Weltspiegel

05. Juni 2024

Auf dem Weg in die EU

Die Ukraine hat große Fortschritte bei der Erfüllung der Beitrittskriterien erzielt. Schwierige Re­formen stehen noch bevor, und der andauernde Krieg erschwert den Prozess. 

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Roberta Metsola und Wlodymyr Selenskyj im Europäischen Parlament
Die Empfehlung der Europäischen Kommission, die Ukraine zum Beitrittskandidaten zu machen, hat dem Land einen Schub gegeben.
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Es versteht sich von selbst, dass der ukrainische Beitrittspfad außergewöhnlich ist: Schließlich muss das Land die mit dem Beitritt verbundenen Reformen durchführen, während es gleichzeitig einen Verteidigungskrieg ums eigene Überleben führt. 

Unter den Anforderungen, die jeder EU-Beitrittsanwärter erfüllen muss, zählen die „Kopenhagener Kriterien“ zu den wichtigsten. Dazu gehören die folgenden Bedingungen: institutionelle Stabilität als Garant für die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte und den Schutz von Minderheiten; eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der EU standzuhalten; und die Fähigkeit, die mit einer Mitgliedschaft einhergehenden Pflichten zu erfüllen, inklusive der Übernahme des „gemeinschaftlichen Besitzstandes“ der EU (EU-Acquis). 

Bei der Erfüllung der Kopenhagener Kriterien hat es bereits beachtliche Erfolge gegeben, doch steht die Ukraine noch vor großen Herausforderungen.


Demokratie und Rechtsstaatlichkeit

Die EU-Integration hat bereits einen spürbaren Einfluss auf die Reformen des Landes in den Bereichen der Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung und des Menschenrechtsschutzes ausgeübt.

Beispielsweise hat die Ukraine 2015, als Teil einer Vereinbarung über Visa­erleichterungen mit der EU, ein System von Anti-Korruptions-Behörden eingerichtet. Kurz bevor sich das Land für den Status des Beitrittskandidaten qualifizierte, ratifizierte es das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt („Istanbul-Konvention“).

Die von der EU-Kommission 2022 formulierten sieben Empfehlungen für die Kandidatur haben der Ukraine zudem einen erheblichen Schub bei ihren Rechtsstaatlichkeitsreformen gegeben. Die Kandidatur der Ukraine und die nunmehr greifbare Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft haben die ukrainische Politik veranlasst, selbst die anspruchsvollsten Rechtsstaatlichkeitsreformen in Angriff zu nehmen. Dazu gehören die Ernennung des Führungspersonals von Anti-
Korruptions-Behörden; personelle und strukturelle Reformen des Justizwesens und seiner Leitung, beispielsweise des Hohen Justizrats und der Hohen Qualifikationskommission für Richter der Ukraine; und auch die Verabschiedung von Mediengesetzen, die zuvor im parlamentarischen Verfahren festhingen.

In den anderthalb Jahren, seit die ukrainische Regierung begonnen hat, die Brüsseler Empfehlungen umzusetzen, hat sie wesentliche Fortschritte gemacht. Viele Experten gehen daher davon aus, dass die Beitrittsverhandlungen auch künftig ein großer Ansporn für weitere Reformen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit sein werden.

Gleichzeitig stellen der Krieg und das Fortdauern des Ausnahmezustands die Demokratie vor enorme Herausforderungen. Beispielsweise sieht die ukrainische Verfassung für die Dauer des Ausnahmezustands keine Parlamentswahlen vor, was zu einer gewissen Schwächung des Parlamentarismus geführt hat. Der Einfluss des Parlaments ist geschrumpft, und eine Reihe von Abgeordneten ist nicht willens, unter solchen Umständen zu arbeiten. Doch ist es rechtlich nicht möglich, Wahlen durchzuführen und die Zusammensetzung des Parlaments zu erneuern, bis der Krieg beendet ist.

Auch gehen mit dem Kriegszustand offensichtliche Einschränkungen von Grundrechten einher. Ukrainische Männer sind in ihrer Ausreisefreiheit beschränkt und können gegen ihren Willen ins Militär eingezogen werden. Beschlagnahmen und Enteignungen zu Verteidigungszwecken sind unter Geltung des Kriegsrechts ebenfalls möglich. Demonstrationen und Kundgebungen sind verboten. Die Freiheit der Medien wurde durch die Einrichtung des nationalen „Telemarathons“ beschränkt, der kurz nach dem russischen Angriff alle Fernsehkanäle für die Nachrichtenberichterstattung zu einem einzigen bündelte; manche Sender wurden dazu gedrängt, diesem Arrangement zuzustimmen. 

Einige dieser Einschränkungen sind für das Überleben des Landes während des Krieges schlichtweg notwendig. Doch könnten Beobachter die Maßnahmen als exzessiv oder sogar als eine Gefahr für die Demokratie betrachten. 

Wenngleich die Rückkehr zur Demokratie nach dem Krieg eine anspruchsvolle Aufgabe werden könnte, dürften die Beitrittsverhandlungen mit der EU ein Ansporn sein, der diesen Prozess erleichtern wird. 84 Prozent der ukrainischen Bevölkerung unterstützen den EU-Beitritt; jeder ukrainische Politiker wird dieses Stimmungsbild berücksichtigen müssen und Fortschritte bei den Beitrittsverhandlungen vorweisen wollen.


Funktionsfähige Marktwirtschaft

In ihrem Erweiterungsbericht von 2023 hat die EU-Kommission der ukrainischen Wirtschaft attestiert, sich auf dem Weg zu einer funktionsfähigen Marktwirtschaft zu befinden. Einer der Hauptgründe für den schlechten Zustand der ukrainischen Wirtschaft liegt in den unmittelbaren Folgen des verheerenden Krieges und der Zerstörungen, die die russische Invasion mit sich bringt. 

Vor Februar 2022 hatte die Ukraine bereits mit der hybriden russischen Invasion seit 2014 umzugehen, während derer Teile des industriell entwickelten Donbass und der Krim (insgesamt rund 7 Prozent des ukrainischen Territoriums) besetzt worden waren. Zwischen 2014 und 2015 verlor das Land 15,8 Prozent seines BIP. Der Verlust an Menschen und Industrie­unternehmen sowie die Sicherheitsrisiken sorgten in den Folgejahren für eine spürbare Verlang­samung des Wachstums. Auch hatte die andauernde russische Aggression eine Reihe an Negativtrends für die ukrainische Wirtschaft zur Folge: Dazu zählen Deindustrialisierung und Rückgang von ausländischen Direktinvestitionen ebenso wie eine massive Abhängigkeit von Exporten (beispielsweise von Getreide). 

2022 sank das ukrainische BIP erneut drastisch – um 29 Prozent. Allerdings hat eine Studie des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche ergeben, dass sich das Land ohne die russische Invasion auf demselben Wachstumspfad befände wie die mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedsländer. 

Hinzu kommt, dass die Ukraine seit Beginn des Krieges gewaltigen logistischen Herausforderungen gegenübersteht. Anfangs machte die russische Blockade der Schwarzmeerhäfen Exporte landwirtschaftlicher und metallurgischer Güter auf dem Seeweg unmöglich. Die Blockaden der Grenze zu Polen schufen 2023 und 2024 ein großes Hindernis für den Handel mit der EU und die Durchfuhr über europäische Häfen. Seit September 2023 ist es der Ukraine – überwiegend durch erfolgreiche Militäroperationen – gelungen, Güterexporte über die Häfen am Schwarzen Meer wieder zu ermöglichen.

Bei der Übernahme von EU-Recht gibt es spürbare Fortschritte. Anfang 2023 waren 55 Prozent der Verpflichtungen aus dem ­Assoziierungsabkommen mit der EU umgesetzt

Derweil nehmen andauernde russische Angriffe mit ballistischen Flugkörpern die Häfen von Odessa ins Visier, um die zivile logistische Infrastruktur der Ukraine zu zerstören. Insgesamt werden die Zerstörungen im Energiesektor und die eingeschränkten logistischen Fähigkeiten in der nahen Zukunft die Hauptgefahren für die wirtschaftliche Erholung des Landes sein.

Die Vorbereitung der ukrainischen Wirtschaft auf die EU-Mitgliedschaft wird in hohem Maße von der Sicherheitslage abhängen. Zudem wird die Ukraine Schätzungen des Thinktanks Bruegel zufolge europäische Hilfen im Umfang von 0,13 Prozent des BIP der EU benötigen, um ihre Wirtschaft auf den Beitritt vorzubereiten. Das ist eine erhebliche Summe, doch kann diese womöglich durch den Einsatz zusätzlicher externer Unterstützung für die Erholung der Ukraine optimiert werden. Außerdem brächte ein Versagen bei der Gewährleistung der Sicherheit der Ukraine das Risiko einer militärisch bedingten Verwüstung der eigenen Volkswirtschaft der EU mit sich.


Umsetzung des EU-Acquis

Seit dem Inkrafttreten des Assoziierungsabkommens (AA) zwischen der EU und der Ukraine im Jahr 2016 hat Kiew damit begonnen, den Acquis in nationale Gesetze umzusetzen. In diesem Zeitraum hat die Ukraine die folgenden wichtigen Meilensteine ­erreicht: 

•   Umsetzung von Reformen in den Strommärkten und Synchronisierung des Energiesystems mit dem Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber (ENTSO-E);

•   Einführung eines transparenten Systems für die öffentliche Auftragsver­gabe;

•   Dezentralisierungsreformen zur Stärkung der Befugnisse lokaler Stellen;

•   Reformen bei der Marktüberwachung und Einführung des überwiegenden Teiles der im AA beschriebenen technischen EU-Vorschriften;

•   Einleitung von Reformen der Unternehmensverfassung;

•   Beitritt zum Übereinkommen über ein gemeinsames Versandverfahren;

•   Verabschiedung eines neuen Medienrechts.

(Der letzte Punkt war ein großer Wurf.)

Die Ukraine hat bei der Umsetzung des EU-Acquis unter anderem in den Bereichen des Gesundheits- und Umweltschutzes, der Sozialpolitik, der Telekommunikation und des Verbraucherschutzes spürbare Fortschritte erzielt. Anfang 2023 hatte Kiew bereits 55 Prozent der Verpflichtungen aus dem AA umgesetzt, wie eine gemeinsame Studie des Ukrainian Centre for European Policy und der Konrad-Adenauer-Stiftung ergab.

Nach der ersten Phase schneller Erfolge hat die Geschwindigkeit bei der Umsetzung des AA zuletzt etwas nachgelassen. Das dürfte daran liegen, dass viele noch offene Verpflichtungen umfassende strukturelle Reformen erfordern, die sich nur durch effektive Koordinierung einer Vielzahl von Behörden und starken politischen Willen auf höchster Ebene umsetzen lassen; all diese Faktoren können in der Praxis jedoch nicht garantiert werden. Überdies war der Anreiz, Reformen umzusetzen, zunächst nicht groß genug, da das Assoziierungsabkommen die Möglichkeit eines EU-Beitritts der Ukraine nicht vorsah. Da die Perspektive einer EU-­Mitgliedschaft nun klar ausbuchstabiert ist, darf mit größeren Bemühungen gerechnet werden, den Prozess abzuschließen.


Ambitioniertes Ziel EU-Mitgliedschaft

Eines gilt es zu betonen: Die Vorbereitung auf die EU-Mitgliedschaft ist ein viel ehrgeizigeres Ziel als die Umsetzung des Assoziierungsabkommens. Analysen des Ukrainian Centre for European Policy zufolge gibt es etwa 550 Gesetzgebungsakte der EU, zu deren Umsetzung das AA die Ukraine verpflichtet. Demgegenüber liegt die Zahl der Gesetzgebungsakte der EU, die für eine Mitgliedschaft umgesetzt werden müssen, bei etwa 3000.

Eine der größten Herausforderungen für die Umsetzung des EU-Acquis sind die fehlenden Kapazitäten des öffentlichen Dienstes. Der laufende Krieg bedeutet eine enorme Belastung für die ukrainischen Behörden. Hinzu kommt die geringe Vertrautheit der Beamten mit dem EU-Recht: Nur rund 60 Prozent der Beamtenschaft kennt die europäischen Gesetzgebungsakte, mit denen sie sich in ihrer Arbeit auseinandersetzen müssen. Die EU und andere Organisationen arbeiten daran, die Ukraine zu unterstützen. Sie bieten Fortbildungen für Beschäftigte im öffentlichen Dienst an und organisieren Projekte, um den ukrainischen Behörden bei der Umsetzung des gemeinschaftlichen Besitzstands zu helfen. Über diese Unterstützung hinaus braucht die Ukraine jedoch systemische Lösungen, etwa eine Reform des öffentlichen Dienstes, um Fachkräfte anzulocken und die Abwanderung qualifizierten Personals zu stoppen.

Zu den schwierigsten 
Kapiteln des EU-Acquis zählen Umwelt, Transport und Landwirtschaft

Die andere Herausforderung bei der Umsetzung des gemeinschaftlichen Besitzstands wird es sein, die Unternehmen auf die neuen Regeln vorzubereiten. Während der Zugang zum Binnenmarkt die ukrainischen Unternehmen motiviert hat, ihre Produkte anzupassen, um EU-Standards zu entsprechen, könnten weitere Anpassungen mit erheblichen Kosten und hohem Zeiteinsatz einhergehen. Zu den schwierigsten Teilen des EU-Acquis zählen Kapitel 27 (Umwelt), Kapitel 14 (Transport) und Kapitel 11 (Landwirtschaft und Entwicklung des ländlichen Raumes), hier besonders die Vorgaben in Bezug auf Düngemittel, Pflanzenschutzmittel und die Rückverfolgbarkeit von landwirtschaftlichen Erzeugnissen.

Die Ukrainerinnen und Ukrainer sind hochmotiviert, der EU beizutreten und haben sogar zu Kriegszeiten stetige Fortschritte bei der Durchführung von Reformen gemacht. Der Einfluss der EU auf die Reformen in Sachen Rechtsstaatlichkeit, Anti-Korruptions-Maßnahmen und Menschenrechtsschutz war erheblich. Überdies haben Unternehmen bereits begonnen, sich auf den Zugang zum Binnenmarkt vorzubereiten.

Während die Ukraine sich auf eine vollständige Mitgliedschaft zubewegt, steht sie allerdings vor erheblichen Herausforderungen. Dazu gehören die Umsetzung zahlreicher EU-Gesetze sowie die Behebung von Problemen wie den fehlenden Kapazitäten im öffentlichen Dienst. Die alles entscheidende Herausforderung für die europäische Integration der Ukraine wird es indes sein, wie es gelingen kann, sich inmitten des andauernden Krieges einen Weg durch das Dickicht der Umsetzung des EU-Rechts zu bahnen.

Aus dem Englischen von Matthias Hempert

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2024, S. 65-69

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Dr. Oleksandra Bulana ist Analystin beim Ukrainian Centre for European Policy (UCEP) in Kiew.