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01. Nov. 2016

Hilfe zur Entwicklung

Europa muss handeln, damit Afrika ein „Kontinent der Zukunft“ werden kann

Wer Europa bewahren will, muss Afrika retten. Von außen kann dies niemand tun. Aber Europa sollte und kann jene Staaten unterstützen, die demokratische Strukturen aufbauen und in die Jugend investieren – und endlich seine desaströse Handelspolitik beenden. Ein Auszug aus dem soeben erschienenen Buch „Die neue Völkerwanderung“.

In ganz Westafrika – in Mali, Niger, Guinea, Senegal und anderswo – wächst die Bereitschaft insbesondere der jungen Afrikaner, ihren Ländern den Rücken zu kehren. Sie haben Smartphones, surfen im Internet, nutzen die sozialen Medien und haben sehr genau im Blick, in welchem Wohlstand Menschen in anderen Regionen der Welt leben. Und während in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts vielen Westafrikanern Südafrika als das Ziel ihrer Träume galt, halten inzwischen die allermeisten Europa für die attraktivste, wenn nicht für die einzige Alternative. Viele von ihnen nehmen Kredite auf, bevor sie sich auf den Weg machen, oder die Familie sammelt für sie, damit sie Transport und Schlepper bezahlen können. Für die zurückgebliebenen Familienmitglieder ist es eine Investition in die Zukunft. Sie hoffen darauf, dass sie, wenn es einer der ihren nach Europa geschafft hat, von dort aus mit Geld unterstützt werden. Und manch einer, der an den Grenzen Europas abgewiesen oder dessen Asylantrag abgelehnt wurde, versucht es ein weiteres Mal. Für sie alle gilt: Sie haben nichts zu verlieren.

Den Massenexodus der jungen, intelligenten und arbeitswilligen Menschen in Afrika quittieren die afrikanischen Staats- und Regierungschefs mit Schulterzucken. Viele von ihnen mögen sich der Illusion hingeben, auf diese Weise die Unzufriedenen und Aufmüpfigen loszuwerden. Sie wollen nicht wahrhaben, dass die Unzufriedenheit in Afrika allgegenwärtig ist – und der Frust, je länger er anhält, irgendwann in Wut umschlagen kann. Sie schweigen zum Sterben ihrer Landsleute auf den Flüchtlingstrecks in der Wüste und zu den Toten im Mittelmeer. Während sich halb Europa den Kopf über die Flüchtlingskrise zerbricht, haben die afrikanischen Herrscher es bislang nicht einmal für nötig gehalten, einen Sondergipfel zur Flüchtlingslage einzuberufen. Wenig verwunderlich ist das, wenn man sich bewusst macht, dass im Jahr 2015 Robert Mugabe den Vorsitz der Afrikanischen Union innehatte. Er ­hätte dort wie Dorfrichter Adam in Kleists Zerbrochnem Krug über sich selbst zu Gericht sitzen müssen. „Afrikas Präsidenten wissen genau, dass sie ihre Leute nicht auffordern können, das Auswandern bleiben zu lassen“, erklärt der nigrische Pater Étienne, der sich in seinem Land um die zahlreichen durchreisenden Flüchtlinge kümmert. „Sie würden damit Revolutionen provozieren. Die Leute würden ihnen entgegenhalten: Dann sorgt gefälligst dafür, dass es daheim Arbeit für uns gibt.“

Den schönen Worten folgen keine Taten

Seitdem der Westen die katastrophalen Folgen der Politik der afrikanischen Herrscher zu spüren bekommt, wird die Kritik an deren Versagen lauter. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2016, die sich auch mit der Lage in Afrika befasste, fand der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan deutliche Worte: „Die Regierenden in Afrika sorgen sich vor allem um einander, weniger um ihre Bürger.“ Und der Generalsekretär von Amnesty International Salil Shetty erklärte: „Wir haben viele Krisen, eine Flüchtlingskrise, eine humanitäre Krise, auch eine Sicherheitskrise. Aber vor allem haben wir eine Führungskrise. Die meisten unserer heutigen Krisen sind vorhersehbar und vermeidbar, sie werden von Regierungen verursacht, die ihre Bevölkerung unterdrücken.“ Und in Washington hatte US-Präsident Barack Obama anlässlich des afrikanisch-amerikanischen Gipfeltreffens im August 2014 verkündet, dass „Afrika keine starken Männer, sondern starke Institutionen“ brauche.

Aber den schönen Worten folgen keine Taten. Man setzt weiter auf vermeintliche Stabilität und gute Geschäfte statt auf Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. So gilt insbesondere Äthiopien dem Westen als „Stabilitäts­anker“ in der Region und unverzichtbarer Helfer bei der Eindämmung radikaler Islamisten am Horn von Afrika. Die autokratischen Regierungen Ruandas und Burundis werden vom Westen unverdrossen weiter unterstützt, auch weil sie sich dem Kampf gegen den Terrorismus angeschlossen haben. Und auch Politiker wie Denis Sassou-Nguesso aus der Republik Kongo finden großen Rückhalt in der westlichen Welt. Schließlich kontrolliert er den Reichtum der Bodenschätze und des Erdöls in seinem Land. Das Gleiche gilt für José Eduardo dos Santos, der seit 1979 in Angola als Präsident an der Macht ist, ungeachtet dessen, dass Angola in den Ranglisten der korruptesten Staaten weltweit regelmäßig einen Spitzenplatz einnimmt.

In Südafrika, der größten Demokratie des afrikanischen Kontinents, fanden im August 2016 Kommunalwahlen statt. Im Land herrscht Unzufriedenheit, auch unter den Anhängern des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC), der seit dem Ende der Apartheid unangefochten regiert. Die Arbeitslosenquote im Land liegt bei 27 Prozent und das Wirtschaftswachstum stagniert. Aber besonders empörten sich die Menschen in Südafrika über das selbstherrliche Gebaren ihres Präsidenten Jacob Zuma, der seit 2009 an der Macht ist. Immer mehr Korruptionsvorwürfe waren gegen ihn erhoben worden. Im Frühjahr 2016 urteilte das höchste Gericht des Landes, dass der Präsident gegen die Verfassung verstoßen habe, als er sein Luxusanwesen in Nkandla auf Staatskosten ausbauen ließ und dabei Steuergelder in Millionenhöhe veruntreute. Zu den Wahlen hatte sich eine Rekordzahl von 26,3 Millionen südafrikanischen Wählern registrieren lassen, die Abstimmung war frei und fair und verlief friedlich. Zum ersten Mal in seiner Geschichte musste der ANC eine herbe Niederlage einstecken. Vor allem in den Großstädten verlor die Regierungspartei ihre sicher geglaubten Mehrheiten und musste die Macht an die liberale Oppositionspartei Demokratische Allianz abgeben. Die Wahl war ein Beweis dafür, dass die Demokratie in Südafrika funktioniert.

In vielen Städten Afrikas – in Johannesburg, Kapstadt und Pretoria ebenso wie in Lagos, Nairobi, Dakar und Addis Abeba – wächst eine Generation heran, die sich politisch immer lauter artikuliert. Die jungen Menschen sind frustriert über die Unfähigkeit ihrer Regierungen und darüber, dass sich in ihren Ländern nichts bewegt. In der senegalesischen Hauptstadt Dakar gründete sich 2011 die Jugendbewegung „Y’en a Marre!“ (Es reicht!) und fand dort großen Zulauf. Die jungen Senegalesen wollen sich nicht länger damit abfinden, dass die Jugendarbeitslosigkeit in ihrem Land bei fast 50 Prozent liegt und es 400 000 Hochschulabsolventen gibt, die keinen Job haben. Ihr Protest, der durch populäre Sänger und Rapper unterstützt wird, trug wesentlich dazu dabei, dass der umstrittene langjährige Präsident Abdoulaye Wade im Frühjahr 2012 damit scheiterte, gegen die Verfassung eine dritte Amtszeit anzutreten.

Viele der jungen Afrikaner von heute haben mit Neugier und Sympathie die Revolutionen des Arabischen Frühlings verfolgt. Sie stellen sich die Frage: Sollen sie in ihrer Heimat für eine bessere Zukunft kämpfen, oder sollen sie, wie so viele ihrer Freunde und Bekannte, die Flucht antreten? Sie verlangen nach Wohlstand, Demokratie und Luft zum Atmen. Und sie fragen sich, ob sie dabei auf die Unterstützung Europas und des Westens zählen können oder ob sie im Stich gelassen werden.

 

Wie man Afrika wirksam helfen kann

Bei allen Diskussionen darum, wie man Afrika am besten helfen kann, darf eines nicht vergessen werden: Die beste Entwicklungshilfe sind gute Wirtschaftsbeziehungen – wenn sie denn auf Augenhöhe stattfinden. Viel wäre schon gewonnen, wenn Deutschland und die anderen Nationen Europas ihren Firmen, die in Afrika investieren wollen, bessere Sicherheiten gewährten. Peking bietet jedem chinesischen Unternehmen, das in Afrika mindestens eine Million Dollar investiert, eine hundertprozentige Staatsgarantie an – ein nicht zu unterschätzender Standortvorteil für Chinas Firmen in Afrika. Deutsche Firmen sind im Vergleich zu Frankreich, Großbritannien und den USA in Afrika stark unterrepräsentiert. Berlin sollte seinen Etat für Hermesbürgschaften für mittelständische Unternehmen, die in Afrika investieren wollen, großzügig aufstocken – und die Investitionsgarantien dabei strikt an das Kriterium der Nachhaltigkeit knüpfen. Das wäre ein sinnvoller Schritt zur Entwicklung Afrikas.

Wenn Afrika eine Zukunft haben soll, muss Europa aber vor allem von seiner desaströsen Wirtschafts- und Handelspolitik Abschied nehmen. Es muss endlich damit aufhören, seine Agrarindustrie auf Kosten der Entwicklungsländer zu subventionieren. Es muss darauf drängen, dass endlich wirksame internationale Maßnahmen gegen das weltweite Landgrabbing getroffen werden, das die armen Länder der Welt ihres wertvollsten Gutes beraubt – ihres landwirtschaftlich nutzbaren Bodens. Denn trotz aller nötigen Anstrengungen zur Industrialisierung: Die Landwirtschaft ist der Schlüssel zur Entwicklung des afrikanischen Kontinents. Durch verbesserte Anbaumethoden und Schutz vor Erosion könnten die Erträge in vielen afrikanischen Ländern ohne große Anstrengungen verdoppelt werden. Afrika benötigt eine breit angelegte Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft: durch Mikrokredite für die verarbeitenden Firmen vor Ort; durch den Bau von Straßen, um den Waren den Marktzugang zu erleichtern; durch den Stopp der Einfuhr von Dumpingprodukten, die den örtlichen Produzenten das Wasser abgraben.

Afrika braucht eine Hilfe zur Entwicklung, die nachhaltig ist und auf ­Eigeninitiative setzt. Dabei spielt die Förderung der kleinen Leute durch Mikrokredite eine zentrale Rolle. Denn schon kleine Summen reichen oft aus, damit sich die Menschen eine eigene Einkommensquelle erschließen können und sich so aus der Armutsfalle befreien. Vor allem gilt es, die Frauen zu fördern – sie sind der Schlüssel zu Afrikas Zukunft. Bei der Rückzahlung von Kleinkrediten gelten sie als wesentlich zuverlässiger als Männer; sie geben ihr Geld nicht für Schnaps aus und sind weniger anfällig für Korruption. In den Bereichen Gesundheit und Erziehung kommt es besonders auf sie an: Wenn der Bildungsgrad der Mütter steigt, sinkt die Säuglings- und Kindersterblichkeit. Und je länger die Mädchen in die Schule gehen, desto niedriger ist später die Zahl ihrer Kinder. Wenn Afrika sein Problem der Bevölkerungsentwicklung in den Griff bekommen will, muss es auf die Frauen setzen.

Aber vor allem muss Europa darauf setzen, dass Afrika endlich gut regiert wird. Was für jedes Land der Welt gilt, gilt auch für die Länder Afrikas: Sie können sich nur entwickeln, wenn sie eine gute Regierung haben. Wie satt die jungen Menschen Afrikas ihre autokratischen Herrscher haben, zeigt das Beispiel von John Magufuli in Tansania. Er wurde im Herbst 2015 zum neuen Präsidenten gewählt. Bei Amtsantritt kündigte er einen entschiedenen Kampf gegen Korruption, Vetternwirtschaft und Verschwendung von Steuergeldern an – ein in Afrika oft gehörter Satz.

Doch Magufuli beließ es nicht bei Worten. Er sagte die Feiern zum Unabhängigkeitstag am 9. Dezember ab und strich das üppige Staatsbankett zur Parlamentseröffnung. Das eingesparte Geld, erklärte er, solle in Krankenhaus­betten und die Bekämpfung der Cholera investiert werden. Kaum ein paar Wochen im Amt, entließ er die Leitung der tansanischen Hafenbehörde und zahlreiche Spitzenbeamte und erhob gegen sie Anklage wegen Korruption und Misswirtschaft. Für den Kampf gegen die Steuerhinterziehung richtete er eine Task-Force ein. Er verkleinerte das Kabinett um die Hälfte auf nun 19 Minister, deckelte deren üppige Gehälter und strich zahlreiche Privilegien. Die zusätzlichen Einnahmen sollen vor allem der Bildung zugutekommen: Seit Anfang 2016 ist der Schulbesuch in Tansania von der Grundschule bis zum Abitur kostenlos.

Diese Nachrichten lösten in den sozialen Netzwerken überall in Afrika einen Sturm der Begeisterung aus. Die jungen Menschen auf dem Kontinent feierten Tansanias Präsidenten als Helden, und immer wieder fielen die Worte: „der neue Mandela“. Ein neues Wort machte die Runde: to magufulify!, auf Deutsch: „Lasst uns den Augiasstall ausmisten!“ Und die beliebteste Frage auf Facebook, Twitter und in zahllosen Blogs lautete: „What would Magufuli do?“

Der tansanische Präsident muss erst noch beweisen, dass er die hohen Erwartungen der Menschen tatsächlich erfüllen kann und dass er sich als Präsident wirklich an die demokratischen Spielregeln hält. Er muss sich mit seinem Kurs nicht nur gegen den Filz in seiner Regierungspartei durchsetzen, die Tansania seit der Unabhängigkeit ununterbrochen regiert. Auch die Mehrzahl seiner Amtskollegen auf dem Kontinent sieht in ihm vor allem einen Nestbeschmutzer und Unruhestifter. Doch das Beispiel Magufuli zeigt einmal mehr, wie groß unter Afrikas jungen Menschen der Hunger nach Veränderung ist.

Denn eines ist sicher: Niemand von außen – nicht Amerika, nicht Europa und auch nicht China – wird Afrika „retten“ können. Das kann Afrika nur selbst, wenn seine Menschen wieder Zuversicht und den Glauben an die ­eigene Stärke gewinnen. Erst dann wird der Exodus der Talente aus ­Afrika ein Ende finden.

Die Afrikaner müssen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Europa kann und sollte ihnen dabei helfen: Damit aus dem ausblutenden Kontinent Afrika ein Kontinent der Zukunft wird.

Asfa-Wossen Asserate wurde in Äthiopien geboren und lebt seit Jahrzehnten als Unternehmensberater für Afrika und den Mittleren Osten und als Buchautor in Deutschland.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2016, S. 17-21

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