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01. Juni 2009

Harte Zeiten für Friedensbewegte

Eine multipolare Welt bringt die klassische Machtpolitik wieder zurück

Die USA müssen zum ersten Mal seit langem ihren Verteidigungshaushalt kürzen. China aber leistet sich eine Steigerung seiner Militärausgaben. Klar ist: Die Gestaltungsmacht des Westens wird intensiver denn je in Frage gestellt werden. Auf die leidenschaftliche Konkurrenz mit den aufsteigenden Großmächten ist vor allem Europa schlecht vorbereitet.

Dass das 21. Jahrhundert ein pazifisches oder ein multipolares Jahrhundert sein werde, ist keine neue Erkenntnis. Aber gerade in Deutschland hat man sich immer nur mit den wirtschaftlichen Folgen dieser Entwicklung befasst. Soweit es eine öffentliche Debatte gab, drehte sie sich um die Frage, ob das Wachstum in China oder Südostasien deutsche Arbeitsplätze gefährden könnte. Im Nachhinein erscheint das merkwürdig fehlgeleitet. Denn die wirklichen Veränderungen, die uns bevorstehen, sind politischer Natur. Mit dem Entstehen neuer Kraftzentren verschieben sich die Gewichte der Weltpolitik wie seit Jahrhunderten nicht mehr. Seit den Fahrten des Kolumbus hat der Westen die Geschicke der Menschheit alleine bestimmt. Afrika, Amerika und Asien, die vor dem Kolonialismus eigene Großreiche kannten, wurden von europäischen Nationen besetzt, ausgeplündert und bevormundet. Selbst im 20. Jahrhundert, als die USA die westliche Führungsrolle übernahmen, waren die meisten Staaten der „Dritten Welt“ keine Subjekte der Weltpolitik, sondern blieben deren Objekte. Das fremde nationalstaatliche Modell, das die Kolonialherren ihnen beim Abzug hinterließen, führte zu Bürgerkriegen und internen Verwerfungen, die es den neuen Staaten unmöglich machten, sich aktiv an der Weltpolitik zu beteiligen.

Deshalb ist die Globalisierung wesentlich mehr als nur eine neue Stufe in der Ausbreitung des Kapitalismus. Sie hat auch vielen nichtwestlichen Gesellschaften die Möglichkeit eröffnet, sich materielle Grundlagen zu verschaffen, um in der internationalen Politik mitzuspielen. Unsere heutige Weltordnung ist ein Auslaufmodell, denn ihre Spielregeln wurden in westlichen Staatskanzleien geschrieben. Von der NATO bis zum Völkerrecht, von der Welthandelsorganisation bis zum Nichtverbreitungsvertrag – jede Einrichtung und jeder Vertrag von Bedeutung wurden vom Westen geschaffen oder dominiert. Die aufstrebenden Schwellenregionen werden aber nicht unpolitische Produktionsorte für Halbleiter, Autos oder Computer bleiben, die sich brav in vorgegebene Strukturen einpassen. Mit dem Wachstum kommen Machtansprüche. Bald dürften auch einschneidende Kriege, wichtige Bündnisse und große internationale Abkommen „made in China“ oder „made in India“ sein.

Dabei geht es nicht nur um diese beiden neuen Riesen, die in der Krise immer noch wachsen. Hoffnung auf eine starke Position im Weltgeschehen können sich auch Indonesien (mit dem ASEAN-Block) und Brasilien machen. Russland und Japan wird man ebenfalls in einer Liste künftiger potenzieller Großspieler der Weltpolitik führen müssen, auch wenn die globale Rezession sie hart getroffen hat. Selbst wenn am Ende nur die Hälfte dieser Staaten den Aufstieg schafft, wäre das schon eine tiefe Überarbeitung der globalen Machtstrukturen. Eine Weltpolitik, die – inklusive des Westens – aus einem Konzert von fünf, sechs starken Vormächten auf verschiedenen Kontinenten besteht, gab es noch nie.

Das Ende westlicher Normen

Was da auf uns zukommt, lässt sich schon heute in der Rüstungspolitik beobachten. In den USA hat die Krise zum ersten Mal seit langem zu einer Kürzung des Verteidigungshaushalts geführt. Auch in Europa werden die Milliarden, die für die Stützung der Banken oder Konjunkturprogramme ausgegeben werden, in anderen Haushaltsposten fehlen. Allein die Abwrackprämie, die sich Deutschland zur Belebung seiner Schlüsselindustrie leistet, entspricht einem Sechstel des deutschen Verteidigungshaushalts. Schon heute ist die Bedienung der Bundesschuld der zweitgrößte Posten im Bundeshaushalt. Den Außenressorts (Auswärtiges, Verteidigung, Entwicklungshilfe) wird in den nächsten Jahren sicher nicht mehr, sondern eher weniger Geld zur Verfügung stehen.

China dagegen leistet sich im Jahr der großen Krise eine Steigerung seiner Militärausgaben um 15 Prozent. Und 2009 ist kein Sonderfall. Seit Jahren wachsen die Rüstungsausgaben Chinas um zweistellige Beträge. Dabei fällt auf, dass sich die Chinesen qualitativ am amerikanischen Vorbild orientieren. Der Irak-Krieg wurde nirgends so genau studiert wie in Peking, denn die Volksbefreiungsarmee soll eines nicht allzu fernen Tages ebenfalls in der Lage sein, einen Hochtechnologiekrieg zu führen wie die USA zum Sturz Saddam Husseins. Verkleinerung der Streitkräfte, Aufbau von Expeditionseinheiten, Investitionen in Informationstechnologie – all die Rezepte, mit denen Amerika und die NATO-Staaten ihre Streitkräfte für Einsätze weitab von der Heimat ausrüsten, werden von China mit großem Fleiß kopiert. Das Land bemüht sich auch um einen Flugzeugträger und bereitet sich auf die Rüstung im Weltall vor, eines der großen sicherheitspolitischen Zukunftsthemen.

Indien, Japan und andere Länder in Asien modernisieren ebenfalls ihre Armeen. Japan, das sich immer noch als pazifistisch versteht, besitzt heute schon eine Flotte, die dreimal so groß ist wie die britische, die einst der Stolz der Weltmeere war. Für diese Vorgänge interessieren sich in Deutschland nicht einmal in Fachkreisen viele Leute, obwohl hier Machtmittel entstehen, die zur ernsten Herausforderung für die Überlegenheit des Westens werden dürften – erst in Asien, dann in anderen strategisch wichtigen Regionen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass militärische Interventionen, seien sie nun materiell oder idealistisch begründet, seit langem nur von westlichen Staaten ausgehen. In einiger Zeit werden auch andere Staaten über Armeen verfügen, mit denen sich Minderheiten schützen oder Öllager besetzen lassen.

Ein globaler Wettlauf um Märkte und Rohstoffe ist ohnehin schon entbrannt. Chinas Griff nach strategischen Gütern, der in Afrika und Arabien begann, erreicht immer neue Weltgegenden. In Chile, das die größten Kupfervorräte der Welt beherbergt, ist China trotz eines Freihandelsabkommens des Landes mit den USA schon zum größten Handelspartner aufgestiegen. In der Krise versucht Peking nun auch, in Australien und  Europa wertvolle Unternehmen wie Bergbaugesellschaften zu kaufen. Indien ist ebenfalls in Afrika aktiv und bemüht sich genauso hartnäckig wie die Chinesen um einen Zugang zu den riesigen Gasvorkommen im Iran. Wie das den Gestaltungsspielraum westlicher Politik beschränken kann, lässt sich seit Jahren am Atomstreit ablesen. Das Regime in Teheran hat das Interesse der beiden großen asiatischen Energieimporteure immer wieder geschickt genutzt, um sich Luft zu verschaffen, wenn der Druck Amerikas und Europas größer wurde.

Kaum besser sieht es bei den globalen Normen aus, die der Westen immer noch mit großer Selbstverständlichkeit meint festlegen zu können. Für den vor allem von Europa vorangetriebenen Bereich des Klimaschutzes hat man sich in Asien bisher wenig begeistern können. Kleinere Umweltprogramme mag es wohl geben – aber gerade Chinesen und Inder lehnten bisher strikt die Einführung von Obergrenzen beim Schadstoffausstoß ab. Obwohl China inzwischen der größte Emittent von Treibhausgasen ist, verlangen beide Länder vom Westen, die Kosten für den Klimaschutz zu tragen. Ihr Wachstum wollen sie sich nicht von einer westlich-europäischen Herzensangelegenheit verderben lassen.

Der vielleicht größte Umsturz, den eine multipolare Welt mit sich bringen wird, ist aber die Wiederbelebung klassischer Machtpolitik. In Europa hat man in den vergangenen zehn Jahren vor allem die Vorherrschaft der USA als großes Übel verstanden, pflegen die Amerikaner doch ein wesentlich realpolitischeres Verständnis von Außenpolitik als die ins Mittelfeld abgerutschten Länder der Alten Welt. Aber die neuen Mächte denken ebenfalls nicht so wie die Europäer. Eines der erstaunlichsten Phänomene der vergangenen Jahre ist die Herausbildung eines pränatalen Großmachtdiskurses in einigen Schwellenländern. Ein Vorläufer war in den neunziger Jahren die Debatte über asiatische Werte, die von Südostasien ausging und heute im Westen weitgehend vergessen ist. Schon damals ging es um einen eigenen asiatischen Weg in die Moderne. In China fand das jüngst in diversen nationalistischen Büchern einen Widerhall und, was bedeutender ist, in Betrachtungen von Wissenschaftlern, die sich mit Gegenmodellen zur westlichen Weltordnung befassten – unter anderem dem klassischen chinesischen Konzept des hierarchischen Weltkreises, der China als Zentrum der Erde begreift. Dass chinesische Intellektuelle in einer Ordnung, in der andere Staaten ihrem Land als Tributpflichtige untertan waren, nach Orientierung für die globalisierte Welt suchen, könnte sich noch einmal als sehr problematisch herausstellen.

Zur gleichen Zeit ist in Indien eine Rückbesinnung auf die klassischen Lehren der Realpolitik zu beobachten. Hans Morgenthau hätte viel Verständnis für die gegenwärtigen Wortführer der strategischen Debatte in Delhi, die den Indischen Ozean als natürliche Einflusssphäre ihres Landes beanspruchen, die Drohung mit militärischer Gewalt befürworten und einen Platz für ihr Land an der Spitze der Weltordnung verlangen. Dass man solcher Entschlossenheit wenig entgegensetzen kann, musste der Westen in den jüngsten Auseinandersetzungen über das weltweite Nuklearregime erfahren. Die Inder bestanden darauf, als Atomwaffenstaat in die nukleare Ordnung aufgenommen zu werden, was man ihnen mit dem amerikanisch-indischen Nuklearabkommen faktisch auch gewährte. Der Nichtverbreitungsvertrag war einer der ersten großen Pfeiler der vom Westen geschaffenen Weltordnung, der von einem Aufsteigerland gefällt wurde. Es wird nicht der letzte sein.

Die Europäer müssen nicht einmal bis ins ferne Asien reisen um zu erfahren, dass ihre Verständigungspolitik von anderen nicht ernst genommen wird. Putins Russland wird getrieben von der alten europäischen Machtbalancepolitik, die der Rest des Kontinents seit langem in das Museum der Weltanschauungen verbannt hatte. Als Putin noch Präsident war, zitierte er auf NATO-Russland-Gipfeln gerne Bismarck. Unter seiner Führung entwickelte die russische Außenpolitik den unverblümten Einflusssphärenanspruch, der alle Länder im postsowjetischen Raum zutiefst beunruhigt. Nüchtern betrachtet ist damit in der heraufziehenden Weltordnung keine einzige amtierende oder potenzielle Großmacht gewillt, sich der europäischen Vorstellung einer von Verrechtlichung und Multilateralismus geprägten Weltpolitik anzuschließen. Dass die EU eine normsetzende Kraft besäße, hat sich in den großen Fragen der Weltpolitik bisher nicht bemerkbar gemacht.

Es wird höchste Zeit, dass wir uns angemessen auf die Epoche vorbereiten, der wir entgegensteuern. Im 21. Jahrhundert wird die Gestaltungs- und Diskursmacht des Westens intensiver als je zuvor in Frage gestellt werden. Auf immer mehr Feldern werden wir leidenschaftliche Konkurrenz und harte Interessengegensätze mit den aufsteigenden Großmächten erleben. Das erfordert eine beherzte globale Präsenz des Westens, und zwar nicht nur der USA. Die Europäer leben bis heute komfortabel davon, dass die Amerikaner im Zweifelsfall die westlichen Interessen schützen, oft zu einem hohen materiellen oder politischen Preis. Natürlich unterlaufen ihnen dabei Fehler, wie etwa der Irak-Krieg, aber letztlich gäbe es heute weder einen freien Welthandel noch eine wachsende Familie von Demokratien, wenn sich die USA nicht immer wieder für diese Werte eingesetzt hätten. Diese Lasten werden sie aber immer weniger alleine tragen können.

Für Europa bedeutet das vor allem, dass es weltpolitisch endlich handlungsfähig werden muss. Es ist ernüchternd, wie oft das in Sonntagsreden beschworen wird, aber im Alltag schnell wieder vergessen ist. Gerade über die militärische Schwäche der Europäer wird seit Jahren geklagt, ohne dass sich allzu viel daran ändert. Die Deutschen haben eben erst wieder feststellen müssen, dass sie nicht einmal einen Hubschrauberträger besitzen, um eigenständig ein paar ihrer Staatsbürger aus der Hand somalischer Piraten zu befreien. In einer Welt, in der große Schwellenländer massiv aufrüsten, wird es eines Tages womöglich viel ernstere militärische Herausforderungen geben. Darauf muss eine europäische Mittelmacht gefasst sein, selbst wenn sie sich aufgrund ihrer Geschichte und Verfassung mit der Entsendung von Streitkräften schwertut.

Auch intellektuell müssen wir uns auf das neue Zeitalter vorbereiten. Das strategische Denken ist bei uns mit dem Kalten Krieg weitgehend aufgegeben worden, weshalb Deutschland, aber auch Europa insgesamt auf der internationalen Bühne oft so harm- und hilflos wirken. Man kann nicht jeden Konflikt mit Hilfszahlungen aus der Welt schaffen, schon gar nicht, wenn einem selbst das Geld knapp wird. Europa kann in einer Welt harter geopolitischer Rivalität nicht als große Friedensbewegung bestehen, sondern muss zu einer anspruchsvollen Diplomatie und einem selbstbewussten Auftritt finden. Dieses Problem löst man nicht mit der Schaffung neuer Posten und Strukturen in Brüssel, sondern indem die Eliten in den großen Mitgliedsstaaten einen größeren Willen entwickeln, sich harten machtpolitischen Fragen gemeinsam zu stellen. Briten und Franzosen träumen immer noch zu oft von eigener nationaler Größe, während die Deutschen durch Machtvergessenheit und eine wachsende Neigung zum Isolationismus auffallen. Ändert sich daran nichts, dann wird Europa als Kontinent des Wehklagens, Zusehens und der Beschwichtigung in die weitere Geschichtsschreibung eingehen.

Dr. NIKOLAS BUSSE ist Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Brüssel. Jüngst erschien von ihm „Die Entmachtung des Westens“.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2009, S. 49 - 55.

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