Im Kampf gegen das Fieber
Brückenbauer, Kompromisskönig und dennoch Präsident von zwei Amerikas: Joe Biden navigiert die USA durch extrem herausfordernde Zeiten. Nach dem ersten halben Jahr ist manches gelungen – doch die wahren Riffs stehen noch aus.
Ein gutes halbes Jahr ist Joe Biden nun im Amt, und innenpolitisch scheint der Auftakt der Präsidentschaft durchaus gelungen zu sein. Rund die Hälfte der Amerikanerinnen und Amerikaner bewertet die Arbeit des 78-Jährigen in dem von den Umfragesammlern der Nachrichtenseite RealClearPolitics ermittelten Durchschnitt positiv – fast so viel wie seinerzeit bei Barack Obama und weit mehr als beim Vorgänger Donald Trump.
Doch das öffentliche Meinungsbild hat einen Fleck: Jeder dritte Amerikaner glaubt immer noch, dass eigentlich nicht Biden, sondern Trump im Weißen Haus sitzen müsste. Das zeigt eine Umfrage, die die Nachrichtenagentur AP und das Meinungsforschungsinstitut NORC von der Universität Chicago in der zweiten Julihälfte durchgeführt haben. Noch krasser ist das Ergebnis, wenn man allein die Republikaner betrachtet. Auf die Frage „Ist Joe Biden der rechtmäßige Präsident der USA?“ antworten 66 Prozent mit Nein.
Von einer Spaltung des Landes zu sprechen, wirkt da fast schon lapidar. Tatsächlich gebe es „zwei Amerikas – das rote Amerika von Donald Trump und das blaue Amerika von Joe Biden – mit parallelen Realitäten ohne Berührungspunkte“, analysiert die Kolumnistin Susan Glasser im Magazin The New Yorker. Die Corona-Pandemie habe daran nichts geändert. Im Gegenteil: Weil Maskentragen und Impfen zu Zielscheiben des rechten Kulturkampfs geworden sind, spiegelt die Karte mit den täglichen Neuinfektionen inzwischen auf makabre Weise die politischen Machtverhältnisse im Land: Dort, wo die Republikaner regieren, ist sie dunkel gefärbt.
Am extremsten kann man die Polarisierung rund ums Kapitol der US-Hauptstadt erleben, wo sich die am 6. Januar von einem gewalttätigen Mob heimgesuchten Mitglieder des Kongresses nicht einmal auf die Einsetzung eines gemeinsamen Ausschusses zur Untersuchung des Putschversuchs einigen konnten. „In Washington erfasst die parteiische Wasserscheide inzwischen große und kleine Dinge. Sie bestimmt nicht nur, wie Politiker abstimmen, sondern auch, wo sie leben, essen und einkaufen“, hat Glasser treffend beobachtet.
In diesem verminten Umfeld wirkte es wie eine kleine Sensation, dass sich Demokraten und Republikaner im Senat Anfang August gleichwohl auf ein gewaltiges Infrastrukturgesetz einigen konnten, das neue Ausgaben von rund 550 Milliarden Dollar für Straßen, Brücken, Schienen, das Stromnetz und den Breitbandausbau vorsieht. Ein solch gigantisches überparteiliches Investitionspaket wäre an sich schon bemerkenswert. Dass sich 19 Republikaner mit ihrer Zustimmung über die Einschüchterungen von Trump hinwegsetzten, der aus seinem Golfclub in New Jersey mit politischer Rache drohte, scheint ein hoffnungsvolles Zeichen zu sein.
Entsprechend stolz heftete sich Biden den Erfolg an die Brust und sprach im festlichen East Room des Weißen Hauses von einem „historischen“ Moment. Auch in den Medien wurde dem Präsidenten ordentlich Tribut gezollt. Der Deal des Präsidenten sei „eine Bestätigung seines Glaubens an die Überparteilichkeit und eine Zurückweisung der Politik der verbrannten Erde seines unmittelbaren Vorgängers“, urteilt Washington-Korrespondent Jim Tankersley in der New York Times. Seine Kollegin Seung Min Kim zeichnet in der Washington Post detailliert nach, wie stark sich der Präsident während der fast viermonatigen, zähen Verhandlungen zunächst im kleinen Kreis von zehn demokratischen und republikanischen Senatoren persönlich eingebracht hatte. Diese Gespräche, so die Reporterin, dienten als Bestätigung für Bidens feste Überzeugung, „dass selbst in einer scharf gespaltenen politischen Atmosphäre die Überparteilichkeit siegen kann“.
Tatsächlich hat Joe Biden die Überwindung der jahrzehntealten, von Trump aus zynischem Machtkalkül vertieften politischen und gesellschaftlichen Gräben der USA von Anfang an zu seinem Markenzeichen gemacht. Bei seiner Vereidigung am 20. Januar, nur zwei Wochen nach dem blutigen Sturm auf das Kapitol, präsentierte sich der neue Präsident als Versöhner. Er wolle das Land zusammenbringen und die Nation einen, versprach er: „Ich werde der Präsident aller Amerikaner sein!“
Zu Bidens politischer DNA gehört der Glaube an die Möglichkeit des Kompromisses, der in seiner 36-jährigen Tätigkeit als Senator von Delaware gewachsen ist. „Politik muss kein wütendes Feuer sein, das alles in seinem Weg zerstört“, postulierte er bei seiner Inauguration. Sechs Monate später feierte er im Garten des Weißen Hauses mit tausend Gästen den Unabhängigkeitstag. „Wenn wir uns um eine gemeinsame Sache scharen, wenn wir uns nicht nur als Republikaner oder Demokraten sehen, sondern als Amerikaner, dann gibt es einfach keine Grenze für das, was wir erreichen können“, warb Biden da. Und als am 10. August der Senat das Infrastrukturpaket tatsächlich mit Unterstützung der Republikaner gebilligt hatte, triumphierte er: „Dieses Gesetz wurde oft für tot erklärt. (...) Es zeigt, dass wir zusammenarbeiten können.“
In der Tat scheint das Infrastrukturpaket Beweis für die Möglichkeit von „bipartisanship“ zu sein, von überparteilicher Zusammenarbeit. Zur Euphorie besteht gleichwohl kein Anlass. Noch ist das Gesetzeswerk nicht in trockenen Tüchern. Es muss zunächst noch vom Repräsentantenhaus gebilligt werden, wo rechte Republikaner und linke Demokraten gleichermaßen murren. Die Mehrheit der Demokraten will dem Kompromisspaket nur zustimmen, wenn die Partei parallel im Alleingang ein 3,5 Billionen Dollar schweres Sozial- und Klimapaket durchs Parlament drückt. Dazu muss eine durchaus umstrittene Ausnahme in der Geschäftsordnung bemüht werden. In jedem Fall kann das Manöver nur gelingen, wenn die Demokraten im Senat alle ihre Stimmen zusammenbekommen, was keineswegs sicher ist. So werden die kommenden Wochen zum politischen Drahtseilakt für Biden.
Tiefe Zweifel am System
Auf einer viel grundsätzlicheren Ebene äußern zudem viele Beobachter in Washington Zweifel, ob der Infrastruktur-Kompromiss tatsächlich als Beleg und Muster für die Funktionsfähigkeit des politischen Systems in den USA taugt. Eigentlich sei ein solches Ausgabengesetz, das einen warmen Geldregen übers ganze Land verteilt, das „Brot-und-Butter-Geschäft“ des Kongresses, schreibt etwa Carl Hulse, der Washingtons Politik journalistisch seit drei Jahrzehnten begleitet, in der New York Times. Dass der Senat dafür vier Monate gebraucht habe, die Verhandlungen immer wieder vor dem Scheitern standen und sich der Präsident kräftig persönlich engagieren musste, demonstriere das fehlende Vertrauen zwischen den Akteuren: „Es belegt, wie kompliziert eine Verständigung sein kann, und dass andere Deals sehr schwierig sein werden.“
Andere formulieren schärfer. „Bestenfalls wirkt der Infrastruktur-Deal wie eine einmalige Ausnahme vom unermüdlichen Widerstand der Republikaner im Senat, der (...) jedes gesetzgeberische Vorhaben von Biden dem Untergang weihen dürfte“, urteilt der Journalist Ronald Brownstein im Magazin The Atlantic. Und der konservative Politologe Norman Ornstein erinnert in einem Gastbeitrag für die New York Times daran, dass Senats-Minderheitsführer Mitch McConnell im Mai ankündigte: „Wir werden 100 Prozent unseres Augenmerks darauf richten, die neue Regierung zu stoppen.“ Die Demokraten, so Ornstein, müssten sich einer harten Realität stellen: „Dieses wird ihr letztes wesentliches Stück überparteilicher Gesetzgebung sein.“ Von nun an drohe ihnen eine „Blockade-Mauer“ der Republikaner.
Tatsächlich deutet wenig darauf hin, dass die Republikaner an einer konstruktiven Zusammenarbeit mit den Demokraten interessiert sind. Im Gegenteil: Einige von ihnen regierte Bundesstaaten hintertreiben in der Corona-Pandemie durch das Verbot von Masken-Vorschriften und eine Sabotage der Impfkampagne aktiv die Bemühungen der Regierung, das Virus einzudämmen. Republikaner verzögern die Bestätigung wichtiger Vertreter der neuen Regierung und erschweren in 14 Bundesstaaten die Stimmabgabe vor allem für afroamerikanische Wähler. Vor diesem Hintergrund scheinen ein überparteiliches Wahlgesetz, eine Polizeireform oder ein neues Einwanderungsrecht illusorisch.
Zudem rücken die Zwischenwahlen im Herbst 2022 näher, und der Vorwahlkampf dürfte die Fronten in Washington noch weiter verhärten. Schließlich werden maßgebliche moderate Republikaner wie Senator Rob Portman aus Ohio, der den jetzigen Kompromiss vorbereitete, dem neuen Kongress nicht mehr angehören.
Radikalisierte Republikaner
Immer offener hinterfragen daher linke Demokraten, ob Biden seine eigenen früheren Erfahrungen mit Hinterzimmerdeals und parteiübergreifenden Kompromissen im Senat möglicherweise verkläre und die inzwischen erfolgte Radikalisierung seiner republikanischen Ex-Kollegen unterschätze. „Bisweilen agiert Biden, als wäre es 1995, ohne die Ereignisse des letzten Jahres wirklich anzupacken“, moniert auch der linke Kolumnist Perry Bacon in der Washington Post. Er kritisiert, dass Biden viel Zeit in die Kompromisssuche investiere, statt seine eigene Agenda im Kongress durchzudrücken. Das zeige, dass es an Bewusstsein fehle „für die Dringlichkeit angesichts der Bedrohung der Demokratie“.
Der Ruf der Parteilinken nach einer konfrontativeren Politik zur Umsetzung ihrer Wahlversprechen klingt nicht unplausibel. Die Zeit drängt. Schon bei den Zwischenwahlen könnte die Partei ihre auf vier Sitze geschrumpfte Mehrheit im Repräsentantenhaus endgültig verlieren. Dann wäre Biden eine „lame duck“.
Doch die Forderung, bis dahin so viel wie möglich im Alleingang durchzuboxen, verkennt die tatsächlichen Machtverhältnisse: In der zweiten Kammer des Kongresses, dem Senat, verfügen Demokraten und Republikaner jeweils über 50 Stimmen. Zwar gibt bei einem Patt Vizepräsidentin Kamala Harris den Ausschlag. Für alle wichtigen Gesetzesvorhaben sind wegen der sogenannten Filibuster-Regelung de facto aber 60 Stimmen erforderlich. Weder eine demokratische Gesundheitsreform noch ein nationaler Mindestlohn von 15 Dollar oder schärfere Waffengesetze haben daher eine Chance, solange der Filibuster besteht. Die Parteilinke drängt auf dessen Abschaffung, was mit 51 Stimmen möglich wäre. Soweit die Theorie. In der Praxis freilich haben mit Kyrsten Sinema und Joe Manchin bereits zwei konservative Senatoren der Demokraten erklärt, dass sie das Vorhaben nicht unterstützen. Es fehlt zurzeit also schlicht die politische Mehrheit für eine solche Geschäftsordnungsrevolte.
Ob sich Biden tatsächlich Illusionen über die Kooperationsbereitschaft der Republikaner macht, ist schwer zu beurteilen. Seine öffentlichen Äußerungen klingen nicht so. „Die Republikanische Partei von heute bietet nichts als Furcht und Lügen und gebrochene Versprechen“, sagte er Anfang August bei einer Spendengala der Demokraten. Zugleich richtete er einen Appell an seine Zuhörer: „Wir müssen durch den republikanischen Nebel schneiden und zeigen, dass nicht die Regierung das Problem ist. Und wir müssen demonstrieren, dass wir, das Volk, immer die Lösung sind.“
Versuch der Einigung
Nicht nur die fehlenden Stimmen im Senat halten Biden offenbar von einem Konfrontationskurs gegenüber den Republikanern ab. Eine parlamentarische Breitseite würde auch die zentrale Botschaft des Präsidenten konterkarieren. „Im Kern verteidigt Biden die liberale Demokratie und die Idee, dass man eine Nation nicht regieren kann, wenn man unterstellt, dass die andere Hälfte des Landes hoffnungslos schrecklich ist“, schreibt David Brooks in der New York Times. Dem konservativen Kolumnisten gefällt dieser Kurs, der „die Regierung von den Kulturkämpfen trennt“.
„Biden hat die Temperatur des Kulturkampfs gesenkt“, lobt auch George Packer. Der Redakteur des Magazins The Atlantic hat gerade ein kluges Buch („Last Best Hope“) über die gefährliche Fragmentierung Amerikas geschrieben. Der aktuelle Präsident, so glaubt er, sei „der richtige Mann für diesen Moment“. Zwar werde Biden vom halben Land nicht gemocht, befand Packer in einem Interview des britischen Senders Channel 4 nüchtern: „Aber es hasst ihn auch nicht.“ Packer geht es nicht um kleinere Geländegewinne einer Partei im Kongress, sondern um die Rückkehr der Vereinigten Staaten zu einer gefestigten demokratischen Kultur. „Wenn die Menschen spüren, dass sich ihre Lebensumstände unter der Politik von Joe Biden verbessern und sie merken, dass ihnen die republikanische Politik nicht hilft oder gar nicht existiert, wird das Trump-Fieber brechen“, glaubt der Autor.
Eine Garantie dafür gibt es freilich nicht – und schon gar nicht für die dringend erforderlichen politischen Erfolge der Demokraten bei den Zwischenwahlen. „Vielleicht“, räumt Packer ein, „wird das eine Generation dauern.“ Das ist keine beruhigende Vorstellung.
Karl Doemens ist USA-Korrespondent des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND) mit Sitz in Washington. Er schreibt unter anderem für die Augsburger Allgemeine, die Frankfurter Rundschau, die Hannoversche Allgemeine Zeitung, den Kölner Stadt-Anzeiger und die Leipziger Volkszeitung.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2021, S. 116-119
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