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30. Okt. 2013

Handel und Handlungsfreiheit

Lehren aus dem chinesisch-europäischen Photovoltaik-Streit

Die Gemengelage von nationalen und internationalen Akteuren in der Handelspolitik ist komplexer geworden. Das birgt, wie der Solarstreit China–EU zeigt, Probleme, aber auch Chancen. Nationale Politik bewegt sich weiterhin im Rahmen multilateraler Disziplin, erobert aber neue Zuständigkeiten und gewinnt an Freiheit.

Als die EU und China Ende Juli 2013 den Kompromiss im Handelsstreit um Billigimporte chinesischer Photovol­taik-Produkte (Solarzellen und -module) verkündeten, konnte ein lange schwelender Konflikt vorerst gütlich beigelegt werden. Begonnen hatte dieser Konflikt vor knapp einem Jahr mit der Eröffnung einer Antidumping-untersuchung der EU-Kommission gegen chinesische Photovoltaik-Produzenten, und zugespitzt hatte er sich zuletzt mit chinesischen Antidumpingverfahren gegen europäische Spezialchemiehersteller.

In letzter Minute wurde die Eskalation hin zu einem veritablen Handelskrieg vermieden, denn Anfang August wären automatisch verschärfte europäische Antidumpingmaßnahmen gegen China in Kraft getreten. Der erzielte Kompromiss sieht einen Mindestpreis und eine Maximalmenge für chinesische Photovol­taik-Exporte in die EU vor. Zusammen soll dies dazu beitragen, dass ­europäische Produzenten wieder kostendeckende Preise erzielen und sich auf Dauer am Markt halten können.

Kritik von allen Seiten

Was ist passiert? Auf den ersten Blick wenig Neues: Ein Antidumpingstreit wird durch Kompromisse beigelegt, Preis- und Mengenzugeständnisse – in der Sprache der WTO „Undertakings“ – sind dabei die Regel.

Wie bei solchen Kompromissen nicht anders zu erwarten, gibt es von allen Seiten Kritik. Europäische Photovoltaik-Produzenten halten den Mindestpreis für zu niedrig und werfen der Europäischen Kommission vor, im Konflikt mit China „eingeknickt“ zu sein. Chinesische Produzenten, für die Europa der mit Abstand wichtigste Absatzmarkt ist, klagen dagegen über die Mengenbegrenzung, die den Konkurrenzdruck zwischen ihnen erheblich verschärft und für manche von ihnen das Aus bedeuten dürfte. Ordnungspolitisch orientierte Ökonomen schließlich kritisieren die Eingriffe in die Marktwirtschaft durch Preis- und Mengenregulierung.

Auf den zweiten Blick entdeckt man allerdings einige Unstimmigkeiten. So fällt auf, dass die Europäische Kommission – die formal in Handelsfragen alleine für die EU verhandeln und entscheiden darf – ihre beiden handelsrechtlichen Verfahren gegen China keinesfalls eingestellt hat. Das Antidumpingverfahren und das Antisubventionsverfahren laufen weiter, ihr Abschluss wird für Dezember erwartet. Ein erneutes Aufbrechen des Handelsstreits ist also nicht ausgeschlossen.

Außerdem hat die Welthandelsorganisation (WTO) in diesem Handelsstreit nur gleichsam die Hintergrundkulisse geliefert. Die Antwort Chinas auf die europäischen Antidumpingverfahren war nicht die – regelkonforme – Drohung mit dem Gang zum Schiedsgericht der WTO, sondern die Vergeltung durch eigene Antidumpingverfahren.
Und schließlich fällt auf, dass China in diesem Handelsstreit naturgemäß mit einer einheitlichen Position auftrat, während Europa mit vielerlei Zungen sprach – mit der der Europäische Kommission und mit denen der von ganz unterschiedlichen Interessen geprägten Mitgliedstaaten. Man hatte sogar den Eindruck, als sei die Europäischen Kommission unter ihren Mitgliedsländern isoliert, denn diese sprachen sich in der Mehrheit gegen das Vorgehen der Kommission aus.

Der „Beijing-Consensus“

Jenseits der Bewertung des Einzelfalls sind in dem Handelsstreit wichtige Signale für die Zukunft der internationalen Wirtschaftsbeziehungen erkennbar. Treiber im Hintergrund ist der Aufstieg Chinas, der die Spiel­regeln im Welthandel, ja in der gesamten internationalen Politik grund­legend verändert. Bei manchen mag die Hoffnung bestanden haben, dass China im eigenen Interesse die etablierten internationalen Spielregeln anerkennen und lediglich auf eine bessere Repräsentanz in den Gremien der bisher vom Westen dominierten Organisationen wie WTO oder IWF setzen werde. Das dürfte sich jedoch als Wunschdenken herausstellen.

Denn China folgt einem sehr klassischen Souveränitätsverständnis. Der aktiven Beteiligung an multilateralen Prozessen steht ein immer selbstbewussteres Auftreten in der internationalen Politik gegenüber. Das soll auch zur Absicherung des Wachstumskurses dienen – etwa um das Jahr 2030 dürfte sich der chinesische Energiebedarf im Vergleich zum Jahr 2013 verdoppelt haben.

Einher damit geht eine hohe Rüstungsdynamik inklusive des Aufbaus maritimer Fähigkeiten zur regionalen und globalen Machtprojektion. Daraus folgen eine aktive Ressourcen­sicherungspolitik ohne die so genannte politische „Konditionalität“ sowie der Gedanke, dass autoritäre politische Führung plus Marktwirtschaft ohne Einmischung in die inneren Angelegenheiten als attraktives Modell gesehen wird. Dieser „Beijing-Consensus“ ist aus der Sicht vieler Entwicklungs- und Schwellenländer attraktiver als der „Washington-­Consensus“ der westlichen Industrienationen.
Mit Blick auf den Solarstreit zeigt sich deutlich, dass Chinas wichtigste Spielregel der Primat der Politik ist. Ginge es nach der Schablone der WTO, so würde die Schlichtung des Streites anonymen Gremien von Spezialisten des Welthandelsrechts überlassen – aus chinesischer Sicht eine abwegige Vorstellung.

Derzeit sind die Kräfteverhältnisse noch so, dass China auf die ausländischen Absatzmärkte angewiesen ist. Ohne die europäische Nachfrage könnten die Photovoltaik-Hersteller Chinas nicht existieren. Doch der chinesische Inlandsmarkt entwickelt sich rasant, und in steigendem Maße werden auch europäische Unternehmen von chinesischer Nachfrage abhängig.

Gegenseitige Abhängigkeiten sind schon jetzt entstanden, und die Balance wird immer mehr zu Gunsten Chinas kippen. Dabei hat China erheblich mehr Handlungsfähigkeit als die EU, die zwischen den sehr unterschiedlichen handelspolitischen Interessen ihrer Mitgliedstaaten zerrissen ist.
Deutschland als „Reich der Mitte“

In dieser neuen Realität des Welthandels verändern sich auch die Rahmenbedingungen für die deutsche Politik. Deutschland wird gleichsam zum „Reich der Mitte“, nicht nur in Europa, sondern auch zwischen Europa und China. Durch seine Wirtschaftskraft und seine Bedeutung im Welthandel ist es für die Mittlerrolle prädestiniert. Dies ist längst allen Beteiligten klar, insbesondere der chinesischen Führungsspitze, die massiv für den Ausbau der chinesisch-deutschen Beziehungen wirbt. Welche neuen Weichenstellungen sich daraus in Zukunft ergeben werden, ist noch unklar, doch im Hinblick auf den Solarstreit lassen sich mindestens zwei Handlungsfelder identifizieren: der industrielle Wandel von Traditionsbranchen zu neuen Technologien sowie die technologische und wirtschaftliche Wende zu nachhaltiger Energieerzeugung, die vielbeschworene Energiewende.

Beim ersten Punkt sind China und Deutschland zumindest teilweise Konkurrenten; die Probleme deutscher Photovoltaik-Produzenten aufgrund von Dumping und Subventionierung chinesischer Unternehmen belegen das. Die Herausforderung für die beiden Länder besteht hier darin, statt auf Nullsummenkonkurrenz auf Synergien zu setzen, indem sie ihre jeweiligen vertikalen Wettbewerbsvorteile identifizieren und akzeptieren. „Vertikale Arbeitsteilung entlang transnationaler Wertschöpfungsketten“ lautet die Devise, und auch die WTO kann im Rahmen ihrer „Made in the World“-Initiative dazu einen Beitrag leisten.

Gelingt eine Einigung in diesem Punkt, so locken im zweiten Handlungsfeld, der Energiewende, enorme Kooperationspotenziale. Denn hier stellen sich beiden Ländern ähnliche Probleme, wobei sie allerdings in China um ein Vielfaches größer und drängender sind. Für China ist die Wende weg vom Wachstum zu jedem Preis und hin zur Nachhaltigkeit ein Muss. Gleichwohl verbietet sich der deutsche Weg der Subventionierung erneuerbarer Energien durch Umlage der Kosten auf die Masse der Stromverbraucher für China. Auch in Deutschland wächst angesichts rasant gestiegener Kosten der Reformdruck bei der Förderung erneuerbarer Energien. Es liegt nahe, dass beide neue Wege der Förderung erneuer­barer Energien gemeinsam ausloten.

Gemeinsam für Erneuerbare

Nur durch internationale Kooperation und (wohl auch) effektiven Multilateralismus lassen sich die Probleme von technologischer Erneuerung und Nachhaltigkeit lösen. Die Monopolkommission, Beratungsgremium der Bundesregierung in Sachen Wettbewerbspolitik, hat sich vor kurzem in ähnlicher Weise geäußert und eine Koordinierung der EE-Förderung in der EU empfohlen.

Vor dem Hintergrund des Handelskonflikts zwischen China und der EU wird allerdings deutlich, dass dieser Vorschlag zu kurz greift. Die Förderung erneuerbarer Energien hat nicht nur eine umweltpolitische Dimension, sie beinhaltet auch stets eine industriepolitische Komponente. Und in steigendem Maße gewinnt sie auch an verteilungspolitischer Bedeutung, da die Umverteilungswirkungen der EE-Förderung ins Visier der öffentlichen Debatte geraten. Eine EE-Förderung, die dies außer Acht lässt, geht an der wirtschaftspolitischen Realität vorbei. Zudem besteht stets die Gefahr, von Handelskonflikten wie dem zwischen China und der EU überrumpelt zu werden.

Erforderlich ist also nichts weniger als eine internationale Verständigung darüber, wie erneuerbare Energien als globale Aufgabe auch global gefördert werden können. Internationale Kooperation kann hier aber nur dann gelingen, wenn sie über die Europäische Union hinausgreift und die größten Marktteilnehmer – und dies bedeutet: China und Deutschland – mit im Boot sind.

Die Regeln der Welthandelsordnung bieten inzwischen derart große Auslegungsspielräume, dass sie fast nach Belieben für die unilaterale ­Außenhandelspolitik ausgenutzt werden können. Hierauf mit der Standardantwort zu reagieren, dass die Regeln dann eben verbindlicher gestaltet werden müssen, geht am Kern des Problems vorbei. Dieses Problem ist systemimmanent und wird sich künftig noch verschärfen. Es betrifft vor allem neue Technologien wie etwa die Erzeugung von erneuerbaren Energien, bei denen aufgrund staatlicher Förderung – seien es Subventionen oder andere Markteingriffe – die Kostenrechnung der Unternehmen an Transparenz verliert.

In einer Welt, in der faktisch alle wichtigen Marktteilnehmer von staatlicher Seite subventioniert oder gesteuert werden, sind alle Exportnationen verwundbar für Antisubventions- oder Antidumpingverfahren. Und alle haben den Anreiz, ihren Konkurrenten durch entsprechende Verfahren Knüppel zwischen die Beine zu werfen und sich selbst Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Solange die WTO diese Verfahrensprobleme nicht angeht, wird es ihr kaum gelingen, Einfluss auf die wirklich spannenden Fragen des Welthandels zu haben.

Nach dem Amtsantritt der neuen WTO-Führungsspitze eröffnen sich neue Chancen für Reformen, und die sollten auch genutzt werden. Doch die Politik kann nicht den Erfolg komplexer und langwieriger WTO-Verhandlungen abwarten, die überdies noch im Lagerkampf zwischen Industrie-, Entwicklungs- und Schwellenländern festgefahren sind. Sie muss im Hier und Jetzt handeln und Lösungen für die anstehenden Probleme finden.

Prof. Dr. Martin Klein lehrt Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Prof. Dr. Johannes Varwick lehrt Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Claudia Meier ist Doktorandin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2013, S. 113-117

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