Grüne Männchen im Kosovo
Auf dem Balkan schwebt eine ungeklärte Frage im Raum: Hat Serbien versucht, Teile des Kosovo zu annektieren? Der Westen will vermitteln und den seit Jahren schwelenden Konflikt befrieden – scheitert aber an seiner eigenen Uneinigkeit.
Die Beziehungen zwischen Kosovo und Serbien erlebten 2023 einen nie dagewesenen Tiefpunkt. Monatlich kam es zu Eskalationen. Was mit Protesten gegen eine Kfz-Kennzeichen-Reform begann, gipfelte im Frühjahr im Boykott der Lokalwahlen durch die serbische Minderheit. Ende Mai wurden bei Ausschreitungen Soldaten der NATO-Schutztruppe KFOR von einem Mob militanter Serben schwer verletzt. Im Juni sollen drei kosovarische Polizisten auf Patrouille an der Grenze von militanten Sicherheitskräften entführt worden sein. Belgrad stellt den Vorfall umgekehrt dar: Nicht Serben seien auf kosovarisches, sondern Kosovaren auf serbisches Territorium vorgedrungen. Der Vorfall ist bis heute ungeklärt. Als Journalistin, die in der Region lebt und die Beziehungen zwischen Kosovo und Serbien seit Jahren beobachtet, war ich mir bei jeder neuen Eskalation sicher, dass es nicht noch schlimmer kommen könnte.
Zur Erinnerung: Der mehrheitlich von Albanerinnen und Albanern bewohnte Kosovo war zur Zeit Jugoslawiens eine autonome Provinz Serbiens und erklärte 2008 seine Unabhängigkeit. Der Nachbar Serbien hat diesen Schritt nie anerkannt, ebenso wenig wie China, Russland und die fünf EU-Länder Griechenland, Rumänien, Slowakei, Spanien und Zypern.
Seit Ende des Kosovo-Krieges 1999 schwelt der Konflikt politisch. Die EU strebt seit 2011 im Rahmen des Brüsseler Dialogs eine Normalisierung der Beziehungen an, bisher allerdings mit bescheidenen Erfolgen. Zum Verdienst der EU zählt ohne Frage, dass die beiden Konfliktparteien, derzeit vertreten vom serbischen Präsidenten Aleksander Vučić und dem kosovarischen Ministerpräsidenten Albin Kurti, sich in regelmäßigen Abständen an einen Tisch setzten, um über Lösungen zu diskutieren. Wobei: 2023 misslang sogar das. Vučić und Kurti weigerten sich wiederholt, gemeinsam im selben Raum zu sitzen und sprachen nur getrennt mit den Vermittlern.
Immerhin hat seit über 20 Jahren niemand mehr versucht, militärisch im Kosovo Fakten zu schaffen. Der Hauptgrund: Die NATO ist mit der Schutzgruppe KFOR im Kosovo stationiert, derzeit mit rund 5000 Soldaten und Soldatinnen. Ein Krieg galt deswegen als ausgeschlossen.
Dann kam der 24. September, ein Sonntag. In Banjska, einem Thermal-Dorf mit 300 Einwohnern nahe der serbischen Grenze im Norden des Kosovo, ereignete sich ein Vorfall, den man als Zäsur im Nachkriegskosovo bezeichnen muss. Er zeigt, dass die Sicherheit, in der sich der Westen gewogen hat, trügerisch war. Was ist passiert?
Der Norden ist ein Krisenherd
In der Nacht tauchte in Banjska eine serbische Kampftruppe auf: rund 30 Männer in Uniformen ohne Abzeichen, manche mit Sturmgewehren bewaffnet. Die Truppe versperrte die Dorfbrücke mit zwei Lastwagen. Als die kosovarische Polizei anrückte, wurde sie von den Angreifern ins Kreuzfeuer genommen, ein kosovo-albanischer Polizist starb. Die Kämpfer drangen in das Dorf ein, verbarrikadierten sich in einem Kloster und lieferten sich stundenlange Gefechte mit den kosovarischen Spezialeinheiten. Erst gegen Abend konnte das Kloster gestürmt werden. Drei serbische Kämpfer wurden dabei getötet, vier festgenommen. Der Rest floh über die Grenze nach Serbien.
Kurz nach dem Vorfall machte der kosovarische Innenminister Xhelal Sveçla Drohnenvideos öffentlich. Sie zeigen einen Mann namens Milan Radoičić im Kreis der Kämpfer vor dem Kloster. Radoičić ist im Norden des Kosovo eine Art informeller Herrscher. Bevor er sich eine Uniform anlegte, hatte er Anzüge getragen und war Vizechef der Srpska Lista, der Partei der Kosovo-Serben, die eng mit der serbischen Regierung verbunden ist. Er hat sich über seinen Anwalt zum Anschlag bekannt. Auch die Waffen sollen in Serbien hergestellt worden sein und aus staatlichen Depots stammen.
Um zu verstehen, wie heikel der Vorfall war, muss man einen Blick auf die Landkarte werfen. Der Norden des Kosovo ist – anders als der Rest des 1,8 Millionen Einwohnerlands – mehrheitlich von Serbinnen und Serben besiedelt, geschätzt 30 000 bis 50 000 Menschen. Sie leben in den vier Gemeinden Mitrovica, Leposavić, Zubin Potok und Zvečan.
Die Kampftruppe soll den Plan verfolgt haben, diese Gebiete zu annektieren oder der Kontrolle der kosovarischen Sicherheitskräfte zu entziehen. Das zumindest behauptet die Regierung in Pristina. Belgrad will mit der Aktion nichts zu tun haben und weist den Vorwurf zurück, involviert gewesen zu sein.
Laut kosovarischer Verfassung sind die vier Gemeinden Teil der Republik Kosovo. Eine Mehrheit der EU-Mitgliedsländer, darunter Deutschland, sieht das auch so. Die Realität ist allerdings komplizierter, denn Belgrad erhebt weiter Souveränitätsansprüche. Seit Ende des Krieges sind die vier Gemeinden ein Krisenherd. Das jüngste Beispiel: Banjska.
Die Lehren von Banjska
Die EU-Kommission hat das Geschehene als Terrorangriff verurteilt und eine unabhängige Untersuchung des 24. Septembers angekündigt. Doch dann wurde es auffallend still in den europäischen Hauptstädten. In informellen Gesprächen gaben Spitzendiplomaten kleinlaut zu, dass jetzt kein guter Zeitpunkt für Sanktionen gegen Serbien sei. Das hat geopolitische Gründe: Serbien gilt als Russlands wichtigster Alliierter auf dem Balkan und trägt die EU-Sanktionen nach Putins Angriffskrieg nicht mit. Die EU versucht, Serbien aus dem prorussischen Lager zu locken. Unlängst gelang es den USA sogar, Belgrad davon zu überzeugen, kriegswichtige Munition in die Ukraine zu liefern. Dieser Waffendeal hat das westliche Lager offenbar in Sicherheit gewogen, dass Aleksander Vučić doch nicht so ein Hardliner ist, wie viele glauben.
Die NATO hat als Reaktion auf die zunehmenden Spannungen im Norden eine temporäre Aufstockung der KFOR-Truppen bewilligt; mehr als 300 Soldatinnen und Soldaten wurden bereits entsandt. Dennoch: Der Westen, also die EU und die USA, haben zentrale Fragen auch Monate nach dem Vorfall nicht vollständig aufgearbeitet. Stimmt der Vorwurf Pristinas, dass die Regierung in Belgrad in die Attacke in Banjska involviert war, diese sogar angeordnet hat? Und: Was war das Ziel der Angreifer?
Im EU-Erweiterungsbericht zu Serbien, der im November 2023 veröffentlicht wurde, ist der 24. September nur in einem Absatz erwähnt. Erneut werden beide Seiten zur Deeskalation aufgefordert. Dabei ging die Gewalt in Banjska ganz klar von serbischer Seite aus.
Die Vermittler schaden sich mit diesem Zögern und Zaudern am Ende selbst. Der Westen hat ein ureigenes Interesse, den Kosovo nachhaltig zu befrieden. Es war der Westen, der dieses Stück Land durch NATO-Bomben befreit und ihm damit den Weg in die Unabhängigkeit geebnet hat. Das brachte Frieden in der Region, aber auch Zwist mit China und Russland. Es war Wladimir Putin, der seinen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 mit dem Argument legitimierte, dass der Westen völkerrechtswidrig im Kosovo interveniert habe.
EU-Beitritt in weiter Ferne
Die EU ruft zum Dialog auf. Das ist auch richtig so. Eine politische Lösung kann nur auf diese Weise gefunden werden. Beide Seiten müssen Kompromisse eingehen. Pristina muss der serbischen Minderheit Autonomierechte zugestehen. Belgrad muss aufhören, den Versuch Kosovos zu blockieren, Teil internationaler Organisationen zu werden.
Ziel des Dialogs ist es auch, dass Kosovo und Serbien eines Tages der EU beitreten. Serbien führt dazu seit 2014 Gespräche. Von 35 Kapiteln wurden bereits 22 geöffnet. Die Normalisierung der Beziehungen zum Kosovo spielen eine wichtige Rolle, aber nicht nur. Neben rechtsstaatlichen Reformen muss Serbien sich außenpolitisch klar gegen Russlands Krieg in der Ukraine positionieren und – wie auch der Rest Europas – Sanktionen mittragen. Kosovo hingegen hat die EU-Beitrittsgespräche noch gar nicht eröffnet. Und hier schließt sich der Teufelskreis. Denn einer der Gründe ist, dass fünf EU-Mitglieder das kleine Land gar nicht anerkennen.
Der EU-Beitritt liegt also in weiter Ferne. Der Kosovo muss zeitnah mit Hilfe seiner internationalen Partner das Sicherheitsproblem im Norden lösen und seine Souveränität verteidigen. Dies liegt nicht nur im regionalen, sondern auch im europäischen Interesse.
Banjska war allerdings eine solche Zäsur – es ist unmöglich, einfach an den Verhandlungstisch zurückzukehren, als wäre nichts gewesen. Solange der Vorfall nicht aufgeklärt und im schlimmsten Fall scharf sanktioniert wird, hat Pristina jedes Recht, Vorbehalte zu haben. Wer würde mit einer Regierung verhandeln, die – parallel zu Friedensbemühungen – Paramilitärs unterstützt? Das zumindest ist der Vorwurf, der im Raum steht. Er weckt Erinnerungen an Putins Vorgehen auf der Krim. Der Westen sollte die Vorzeichen früh genug lesen, bevor es zu spät ist.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2024, S. 12-14
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