigung über die Geschichte und ihre Lasten sein. Eine „Gruppe für schwierige Angelegenheiten“, bestehend aus Historikern beider Seiten, sollte die strittigen Fragen untersuchen.
Der neue Ansatz war zunächst ein Erfolg. Die „Gruppe für schwierige Angelegenheiten“ machte beachtliche Fortschritte. 2009, zum 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs, bekannte Wladimir Putin in der polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza, der Hitler-Stalin-Pakt sei ohne Zweifel moralisch verwerflich gewesen. Im Jahr darauf, als sich das Massaker von Katyn jährte, besuchte er – eine beispiellose Geste – zusammen mit Tusk die Gräber der polnischen Opfer in der Nähe der russischen Stadt Smolensk. 2010 markierte damit den Kulminationspunkt der polnisch-russischen Verständigung (auch der bilaterale Handel machte mit einem Zuwachs um 31 Prozent einen Sprung) – und zugleich einen weiteren Kipppunkt. Die Wende kam in Gestalt einer Katastrophe. Am 10. April, nur drei Tage nach Tusks und Putins gemeinsamen Gedenken, stürzte Präsident Lech Kaczynski mit seinem Regierungsflugzeug beim Anflug auf Smolensk ab. Kaczynski hatte ebenfalls die Gedenkstätte Katyn besuchen wollen. Dass er gerade dort zusammen mit seiner Frau und 94 weiteren Mitreisenden starb, schien die Versöhnung zunächst sogar zu beschleunigen. Die Welt sah zu, wie Putin den zum Unglücksort geeilten, sichtlich verstörten Tusk in die Arme nahm, und in den Tagen danach sendete das russische Staatsfernsehen – eine Sensation – Andrzej Wajdas Film „Katyn“, der das sowjetische Massaker schonungslos schildert. Russland schien voller Mitgefühl.
Doch steckte das Versöhnungsprojekt da schon in die Krise – wegen einer dramatischen Umwälzung in „Zwischeneuropa“, seit 1989 Schauplatz rivalisierender Moskauer und Warschauer Konzepte. In der Ukraine, Europas zweitgrößter Flächenstaat nach Russland und das wichtigste Land der Region, war genau zwei Monate vor Putins und Tusks historischem Treffen in Smolensk die „orangefarbene Revolution“ endgültig gescheitert. Bei der Präsidentenwahl am 7. Februar 2010 hatte der russophone und unverhohlen NATO-feindliche Viktor Janukowitsch die westlich orientierte Ministerpräsidentin Julija Timoschenko geschlagen. Der 2004 begonnene Westdrift der Ukraine fand ein jähes Ende. Janukowitschs gelenkte Justiz begann, die Demokratiebewegung zu kriminalisieren. Führer der Revolution wie Timoschenko und Jurij Luzenko kamen ins Gefängnis, das zuvor beinahe euphorische Verhältnis der EU zur Ukraine kühlte sich drastisch ab und ist heute so schlecht wie nie. Ein fertig ausgehandeltes Assoziierungs- und Freihandelsabkommen, das die Ukraine so nahe an Europa heranführen sollte wie die Schweiz oder Norwegen, liegt seither auf Eis.
Die Isolierung des Regimes Janukowitsch wird seither von Russland gnadenlos ausgenutzt. Die Ukraine ist aus russischer Sicht historisches Kernland; hier haben die Ostslawen das Christentum angenommen, von der Hauptstadt Kiew aus hat Großfürst Jurij Dolgoruki einst Moskau gegründet – und weil das so ist, hat Putin nach dem Scheitern der Demokratiebewegung offenbar dazu angesetzt, die „geopolitische Katastrophe“, den Zerfall der Sowjetunion, zumindest in ihren Folgen ein wenig zu lindern. Da die schwerindustriell geprägte Ukraine vom russischen Gas so abhängig ist wie ein Junkie vom Dealer, begann der Moskauer Staatskonzern Gazprom, das Land durch erbarmungslose Preissteigerungen in den Ruin zu treiben. Mittlerweile kostet russisches Gas die Ukraine zehnmal so viel wie vor zehn Jahren; und gleich nach Janukowitschs Machtantritt setzte Putin durch, dass Kiew den Schwarzmeerhafen Sewastopol für einen geringen Gasrabatt bis 2047 an die russische Schwarzmeerflotte verpachten musste. Seither haben russische Politiker immer wieder offen dargelegt, dass Kiew dem Würgegriff des Riesen Gazprom nur entkommen kann, wenn es seine europäischen Assoziierungspläne aufgibt und sich einer russisch kontrollierten Zollunion anschließt – die viele Ukrainer als Nachfolgeorganisation des russischen Reiches deuten.
Das Ringen um die Ukraine
Mit diesem neuerlichen Griff nach der Ukraine ist Russland in Osteuropa zum direkten Gegenspieler Polens geworden. Während nämlich viele europäische Regierungen (nicht zuletzt die deutsche) nach Janukowitschs Rückkehr zum Autoritarismus im Begriff sind, das Projekt der ukrainischen Westbindung aufzugeben, kämpft Polen weiter um seine historische Vision eines Schutzbundes osteuropäischer Völker. Westeuropäische Regierungschefs meiden Janukowitsch wie einen Aussätzigen, aber Polens Präsident Bronislaw Komorowski, ein früherer Dissident aus dem antikommunistischen Untergrund, lässt keine Gelegenheit aus, den sowjetisch geprägten Apparatschik Janukowitsch zu treffen, sein Ansehen in der Welt zu verbessern und in Europa für die Ukraine zu werben. Veteranen der polnischen Politik wie Janusz Reiter, ehemals Botschafter in Deutschland und in den USA, drängen Europa dazu, die geplante Assoziierung jetzt ja nicht fallen zu lassen. Das strategische Glacis Ukraine nur deshalb den Russen zu überlassen, weil die gegenwärtige Führung einem gerade nicht demokratisch genug scheint, hält diese Denkschule für kontraproduktiv. „Es gibt 150 Länder auf der Welt, in denen wir unsere Prinzipientreue besser beweisen können“, sagt Reiter. Niemand könne wollen, dass die Ukraine an Russland fällt, der Westen aber „auf seinen Prinzipien sitzenbleibt“. Auch in Sachen Wirtschaftsbeziehungen bemüht sich Polen. Laut Ernst & Young schufen polnische Investoren, die mit einem Anteil von 6 Prozent an den ausländischen Direktinvestitionen auf Rang sechs lagen (zwischen 2006 und 2010; 1. USA: 12 Prozent; 2. Deutschland: 12 Prozent; 3. Russland: 10 Prozent), mit 1900 Arbeitsplätzen mehr als alle anderen.
Weil Polen beinahe bedingungslos die Ukraine stützt, ist der russisch-polnische Gegensatz heute wieder ein bestimmender Faktor in Osteuropa. Die Versuche der Entspannung gehen zwar weiter: Der historische Dialog wird fortgesetzt, die russische Exklave Kaliningrad ist in den kleinen Grenzverkehr der EU aufgenommen worden, vergangenen Sommer hat erstmals der orthodoxe Patriarch von Moskau Warschau besucht. Dennoch ist die Stimmung giftig. In der polnischen Öffentlichkeit blühen Mordtheorien, denen zufolge der Flugzeugabsturz Lech Kaczynskis auf ein russisches Attentat zurückgeht, und die Regierungen streiten darüber, wann die russischen Behörden dessen zerschmetterte Tupolew 154 endlich in die Heimat zurückkehren lassen.
Der polnisch-russische Interessengegensatz ist im Ringen um die Ukraine in voller Schärfe wiedergekehrt. Während Moskau immer unverhohlener nach Kiew, der „Mutter aller russischen Städte“, greift, kehrt in Warschau die Sorge wieder, Polen könnte als nächstes dran sein. Wie sehr dieser alte Furchtreflex mittlerweile alle Sphären der Warschauer Politik durchdringt, hat Roman Kuzniar, ein enger Berater Komorowskis, kürzlich in einem Zeitungsaufsatz demonstriert. Kuzniar rief die zögerliche politische Klasse seines Landes dazu auf, alles zu unternehmen, um trotz weitverbreiteter Skepsis in der Wählerschaft den Euro auch in Polen einzuführen. Die Sorge vor Russland schien klar durch: Wer die gemeinsame Währung nicht habe, so Kuzniar, werde niemals zum „harten Kern“ des Westens gehören, zur Zone der maximalen Sicherheit. Wer den Euro nicht habe, der bleibe „an der Peripherie der Union, an der Peripherie Europas“. Polen dürfe das „aus vielen offensichtlichen Gründen nicht zulassen“, denn sein Ausstieg aus der vollen Integration „würde nur Moskau Genugtuung bringen“. Die Warschauer Europapolitik hat damit zu einem wichtigen Teil funktionalen Charakter: Der Drang nach Westen entspringt nicht zuletzt der Furcht vor dem Osten.
Konrad Schuller ist Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Polen und die Ukraine.
IP Länderporträt Polen, März/April 2013, S. 14-19