Hin zu offenen Formaten
Wie viel Mitbestimmung verträgt die deutsche Außenpolitik?
Nach einem Jahr und sechs Open Situation Rooms in ganz Deutschland wird erkennbar, wie viel Potenzial im Austausch zwischen Außenpolitik und Zivilgesellschaft steckt. Worauf kommt es bei der Bürgerbeteiligung an? Und welche Grenzen haben partizipative Formate trotz allem, gerade in der Außenpolitik?
Im Foyer stehen Bio-Schnittchen und Rhabarberschorle bereit, immer wieder wird die Eingangstür aufgestoßen und Neuankommende klinken sich in Gespräche über aktuelle Projekt-Pitches und neue Start-up-Ideen ein. Es könnte ein ganz normaler Mittag im Impact Hub München sein, wenn nicht alle auf einen besonderen Besucher warten würden. Walter Lindner, deutscher Botschafter in Südafrika, kommt kurz darauf herein und freut sich, wieder einmal in seiner Heimatstadt zu sein. Seiner Rolle als Inputgeber im heutigen Open Situation Room steht er etwas skeptisch gegenüber: „Nicht zu viele bunte Kärtchen und Gruppen-Schnickschnack bitte. Lieber Mut zur freien Rede.“ Kurz darauf sind die rund 35 Teilnehmer und Walter Lindner bereits mitten drin in der freien Rede, allerdings unterstützt von zahlreichen bunten Karten und aufgeteilt in kleine Gruppen.
Diese Mischung ist typisch für den Open Situation Room, denn es soll möglichst schnell, viel und kreativ gedacht werden. Ziel ist es, den Erfahrungsschatz einer heterogenen Gruppe von Teilnehmern in Fragen der internationalen Politik abzurufen. Dieses Mal geht es um Ursachen globaler Migration. Die Frage von Botschafter Lindner an die Teilnehmer lautet: Welche Ideen und neuen Lösungsansätze hätten sie zu bieten, um Potenziale in Afrika zu stärken und Ursachen von Migration vor Ort zu bekämpfen?
Außenpolitik galt lange Zeit als staatliches und diplomatisches Hoheitsgebiet; Mitbestimmung durch Bürger war eher unerwünscht. Seit dem Review-Prozess unter Außenminister Frank-Walter Steinmeier aber versucht das Auswärtige Amt, diesen Eindruck zu korrigieren und sich für Stimmen aus der Bevölkerung zu öffnen. Eines der Formate, das während des Review-Prozesses ausprobiert wurde, ist der Open Situation Room. Der Name soll an die ursprünglichen Situation Rooms John F. Kennedys erinnern – mit dem entscheidenden Unterschied, dass der „Open“ Situation Room nicht hinter verschlossenen Türen im Weißen Haus, sondern an öffentlich zugänglichen Orten mit Diplomaten des Auswärtigen Amtes stattfindet. Nach ersten Pilot-Workshops der Entwickler Nicola Forster und Verena Ringler wurde der Open Situation Room vom Mercator Program Center for International Affairs gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt weiterentwickelt und in die Praxis überführt. Ziel dieses unkonventionellen Krisenstabs ist es, ein ergänzendes Diskussions- und Beratungsgremium für aktuelle außenpolitische Probleme zu sein.
Die Mischung macht’s
Damit liegen die Macher der Open Situation Rooms im Trend. Ob „Gut leben in Deutschland“, Re:Publica oder so genannte GovLabs: Viele Akteure probieren derzeit neue Formate der Bürgerbeteiligung, der hierarchiefreien Diskurse und der innovativen Veranstaltungsformate aus; dabei nutzen sie Erkenntnisse und Methoden des Design Thinkings, einem kreativen Prozess zur Lösung komplexer Probleme, der in den USA (Stanford) entwickelt wurde. Doch wie viel Substanz ermöglichen solche interaktiven Ansätze?
Das Format lebt davon, aktuelle Herausforderungen der Außenpolitik mit Menschen zu diskutieren, die mit diesen Fragen direkt nichts zu tun haben, aber genau deswegen viel dazu sagen können: Jeder der 35 Anwesenden im Münchner Open Situation Room hat sich mit seinem individuellen Hintergrund für die Teilnahme beworben und wurde ausgewählt, weil er Komplexität im eigenen privaten oder beruflichen Umfeld zu bewältigen weiß und seine spezifische Denkweise auch auf fachfremde Problemstellungen übertragen will. So treffen sich hier promovierte Physiker mit Start-up-Beraterinnen und bringen ihre Ideen mit denen von Kinderpsychologinnen und Gastwirten zusammen. Kann das funktionieren?
Ja, sagt Design Thinking. Denn komplexe Probleme wie in der Außenpolitik benötigen unterschiedliche Blickwinkel und neue, unkonventionelle Herangehensweisen. Diese Mischung führt zu Ansätzen, auf die ein Einzelner wohl nicht kommen würde. Und so arbeiten der Physiker und die Start-up-Beraterin in ihrer Gruppe gemeinsam an einer MigrAPP, mit der sie über Gefahren auf der Flucht informieren, mehrsprachige Chat-Optionen für den Austausch untereinander anbieten und die Migranten mit Behörden und Institutionen in Kontakt bringen wollen. Die Gruppe der Kinderpsychologin überlegt, wie Jugendlichen vor Ort Perspektiven aufgezeigt werden können und ihre Mitsprache gestärkt werden kann: Eine offene Bühne, in der Kunst und Theater als Ausdrucksmittel genutzt werden, ist ihr Ansatz. Botschafter Lindner bekommt diese Ansätze in mehreren Phasen der Ausarbeitung präsentiert. Er kommentiert und gibt Tipps zur weiteren Bearbeitung. Am Ende wird er freimütig zugeben, dass er von der Vielzahl und Kreativität der Ideen ebenso überrascht sei wie von den Präsentations- und Überzeugungsfähigkeiten der Teilnehmer.
Ähnlich wie Lindner ergeht es auch anderen Inputgebern des Auswärtigen Amtes, die an den bisherigen Open Situation Rooms teilgenommen haben. In Brüssel fragte beispielsweise Martin Erdmann, deutscher Botschafter in der Türkei, wie unter den aktuellen Bedingungen die europäisch-türkischen Beziehungen wieder vertrauensvoller gestaltet werden können. Mit der Gesandten Marian Schuegraf erörterten die Teilnehmer eines Open Situation Rooms im Rahmen des Global Media Forums, wie die Zivilgesellschaft im Iran gestärkt werden könnte. Auch bei der deutschen Botschafterkonferenz Ende August in Berlin oder bei der Münchner Sicherheitskonferenz wurde in Open Situation Rooms gearbeitet.
Ergänzende Ideenschmiede
Doch wie genau sieht die Arbeit in einem Open Situation Room aus? Zuerst erhalten die Teilnehmer von einem Botschafter oder hochrangigen Diplomaten einen kurzen Input, der mit einer konkreten Fragestellung endet. Danach generieren sie in Kleingruppen möglichst viele Ideen und filtern aus diesen die innovativsten und praktikabelsten Lösungsansätze heraus. Sind diese durch den Inputgeber bewertet, geht es um die konkrete Ausgestaltung. Wer ist beteiligt, wie ist es finanzierbar und welche politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Hindernisse müssen überwunden werden? Auch diese Details werden direkt im Workshop auf ihre Machbarkeit geprüft. So entstehen in kürzester Zeit ausgearbeitete Lösungsansätze.
Was bleibt nach gut drei Stunden Diskussion, Gruppenarbeit und Konzeptentwicklung? In erster Linie erhoffen sich die Veranstalter, dass Teilnehmer und Inputgeber gleichermaßen von der Diskussion profitieren. Die komplexen außenpolitischen Herausforderungen von heute erfordern außergewöhnliche Gesprächspartner und -konstellationen, um auf neue Ideen zu kommen. Thomas Bagger, Leiter des Planungsstabs im Auswärtigen Amt, bestätigt diese Hoffnung: „Ich bin mit einer ganz klaren Aufgabe in den Open Situation Room gegangen: Ich brauche für die anstehenden Verhandlungen für eine Waffenruhe und eine Stabilisierung der Lage in Syrien Ideen und möchte neben den etablierten Meinungen der Teilnehmer der Münchner Sicherheitskonferenz auch unkonventionelle Lösungsansätze hören.“ Außenminister Steinmeier bekräftigt in einer Rede vor Mitgliedern des Bundestags, Vertretern aus Zivilgesellschaft und Stiftungen im Dezember 2015: „Wer von Ihnen noch nie an einem so genannten Open Situation Room teilgenommen hat, dem sei dies besonders ans Herz gelegt.“
Als weiteres Ergebnis gibt es einen Kurzbericht, in dem die Gruppen ihre erarbeiteten Ansätze zusammenfassen. Diesen übergeben sie dem Auswärtigen Amt, das den Kurzbericht themenabhängig an die zuständigen Referate weiterleitet. Natürlich sind die Berichte auch online abrufbar.
Doch was ist aus dem staatlichen Hoheitsgebiet geworden, das Außenpolitik so lange war? Haben Steinmeier und seine Diplomaten eine Kehrtwende vollzogen und wollen ihre außenpolitischen Entscheidungen jetzt nur noch unter Einbeziehung der Bevölkerung treffen? Sicherlich nicht. Wichtige diplomatische und sicherheitsrelevante Entscheidungen müssen weiterhin mit der erforderlichen Diskretion behandelt werden. Partizipative Formate wie der Open Situation Room können deshalb lediglich ergänzende Ideenschmieden, aber nicht Ersatz für traditionelle Entscheidungsgremien und -verfahren sein.
Eine andere Herangehensweise, um die Substanz neuer Formate wie dem Open Situation Room zu ergründen, liegt im Vergleich mit herkömmlichen außenpolitischen Veranstaltungen. So gibt es bei der Münchner Sicherheitskonferenz oder beim Global Media Forum vor allem frontal ausgerichtete Formate, zum Beispiel 90-minütige Podiumsdiskussionen, meistens geführt von drei bis fünf männlichen Rednern und einer Moderatorin, an deren Ende gerade noch Zeit für zwei oder drei Fragen aus dem Publikum ist. Bei diesen Konferenzen sticht der Open Situation Room entsprechend deutlich heraus: Hier gibt es kein Podium und auch kein Powerpoint; hier stellt man das Sender-Empfänger-Prinzip auf den Kopf. Die Teilnehmer können, ja müssen sich aktiv einbringen und ihre eigenen Ideen in Kleingruppen entwickeln. Dieses aktive Mitgestalten liegt der heutigen Teilnehmerschaft und insbesondere der jüngeren Generation viel mehr als steife Formate mit frontaler Rede.
Wenn also deutsche Außenpolitik neue Zielgruppen in die Diskurse zum internationalen Engagement unseres Landes einbinden will, und wenn wir heterogene Stimmen zu Wort kommen lassen wollen, dann führt kein Weg an neuen Dialog- und Diskussionsformaten vorbei. Weniger gefragt sind klassische Panels, es geht hin zu offenen Formaten und neuen Formen. Sicherlich gehört für viele Veranstalter, gerade unter klassischen Rahmenbedingungen, Mut dazu; denn je weniger frontal Diskussionen verlaufen, desto weniger können sie im Voraus definiert und choreografiert werden und desto stärker müssen Moderatoren den Prozess begleiten.
Im Open Situation Room muss die Rolle des Moderators deshalb neu gedacht werden; er muss sich mehr als „Facilitator“, also als Prozessbegleiter, verstehen. In der konkreten Ausgestaltung von Formaten wie dem Open Situation Room müssen Nachhaltigkeit und Wirkung produzierter Ideen und Ergebnisse besonders ernst genommen werden, um das Versprechen von Mitgestaltung einhalten zu können. Die OSR-Berichte sind nur ein erster Schritt, um die im Workshop entwickelten Ideen festzuhalten. Die nächsten Schritte – und die Herausforderung der kommenden Monate – sind das Nachverfolgen und transparente Kommunizieren der möglichen Wirkung, die die Ideen aus dem offenen Krisenstab tatsächlich in außenpolitischen Kreisen erzielen.
Annkatrin Kaiser arbeitet als Projektmanagerin im Mercator Program Center for International Affairs (MPC) und leitet die Open Situation Rooms.
Verena Ringler leitet den Bereich Internationale Verständigung der Stiftung Mercator.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2016, S. 88-91