Helfen Sie der Ukraine nach Europa!
In Kyjiw weiß man die deutsche Unterstützung seit dem 24. Februar 2022 sehr zu schätzen. Gleichzeitig hofft man auf Rückenwind aus Berlin bei der EU-Erweiterung. Denn die Ukraine kann der Europäischen Union sehr viel geben.
Liebe künftige Bundesregierung,
lassen Sie mich diesen Brief mit der Versicherung unseres tiefempfundenen Danks an das gesamte deutsche Volk beginnen, das uns in diesen für unser Land so dunklen Zeiten unterstützt. Die deutsche Hilfe ist vielfältig – sie reicht von Waffen und Nachschub für das ukrainische Militär über Finanzhilfen für unsere vor dem Krieg fliehende Bevölkerung bis hin zu politischer und technischer Hilfe für die EU-Integration der Ukraine.
Wenn wir sagen, dass wir wirklich voll des Lobes für das sind, was Deutschland zur Unterstützung der Ukraine tut, dann sind das nicht nur höfliche Floskeln: Umfragen zufolge äußern über 87 Prozent der Ukrainer eine äußerst positive Einstellung zu Deutschland und sehen Ihr Land als strategisch wichtigen Partner der Ukraine an.
Der Beitritt zur EU hat für die Ukraine unbestritten Vorrang. Unsere Gesellschaft strebt von jeher den Weg nach Europa an: Über 88 Prozent der Ukrainer unterstützen die Integration in die EU.
Wir hoffen auf eine bessere Zukunft in der Europäischen Union, zusammen mit unseren strategischen Verbündeten, zu denen auch Deutschland gehört. Allerdings bedroht die unprovozierte russische Aggression gegen die Ukraine und die Werte Europas unser Land in seiner Existenz, ganz zu schweigen von unserem Streben nach einer EU-Mitgliedschaft. Solange Russland in Europa Krieg führt und glaubt, dass es dafür nicht belangt werden kann, sind die wirtschaftliche Entwicklung, die Demokratie und die Sicherheit auf dem gesamten Kontinent gefährdet.
Eine Niederlage der Ukraine würde verheerende Folgen haben und eine ernsthafte Bedrohung für die Länder Mittel- und Osteuropas und die gesamte EU bedeuten. Deswegen müssen wir Frieden und Gerechtigkeit in Europa wiederherstellen, bevor wir über die Zukunft der Ukraine oder der EU sprechen.
Wir hoffen, dass die Bundesregierung ihre Hilfe für die Ukraine in diesem ungerechten Krieg fortsetzt und, wenn möglich, noch verstärkt. Die Ukraine braucht weiterhin militärische Hilfe und engere Zusammenarbeit in der Rüstungsindustrie. Um Russlands Wirtschaft weiter zu isolieren und seine Einnahmen aus dem Handel mit Energie zu verringern, müssen die EU-Sanktionen ausgeweitet, die bestehenden Sanktionen konsequent durchgesetzt und überwacht werden. Kriegsverbrechen dürfen nicht ungestraft bleiben. Niemand soll der Gerechtigkeit entkommen.
Mit seiner Unterstützung für die Ukraine in diesem Krieg setzt sich Deutschland für den Erhalt grundlegender Normen des Völkerrechts ein. Eine Zerstörung der regelbasierten Ordnung – die Russland zu untergraben versucht – würde zur Ausbreitung von globalem Chaos führen und zu noch mehr Kriegen.
Wir glauben an unsere gemeinsame Zukunft. Die Ukraine wird auf ihrem Weg ins vereinte Europa große innere Herausforderungen bewältigen müssen. Dazu gehören Bedrohungen, die mit dem Erhalt und der Stärkung der Demokratie unter den Bedingungen des Kriegsrechts zu tun haben – etwa die Unmöglichkeit, Wahlen abzuhalten – oder kriegsbedingte Einschränkungen von Rechten und Freiheiten. Die derzeit von Deutschland geleistete Unterstützung für die Zivilgesellschaft ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.
Eine weitere große Herausforderung entsteht durch den Verlust von menschlichen Ressourcen, insbesondere in der öffentlichen Verwaltung. Dieser Sektor wird bei der Umsetzung der Reformen für die EU-Integration und der Übernahme der geltenden EU-Gesetze und -Vorschriften eine entscheidende Rolle spielen. Um ein effizienter Partner zu werden und die EU-Standards zu erfüllen, muss die Ukraine ihre Institutionen weiter reformieren und stärken. Wir hoffen, dass Deutschland diese Reformen unterstützt und sich für ihre Umsetzung einsetzt.
Die durch den Krieg verursachten Zerstörungen sind eine weitere drängende Herausforderung. Große Teile der Infrastruktur, der Industrie und der Wohngebäude wurden bei Angriffen beschädigt oder zerstört, wobei sich die kritischen Schäden auf den Energiesektor konzentrieren. Auch die ukrainischen Häfen sind immer wieder Ziel russischer Raketenangriffe. Die Ukraine wird finanzielle Unterstützung und Investitionen benötigen, um das Land wieder aufzubauen.
Zugleich wird die Ukraine aber eine große Bereicherung für die EU sein. Vor allem kann sie mit ihrer beispiellosen militärischen Erfahrung einen wichtigen Beitrag zur gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik leisten. Die sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen der Ukraine, Deutschland und anderen EU-Mitgliedstaaten wird die Fähigkeit der EU, externe Sicherheitsherausforderungen zu bewältigen, erheblich stärken.
Die EU wird sehr davon profitieren, auf eine der größten Armeen Europas zurückgreifen zu können; von den Erfahrungen der Ukraine im Kampf gegen militärische Aggressionen, Terrorismus, Cyberangriffe und Desinformation ganz zu schweigen. Dazu kommen die starke ukrainische Verteidigungsindustrie und die beeindruckenden Fähigkeiten des Landes bei der Entwicklung und Nutzung militärischer Drohnen.
Neben all dem verfügt die Ukraine über besondere Erfahrungen darin, unter schwierigsten Bedingungen die Resilienz der Verkehrsinfrastruktur, des Energienetzes und der Telekommunikation zu erhalten. Auch das kann zum Aufbau eines widerstandsfähigeren Europas beitragen.
Zuverlässiger Partner
In Kriegs- wie in Friedenszeiten ist die Ukraine ein zuverlässiger Partner für Handel und wirtschaftliche Zusammenarbeit. Seit dem Inkrafttreten des Freihandelsabkommens zwischen Brüssel und Kyjiw im Jahr 2016 hat sich der Handel mit der EU fast verdoppelt und kam im Jahr 2023 auf ein Volumen von 61,9 Milliarden Euro. Auch die deutschen Ausfuhren in die Ukraine haben sich seit 2016 fast verdoppelt und erreichten 2023 ein Volumen von sieben Milliarden Euro. Der freie Handel und der Zugang der Ukraine zum europäischen Binnenmarkt sind demnach für beide Seiten von Vorteil.
An diesem Freihandel müssen wir festhalten, auch wenn die Einheit des EU-Binnenmarkts vor vielen Herausforderungen steht. Ein berechenbares wirtschaftliches Umfeld, in dem Handelsabkommen respektiert werden, ist die beste Garantie für eine funktionierende wirtschaftliche Zusammenarbeit. Mit ihrer ausgesprochen wettbewerbsfähigen landwirtschaftlichen Produktion kann die Ukraine einen wichtigen Beitrag zur Ernährungssouveränität und -sicherheit der EU leisten. Darüber hinaus verfügt die Ukraine über ein erhebliches Potenzial in Sachen erneuerbare Energien und Nachhaltigkeit. Dadurch kann sie die EU dabei unterstützen, ihre grüne Agenda auf der internationalen Bühne voranzubringen.
Die neue Realität, die sich seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Jahr 2022 herausgebildet hat, birgt erhebliche Gefahren für die Demokratie auf dem europäischen Kontinent. Das reicht von unkontrollierter Migration über die Gefahr direkter militärischer Angriffe auf EU-Mitgliedstaaten bis hin zu Informationsmanipulation und Desinformation in den politischen Prozessen demokratischer Nationen, einer Bedrohung der Telekommunikations- und Energieinfrastruktur und vielem mehr.
Die Erweiterung ist ein Instrument zur geopolitischen Stärkung der EU und zur Verbreitung ihrer Werte in den europäischen Nachbarländern. Die jetzige Erweiterungsrunde findet jedoch unter schwierigsten Bedingungen politischer Unsicherheit statt, was den Beitrittsprozess für die derzeitigen Kandidatenländer sehr viel komplexer macht.
Die Ukraine hofft, dass Deutschland eine Führungsrolle bei der Reform der EU und ihrer Vorbereitung auf die Bewältigung dieser Risiken übernimmt. Die Ukraine ist außerdem darauf angewiesen, dass Deutschland den Erweiterungsprozess und die Reformen in den Kandidatenländern auf ihrem Weg zur Mitgliedschaft weiterhin unterstützt.
In der Einigkeit liegt die Stärke. Durch unsere gemeinsamen Anstrengungen in der Sicherheitspolitik und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit können die Ukraine und Deutschland nicht nur den Frieden auf dem Kontinent sichern, sondern auch ein wohlhabendes und geeintes Europa für kommende Generationen aufbauen.
Aus dem Englischen von Bettina Vestring
Internationale Politik 2, März/April 2025, S. 55-57