High Noon für Virenjäger
Islamistische Terrornetzwerke müssen offensiv bekämpft werden
Der offene europäische Raum und das Fehlen einer gemeinsamen Immigrationspolitik haben die Entstehung dezentraler islamistischer Terrorzellen in Europa begünstigt. Um dieser zersplitterten Bedrohung Herr zu werden, sind schärfere Grenzkontrollen, aber vor allem ein „dynamischerer“ Ansatz der Risikovorbeugung nötig: Am dringlichsten ist eine enge, präzise abgestimmte Kooperation der Nachrichtendienste.
Die Entwicklung der Migrationsströme und die Art und Weise, wie in der Vergangenheit damit umgegangen wurde, haben ohne Zweifel die Entstehung terroristischer Phänomene beeinflusst. Das gilt vor allem für die Bedrohung durch die radikalislamische Al-Qaida. Diese Bedrohung entstand zu Beginn der neunziger Jahre mit dem Untergang der bipolaren Welt. Ihr schnelles Anwachsen in den vergangenen Jahren und die Aktivitäten der Terrornetzwerke in Europa haben zahlreiche und komplexe Gründe. Offenbar spielt die illegale Einwanderung eine entscheidende Rolle für den Terrorismus, vor allem in Kontinentaleuropa. Die Spezifik der islamistischen Terrornetzwerke und ihre Entwicklung seit 2001 lassen die drängende Frage des Umgangs mit Migrationsströmen in einem neuen Licht erscheinen.
Man muss sich nur die Hauptcharakteristika dieser radikalislamischen europäischen Netzwerke und Zellen vor Augen führen, um die Rolle zu verstehen, die die illegale Einwanderung bei der Entstehung der terroristischen Bedrohung spielt. Die relative Offenheit des europäischen Raumes, die auf das Fehlen einer effizienten gemeinsamen Immigrationspolitik zurückzuführen ist, hat die islamistische Bedrohung zwar nicht hervorgebracht, sie hat deren Entwicklung jedoch begünstigt.
Radikaler Islamismus als transnationale Bedrohung
Im Gegensatz zu anderen terroristischen Erscheinungsformen, wie sie die separatistischen Organisationen der IRA oder ETA darstellen, sind die radikalislamischen, Al-Qaida nahe stehenden Netzwerke in keiner Weise strukturiert oder gar hierarchisch organisiert. Sie folgen weder einer integrierten Kommandostruktur noch verfügen sie über einen Mitarbeiterstab.
Die islamistische Bewegung, wie sie sich zu Beginn der neunziger Jahre in Europa konstituiert hat, noch verstärkt durch Aktivisten, die sich dem Dschihad anschließen oder in den pakistanisch-afghanischen Raum, nach Bosnien, Tschetschenien und heute in den Irak strömen, ist eine vollkommen andere Erscheinung. Ihre Zellen und Netzwerke sind zersplittert, vielgestaltig, ausgreifend und wandlungsfähig.
Die Mitglieder dieser Strukturen haben eine starke Neigung, rasch ihren Ort zu wechseln, oft in sehr unregelmäßiger Art und Weise und ohne ersichtlichen Plan, was dieser Bedrohung ihr globales Ausmaß verleiht. Diese Strukturen sind keinem Staat zuzuordnen – außer bis November 2001 dem Talibanregime –, und die Zugehörigkeit zu einem Land ist dem islamistischen Denken ebenso fremd wie jedes nationale oder ethnische Konzept. Das europäische Netzwerk könnte eines Tages sogar mit den Dschihadisten Südostasiens, Malaysias, Japans oder sogar Australiens anbändeln, um mit ihnen gemeinsame Sache zu machen. Gleichzeitig könnten sich Mitglieder eines radikalislamischen Netzwerks aus dem Maghreb-Raum in den Kaukasus begeben, um sich dort durch tschetschenische Mudschaheddin oder Angehörige des Netzwerks um Abu Musab az-Zarqawi in der Herstellung und Anwendung nichtkonventioneller Waffen ausbilden zu lassen. Diese Aktivisten lassen sich durch nationale Grenzen nicht behindern; sie bilden transnationale, oft nur kurzlebige und über den europäischen Raum hinausgehende Netzwerke.
Wir stehen also einer Bedrohung gegenüber, die ich „viral“ nennen möchte, einer Gefahr, die sich aus einer Vielzahl kleinster Zellen und Netze zusammensetzt, die sich horizontal und oft zufällig fortpflanzen, auf jeden Fall ohne jegliche zentrale Steuerung. Diese Netze sind seit dem Irak-Krieg stärker geworden. 2003 sind neue Abspaltungen entstanden, die oft aus neuen Dschihadkämpfern bestehen, welche – und das ist eine neue Erscheinung – in ihrer überwiegenden Mehrheit zu Selbstmordanschlägen bereit sind.
So wie sich für die Terrorgruppen die Frage ihrer grenzüberschreitenden Entwicklung stellt, so besteht umgekehrt für die Staaten das Problem der Grenzkontrolle.
Einwanderungskontrolle als Waffe gegen verborgene Netzwerke
Die Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs ist eine der wichtigsten staatlichen Aufgaben und eine der wirksamsten Waffen im Kampf gegen den Terrorismus. Aber diese Kontrolle ist in Europa aus technischen wie aus politischen Gründen wenig effektiv. Man muss die Lage innerhalb des so genannten Schengen-Raums von der außerhalb unterscheiden.
Jedes Land des Schengen-Regimes trägt an seinen Außengrenzen die Verantwortung für die Einreise von Personen aus Drittstaaten in den gesamten Raum. Es ist jedoch zwischen den an den Rändern des Gebiets liegenden Ländern und denen im Inneren zu differenzieren. Frankreich z.B. hat lediglich mit der Schweiz eine EU-Außengrenze, und auch die Schweiz ist dabei, dem Schengener Abkommen beizutreten.
Für die Schengen-„Binnenländer“ findet eine Grenzkontrolle nur noch an den Seegrenzen und auf internationalen Flughäfen statt. Hier ist die Kontrolle natürlich viel einfacher als an Landesgrenzen oder an den mediterranen Seegrenzen mit ihrem Zustrom zahlloser afrikanischer Flüchtlinge, vor allem in Spanien oder Italien.
Die Länder am Rand des Schengen-Raums sind dazu verpflichtet, die Migrationsströme aus Drittstaaten zu kontrollieren. Im Bereich des Kampfes gegen den islamistischen Terrorismus sind vor allem Spanien und Italien betroffen. Die illegalen Einwanderer aus Algerien und Marokko gelangen über Spanien entweder durch die spanischen Enklaven in Marokko oder über die Meerenge von Gibraltar sowie den Hafen von Valencia nach Europa. Viele illegale Mitglieder radikalislamischer Gruppen haben sich auf der iberischen Halbinsel niedergelassen, vor allem die Mitglieder einer der GSPC (Groupe salafiste pour la prédication et le combat) nahe stehenden Zelle, die in Valencia und in Katalonien beheimatet ist, oder Angehörige des Netzwerks von GICM (Groupe islamique combattant maroccain), das an den Anschlägen von Madrid beteiligt war.
Italien ist heute für die irakischen Terrorgruppen ein Umschlagplatz für die Beförderung von „Dschihad-Kandidaten“ zum „Einsatz“ in den Irak. Diese nutzen den Schengen-Raum bis zur griechisch-türkischen Grenze, um Kontrollen zu umgehen. Italien „versorgt“ auch andere Netzwerke, z.B. auf dem Balkan. Die Türkei als Nicht-EU-Staat fungiert bis heute als Drehscheibe für die in Europa, im Kaukasus und im Mittleren Osten operierenden Islamistennetzwerke. Dabei ist die Türkei ein durch die europäischen Sicherheitskräfte besonders kontrolliertes Land.
Großbritannien als Mitgliedsland der EU, jedoch nicht des Schengen-Raums, nimmt eine besondere Stellung ein, vor allem durch den natürlichen Schutz seiner Insellage und Grenzkontrollen, die zu den effektivsten zählen. Seine liberale und tolerante Politik gegenüber islamistischen Gruppen hat jedoch bis zu den Anschlägen von London zahlreiche militante Islamisten angezogen. Die im pakistanisch-afghanischen Raum in den Al-Qaida-Camps ausgebildeten Mudschaheddin kamen aus London.
Diese afghanischen Zweige des Terrornetzwerks konnten zu der besagten Zeit um die von Abu Kutada und seinen Gefolgsleuten ins Leben gerufenen Londoner Strukturen arbeiten. Sie boten den Kandidaten, die über Pakistan nach Afghanistan gingen, die nötige logistische Unterstützung, vor allem in Form gefälschter Dokumente, die sie unter Umgehung der britischen Einwandererbehörden beschafften. So geschah es vor allem bei den Mördern des Anti-Taliban-Kämpfers General Ahmed Schah Massud im September 2001.
Diese Überlegungen zeigen, dass in Europa, und selbst auf einer Insel wie Großbritannien, die Kontrolle der Einwanderung eine schwierige Aufgabe darstellt, die noch längst nicht so perfekt gelingt, wie sie sein müsste. Das wirkt sich unmittelbar auf den Kampf gegen die in Europa tätigen radikalislamischen Netzwerke aus.
Dynamische Ansätze zur Risikovorbeugung
Grenzkontrollen haben ihre Grenzen. Für die Vereinigten Staaten hat das Thema Einwanderung höchste politische Priorität. Es ist klar, dass die fehlenden Identitätskontrollen innerhalb der USA ein perfektes Grenzmanagement an den Außengrenzen erfordern (siehe auch den Text von Ulf Gartzke, S. 48–49).
Aber selbst diese entschlossene und in jüngster Vergangenheit noch verschärfte Politik, die beispielsweise strenge Auflagen für Fluggesellschaften oder Reedereien umfasst, hat ihre Schwächen offenbart. So kontrollieren die US-Behörden die Grenze zu Kanada nicht lückenlos. Aber viele militante Islamisten haben Kanada, besonders die Provinz Québec, gewählt, um Schläferzellen zu bilden. Einige von diesen wurden die Brückenköpfe für die Ausbreitung der Terrornetzwerke auf dem amerikanischen Kontinent. Prominentes Beispiel ist das Netzwerk um den Algerier Ahmed Ressam, der 1999 einen Anschlag auf den Flughafen von Los Angeles plante, bei der Einreise verhaftet wurde und später den US-Behörden zahlreiche Informationen über Al-Qaida-Schläferzellen in den USA gab.
Im Kampf gegen den international operierenden Terrorismus gilt es auch andere Wege zu beschreiten, um eine bessere Kontrolle über dessen weltweite Bewegungen zu erlangen, besonders was die radikalen, Al-Qaida nahe stehenden Islamisten innerhalb Europas betrifft.
Die defensive Strategie, die darin besteht, Grenzkontrollen zu verstärken und eine rigorose Einwanderungspolitik zu verfolgen, ist zu ergänzen durch eine offensive Strategie mit dem Ziel, Terroranschlägen vorzubeugen. Das erfordert eine Neuverteilung der Aufgaben sämtlicher staatlicher Institutionen auf dem Gebiet des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus. Innerhalb dieses dynamischen Ansatzes zur Risikovorbeugung spielt die Informationsgewinnung, spielen die Nachrichtendienste eine wichtige Rolle. Damit kann es gelingen, terroristische Pläne und ihre Akteure noch vor irgendeinem Grenzübertritt aufzudecken. Die Zusammenarbeit zwischen den Nachrichtendiensten, Einwanderungsbehörden, den mit der Terrorabwehr befassten Polizeistellen und den entsprechenden Einrichtungen auf dem Gebiet der Rechtsprechung erlaubt es, die Bedrohung näher an ihrem Ursprungsort zu fassen und geplante Aktionen zu vereiteln sowie potenzielle Täter aufzudecken. Ein derartiges Sicherheitssystem hat man in Frankreich errichtet, und es hat seine Effektivität unter Beweis gestellt.
Eine solche offensive Strategie ist um so notwendiger, als der Bedrohungsgrad durch die zunehmenden Aktivitäten von Schleuser-Netzwerken für Dschihad-Kämpfer im Irak steigt. Diese bestehen aus jungen Fanatikern, die bereit sind, im Irak als Märtyrer zu sterben oder den Dschihad nach Europa zu tragen.
Die Umsetzung einer solchen Strategie erfordert funktionierende interinstitutionelle Beziehungen, um in Echtzeit alle operativ relevanten Informationen auswerten zu können und um auf legalem Weg den Akteuren terroristischer Netzwerke das Handwerk zu legen und ihren Plänen zuvorzukommen. Sie erfordert auch die Verstärkung internationaler Zusammenarbeit auf nachrichtendienstlichem Gebiet, wo sie bereits ein hohes Niveau erreicht hat, und auf juristischem Gebiet – trotz unterschiedlicher Rechtssysteme.
Diese entschlossene Politik kann sich auf gesetzliche und andere Instrumente zum Umgang mit Migrationsströmen und Grenzkontrollen stützen, auch innerhalb des Schengen-Raums. Auf diesem Gebiet gibt es bereits Fortschritte, besonders bei der Harmonisierung der Visa- und Rücknahmepolitik. Der europäische Haftbefehl entspricht allerdings noch nicht den Erwartungen, die er nach den Anschlägen vom 11. September 2001 geweckt hatte: Seine Umsetzung in einigen Mitgliedstaaten erweist sich als schwierig.
Das vorhandene Instrumentarium muss vervollständigt werden durch Initiativen des Europarats, um noch effizienter die Herstellung falscher amtlicher Dokumente beziehungsweise die Fälschung von Dokumenten und deren Gebrauch zu verhindern. Die Einführung biometrischer Pässe sollte die Effektivität einer solchen Konvention steigern, deren Annahme durch alle Mitgliedsländer kein großes Hindernis darstellen dürfte. Schließlich möchte ich noch anmerken, dass das Grenzmanagement heute keine reine Staatsaufgabe mehr ist. Dies sollte in einem viel umfassenderen Rahmen wahrgenommen werden. Die Spezifik terroristischer Netzwerke zeigt, dass sich Dschihad-Kandidaten nicht um nationale Grenzen kümmern und diese mit geringer Mühe gesetzeswidrig überwinden können.
Aus dem Französischen von Lucas Lypp
JEAN-LOUIS BRUGUIÈRE, geb. 1944, ist Vizepräsident des Tribunal de Grande Instance in Paris und seit 25 Jahren Frankreichs führender Terroristenjäger. International bekannt wurde er 1994 durch die Festnahme des Terroristen Carlos.
Internationale Politik 3, März 2006, S. 44 - 47.