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01. Sep 2011

Hilfe für die Heimat

Rücküberweisungen ergänzen Entwicklungshilfe

Dass rund 200 Millionen Menschen weltweit in ein anderes Land auswandern, klingt viel. Jedoch entspricht diese Zahl nur drei Prozent der Weltbevölkerung. Migration kann also kein Ersatz für Entwicklung und die Schaffung von Arbeitsplätzen im Inland sein, und wenn überhaupt, dann nur in sehr kleinen Ländern. 90 Prozent der Ausgewanderten haben ihre Heimat aus wirtschaftlichen Gründen verlassen. Ihre Rücküberweisungen helfen dem Herkunftsland, ohne dem Aufnahmeland einen nennenswerten Schaden zuzufügen, da sie üblicherweise nur einen Bruchteil des Einkommens eines Migranten ausmachen.

Ebenso wenig können Rücküberweisungen ein Ersatz für offizielle Entwicklungshilfe sein, also für die Finanzierung von Projekten, die dem Allgemeinwohl dienen, nicht nur den Familien und Freunden der Migranten. Allerdings ergänzen diese Transfers die Entwicklungshilfe in vielen Fällen, nicht zuletzt bei der Bewältigung der Folgen von Naturkatastrophen und anderer Krisen. Auf die Bedürfnisse der Empfänger sind sie besser zugeschnitten, da sie die Vermittlungsbürokratie umgehen. Und da es sich um Geschenke handelt, schaffen sie keine Verbindlichkeiten; allenfalls werden Ratschläge dazugeliefert, wie das Geld am besten ausgegeben werden soll.

Offiziellen Zahlen zufolge hat der Rücküberweisungsstrom in Entwicklungsländer 2010 einen Wert von 325 Milliarden Dollar erreicht. Das tatsächliche Volumen, das inoffizielle Transfers durch formelle und informelle Kanäle mit einbezieht, wird als weit höher eingeschätzt. So beläuft sich etwa die Summe der Rücküberweisungen nach Afrika wahrscheinlich auf ein Vielfaches der für 2010 ermittelten 40 Milliarden Dollar. Rücküberweisungsströme haben mindestens das dreifache Volumen der jährlichen offiziellen Entwicklungshilfe. In vielen Entwicklungsländern sind sie die größte Quelle externer Finanzierung. In Indien haben sie 2010 die 50 Milliarden-Dollar-Grenze überschritten und damit alle offiziellen und privaten Geldflüsse übertroffen. Mexiko empfängt mehr Rücküberweisungen als ausländische Direktinvestitionen.

Rücküberweisungen übersteigen in Marokko die Einnahmen aus dem Tourismus, in Sri Lanka die Erträge des Tee-Exports und in Ägypten die Gebühren für die Nutzung des Suez-Kanals. Während das absolute Volumen in Ländern wie Indien, China und Mexiko größer ist, ist der Anteil am Bruttoinlandsprodukt in kleineren und ärmeren Ländern tendenziell höher. 2008 machten Rücküberweisungen in Tadschikistan und Haiti mehr als die Hälfte des BIPs aus, und mehr als zehn Prozent des BIP in 23 weiteren Entwicklungsländern.

Versicherung gegen wirtschaftliche Not

Migranten schicken mehr Geld nach Hause, wenn ihre Familien durch einen wirtschaftlichen Abschwung, eine Finanzkrise, eine Naturkatastrophe oder einen politischen Konflikt in wirtschaftliche Bedrängnis geraten sind. Damit sind diese Gelder für die empfangenden Familien eine Art Versicherung gegen ökonomische Notlagen.

Diese Transfers sind auch in der Wirtschaftskrise in den USA, Europa und anderen großen Zielregionen bemerkenswert konstant geblieben. Nach aktuellen Schätzungen sind sie im Jahr 2009 um lediglich fünf Prozent zurückgegangen. Dagegen waren 40 Prozent weniger ausländische Direktinvestitionen zu verzeichnen, und das Geschäft mit Privatkrediten wandelte sich als Resultat der Finanzkrise von einem Zustrom- zu einem Kapitalabflussgeschäft.
Diese Krisenfestigkeit lässt sich auch dadurch erklären, dass Rücküberweisungen von den bereits ausgewanderten Migranten getätigt werden – und deren Anzahl ist naturgemäß von einer krisenbedingten Abnahme an Migrationsströmen nicht betroffen. Zudem versuchen Migranten die Höhe der Rücküberweisungen konstant zu halten, indem sie in Zeiten einer finanziellen Krise ihren Konsum einschränken oder Abstriche bei der Unterkunft machen. Und Länder wie die Philippinen und Indien, deren Migranten sich auf viele Zielländer verteilen, dürften im Unterschied zu Ländern wie Mexiko oder Tadschikistan auch in wirtschaftlichen Krisenzeiten über beständige Rücküberweisungsströme verfügen.

Ein gutes Beispiel für den Zusammenhang zwischen Rücküberweisungen und Armutsbekämpfung liefert Nepal. Hier ist der Anteil der unterhalb der Armutsgrenze liegenden Pro-Kopf-Einkommen zwischen 1995 und 2004 um elf Prozent zurückgegangen – in einer Phase großer politischer und wirtschaftlicher Instabilität. Es waren insbesondere die Transferzahlungen aus Indien, die entscheidend zur Minderung der Armut beitrugen.

In Uganda ließen Rücküberweisungen Umfragen zufolge den Anteil der Armen an der Bevölkerung um elf Prozent sinken, in Bangladesch um sechs und in Ghana um fünf Prozent. Experten haben ausgerechnet, dass ein zehnprozentiger Anstieg von offiziellen Pro-Kopf-Rücküberweisungen zu einem 3,5-prozentigen Rückgang des Anteils an Armen führen kann.

Darüber hinaus wirken sich Rücküberweisungen positiv auf die Gesamtwirtschaft aus und reduzieren dadurch Armut und Sozialhilfeausgaben indirekt. Sie stellen dringend benötigte Devisen bereit und befähigen Länder, Importe zu finanzieren und Auslandsschulden zu begleichen. In Ländern wie Brasilien, Mexiko, El Salvador und Kasachstan haben Banken künftig zu erwartende Rücküberweisungen als Sicherheiten für Milliardenkredite zu geringeren Zinsen und mit längeren Laufzeiten verwendet.

Kritische Beobachter weisen darauf hin, dass Empfängerfamilien mit ihren Transfergeldern häufig unproduktiven Konsum oder Bauvorhaben finanzieren. Es ist nicht wirklich überraschend – aber auch nicht notwendigerweise unproduktiv –, wenn ärmere Familien einen Großteil der Rücküberweisungen für Nahrungsmittel und Unterkunft ausgeben. Aktuelle Umfragen in Afrika belegen allerdings, dass Rücküberweisungen – sogar interne oder interregionale – häufiger für Bildung, medizinische Versorgung und Investitionen ausgegeben werden, als bisher angenommen.

Aus Studien, die sich auf Umfragen in El Salvador und Sri Lanka beziehen, geht hervor, dass Kinder, deren Familien von Rücküberweisungen profitieren, seltener die Schule abbrechen und die Familien mehr Geld für Privatschulen und Studiengebühren ausgeben. In Sri Lanka weisen die Kinder aus diesen Familien ein höheres Geburtsgewicht auf – Indiz dafür, dass sich ihre Familien eine bessere medizinische Versorgung leisten können. Andere Untersuchungen zeigen darüber hinaus, dass Rücküberweisungen wichtige Finanzspritzen für kleinere Unternehmen sind, die kaum Möglichkeiten haben, Kredite aufzunehmen.

Gewiss: Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene können starke und nachhaltige Rücküberweisungsströme zur Aufwertung der Währung führen, was nachteilige Konsequenzen für den Export hat. Das trifft aber auf alle großen Devisenzuströme zu, einschließlich Exporterlösen, Auslandsinvestitionen und offizieller Entwicklungshilfe. Die Folgen sind jedoch im Fall von Rücküberweisungen weniger schwerwiegend als bei anderen Zuflüssen, mit Sicherheit im Vergleich zu Erträgen aus dem Export von Rohstoffen. Rücküberweisungen kommen einem weit größeren Bevölkerungsanteil zugute als Einnahmen aus Rohstoffen und können die schädlichen Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit von Institutionen vermeiden, die mit dem Rohstoffexport verbunden sind.

Das Wachstum ankurbeln

Und wie verhält es sich mit dem Vorwurf, dass Rücküberweisungen Regierungen einen finanziellen Spielraum verschaffen können, den diese nutzen, um öffentliche Investitionen in Infrastrukturmaßnahmen oder sogar langfristige wirtschaftliche Reformen zu vertagen? Es gibt wenige empirische Belege für diese Ansicht, nicht zuletzt aufgrund der methodischen Schwierigkeiten, die wir bei Phänomenen der „verkehrten Kausalität“ haben: Arme Länder mit schwachen Institutionen und einem geringen wirtschaftlichen Wachstum erhalten tendenziell höhere Rücküberweisungen. Schwache Institutionen bedingen in diesem Falle hohe Rücküberweisungen, nicht umgekehrt.

Nun argumentieren einige Autoren, dass Familien, die hohe Summen an Rücküberweisungen erhalten, von dieser Einkommensquelle abhängig werden und in ihrem Elan, ihr Geld mit der eigenen Hände Arbeit zu verdienen, nachlassen könnten, und dass dadurch das Wachstum gebremst würde. Die Befunde zu den Wachstumseffekten von Rücküberweisungen sind aber noch unzureichend. Die empirische Beurteilung ist hier schwierig – nicht nur aufgrund des antizyklischen Charakters von Rücküberweisungen, sondern auch, weil die Auswirkungen auf das so genannte Humankapital erst über einen sehr langen Zeitraum erkennbar werden. Andererseits können Rücküberweisungen in dem Maße, in dem sie Bildung und Gesundheit finanzieren und Kreditbeschränkungen für Kleinunternehmer abbauen, Wachstum sogar fördern. Und da sie den Konsum ankurbeln, können diese Zahlungen auch dann das Einkommensniveau erhöhen und Armut verringern, wenn sie keinen direkten Einfluss auf das Wachstum haben.

Nicht zuletzt können Rücküberweisungen, um einen weiteren Vorwurf aufzugreifen, dazu missbraucht werden, um Geld zu waschen und Terrorismus zu finanzieren. Beweise für solchen Missbrauch sind jedoch in Anbetracht des Volumens der Transaktionen selten zu finden. Rücküberweisungen werden häufig inoffiziell abgewickelt, weil die Regeln, die Missbrauch unterbinden sollen, dafür sorgen, dass offizielle Wege teuer und unbequem sind oder schlicht nicht existieren.

Ob es uns gefällt oder nicht: Solange demografische und Einkommensunterschiede zwischen den sendenden und empfangenden Ländern bestehen, werden Migrationsströme und Rücküberweisungen steigen. Politische Anstrengungen sollten sich daher weniger auf die Kontrolle und sich dafür mehr auf die Anpassung und die Handhabung von Migration konzentrieren. Ein relativ einfacher Schritt bestünde darin, Rücküberweisungen zu erleichtern und sie für die Entwicklung nützlicher zu machen.

Mit weit über 300 Milliarden Dollar pro Jahr sind Rücküberweisungsströme eine wichtige Quelle der Entwicklungsfinanzierung. Kurzfristig hat die Beständigkeit dieser Finanzströme sie zu einer noch wichtigeren Quelle der externen Finanzierung gemacht, die einen Hoffnungsschimmer in schwierigen Zeiten bietet. Die internationale Gemeinschaft kann diese Rücküberweisungen für Entwicklungsarbeit nutzen, indem sie sie einfacher, billiger, sicherer und produktiver macht.

DILIP RATHA ist Experte für Migration und Rücküberweisungen bei der Weltbank.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2011, S. 49-53

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